In diesen Tagen des Frühherbstes 2014 mache ich mir Sorgen um meine Ersparnisse. Auch wenn die Ersparnisse nur klein sind, so sind die Sorgen doch groß, denn der große Herr Draghi in einem der stolzen Türme des großen Kapitals in Frankfurt hat uns Kleinsparer wiederholt wissen lassen, dass wir auf Zinsen erst einmal und auf längere Zeit verzichten müssen. Er, der weise Meister des Geldes, habe erkannt, dass wir im Interesse des großen Ganzen und der ganz großen Großbanken dieses Opfer nun mal bringen müssten.
Entschuldigung, Herr Draghi, aber leider ist mir – wie der Volksmund so zu sagen pflegt – mein Hemd doch näher als ihr Rock. Da ist guter Rat also teuer.
In diesem Dilemma stoße ich auf die Anzeige einer großen Bank, von der ein jeder weiß, dass auch sie in einem der hoch in den Himmel aufragenden Frankfurter Türme residiert. Und was darf ich darin Schönes lesen? Freudig überfliege ich die drei großen Textzeilen und nehme etwas von "guter Anlage" und von "guter Beratung" wahr und, dass es "zu mir passen" soll. Das mit dem "passen" ist zwar schon kleiner gedruckt, klingt aber immer noch erfreulich, denn weiter unten lockt die Verheißung "bis zu 500 €“. Ja, welch eine Freude, denn es ist wohl wahr, 500 € würden mir tatsächlich schon ganz gut passen. Und dann ist da noch das Konterfei einer freundlichen Dame zu sehen. Unter ihrem eleganten Staubmantel trägt sie einen offensichtlich feinen Rock. Womöglich so edel, wie der von Herrn Draghi? Entschuldigung, Herr Draghi, dass ich es für möglich halte, dass auch andere so gut angezogen sein könnten, wie sie es im Fernsehen immer sind.
Auf dem Foto lächelt die charmante Dame einfach hinreißend, fast gleichen ihre Mundwinkel dem hintergründigen Lächeln, das der große Künstler Leonardo da Vinci seinem geheimnisvollen Bild der Mona Lisa zu verleihen wusste. Davon überwältigt, möchte ich mir spontan suggerieren lassen, dass auch hinter "meiner" Dame so große und epochale Kenntnisse und Beurteilungen stehen, wie sie von dem letztgenannten, berühmten Italiener weithin bekannt sind?
Und überhaupt legt das Bild die Parallelität zu anderen großen Ereignissen der Weltgeschichte nahe. Die Personen auf der Anzeige müssen nicht in einem tristen Büro knechten, nein, sie dürfen ihrer Beschäftigung in Gottes schöner Natur nachgehen: Offensichtlich gehen Sie in einem Wald spazieren. Ja, das würde mir auch gut "passen". Derweil ich an meinem Schreibtisch zu sitzen habe, fällt mir ein anderer berühmter Spaziergang ein, nämlich der vom preußischen König Wilhelm I im Kurpark vom schönen Bad Ems. Bekanntlich empfing er dortselbst einen französischen Gesandten zu einer Kurzbesprechung und ließ seinen Mitarbeiter einen kurzen Besprechungsbericht als Depesche zu Bismarck telegrafieren, der diesen Text weiter zusammenfasste und veröffentlichte. Den Text in ihrer Kürze empfand die französische Nation als zutiefst beleidigend, stürzte sich darauf hin in ihr militärisches Unglück und Wilhelm wurde kurze Zeit später vom König zum Kaiser befördert.
So eine Assoziation des Bildes von der Anzeige "passt sehr zu mir" und meinen Sorgen: eine kurze Besprechung bei einem Waldspaziergang abhalten, eine kurze Depesche absenden und schon sind 500 € mein. Das würde schon reichen denn eine Beförderung zum Kaiser wäre mir eher lästig. Eine genauere Lektüre des Textes scheint sich also allemal zu lohnen, zumal die fixen Jungs von der Anzeigenabteilung des großen Bankhauses es schon von vornherein so clever wie Bismarck gemacht haben, denn sie haben ihren Text bereits freiwillig selber zusammengefasst. Da kommt sicher eine knappe, eine knackige Botschaft heraus, die selbst ich werde verstehen können.
Und so lese ich denn genauer: "Weil eine gute Anlage eine gute Beratung braucht."
Das ist einfach und sofort nachzuvollziehen: Natürlich hat die "gute Anlage" des Kurparks von Bad Ems einen "guten Berater" gebraucht, also einen Gartenarchitekt. Und das wird auch für den Park gelten, in dem diese Werbeaufnahmen gemacht worden sind. Ebenso muss es auch in Frankfurt neben dem Turm der Großbank eine Gartenanlage geben. Irgendwie beeindruckend, was einem das Bild einer Anzeige alles mitteilen kann. Wenn die Herren im Frankfurter Turm auf einen gute Garten-Anlage blicken können, dann können sie sicherlich auch für meine Ersparnisse Gutes tun, eben die 500 €.
Nur mit der Grammatik komme ich nicht so ganz klar: "Warum fängt der kurze Satz mit 'Weil' an und hört mit einem 'Punkt' auf?" frage ich mich. Oder sollte da am Ende vielleicht gar kein Punkt am Ende des Satzes stehen, sondern vielmehr ein Komma? Kann ja mal passieren, so in der alltäglichen Hektik des Machens immer neuer Anzeigen. Aber in der dritten Zeile finde ich dann doch ein Komma. Gut gemacht! Es ist gelungen, eine Schriftart zu finden, die auch ein Komma in ihrem Text-Font enthält. Außerdem folgt auf den Punkt in der nächsten Zeile ein großer Buchstabe, was bestätigt, dass dieser Punkt wirklich ernst gemeint ist. Also echt kein Versehen. Das ist eine gute Botschaft, denn Versehen kann ich überhaupt nicht gebrauchen, wenn ich anderen Leuten mein Geld anvertraue.
Deshalb stürze ich mich wohlgemut und froh gelaunt auf den zweiten Satz. Der ist bereits etwas kleiner gedruckt, was in modernen Anzeigen bekanntlich ankündigt, was der Anzeigende tatsächlich zu tun gedenkt. Und hier heißt es: "Finden wir für Sie die Anlagelösung, die am besten zu Ihnen passt." Klasse, die wollen etwas finden, das nicht nur irgendwie, sondern sogar am besten zu mir passt. Darauf hab ich mich schon die ganze Zeit während der Einarbeitung in diese Anzeige gefreut, das wollte ich schon immer mal haben, dass jemand etwas für mich optimal passend macht. Bisher hat das immer nur meine Änderungsschneiderin hinbekommen, aber jetzt wollen sogar die hohen Damen und Herren in Frankfurt für mich diesbezüglich tätig werden.
Eigentlich hätte ich in meiner schlichten grammatikalischen Gesinnung gedacht, dass der erste und der zweite Satz nicht durch einen Punkt voneinander getrennt werden sollten, sondern mittels eines Kommas miteinander zu verbinden wären. Erst dann könnte ich die Reihung der Worte nachempfinden und damit hoffentlich auch einen Sinn in dem Satz über das "Finden" finden. Weil aber – wie zuvor ausgeführt – die beiden Teilsätze absichtlich auseinander gerissen sind, habe ich mich bei wortgewandten und erfahrenen Mitmenschen zu informieren versucht, was dieser linguistische Rösselsprung denn aussagen könnte. Dabei habe ich gelernt, dass es sich vermutlich um eine "paradoxe Intervention" handele. Laut Wikipedia solle damit eine festgefahrene Sichtweise erschüttert werden, um so eine Problemlösung möglich zu machen.
Um mein Problem zu lösen, nämlich zu ergründen, was die frohen Frankfurter und Frankfurterinnen denn nun eigentlich mit meiner Barschaft vorhaben, muss ich also meinen Blickwinkel verändern. Die lächelnde Anzeigendame sagt in der zweiten Zeile zu, eine "Anlagelösung“ finden zu wollen. Also ein "Lösen" meiner "Anlage". Leider habe ich jedoch – anders als die Frankfurter Damen und Herren – keine Parkanlage vor meiner Tür, sondern nur einen kleinen Garten. Den möchte ich aber gerne behalten und mich nicht davon lösen. Dann habe ich noch eine Stereo-Anlage, die aber ebenfalls bleiben soll, denn ich kann damit noch immer Musik hören. In meinem Badezimmer steht eine Toiletten-Anlage. Wenn ich gemäß der paradoxen Intervention und Wikipedia meinen Blick davon löse, bekomme ich dann die 500 €?
Rein statistisch soll ja der der Spülkasten des häuslichen WC das beliebteste Versteck für Bargeld sein. Leider liegt bei mir jedoch derzeit nix drin.
Vielleicht hilft der Begriff "Lösung" meinem lahmen Verständnis auf die Sprünge. In meinem Medizinschränkchen habe ich kleine Fläschchen mit Arzneimittel gefunden, auf denen "Lösung" steht. Der und der Wirkstoff sei in einem Alkohol "gelöst". Nein, das möchte ich nun wirklich nicht. Ich möchte meine knappen Ersparnisse keinesfalls in Alkohol auflösen, sondern vermehren und im Übrigen hoffe ich, dass die professionellen Damen und Herren bei ihrer Tätigkeit für meine wenigen Groschen nicht auch noch Alkohol konsumieren. Nein, ich möchte jetzt genau wissen, was ich anstellen muss, um zu den versprochenen 500 € zu kommen.
Und so stiere ich mit verkniffenen Augen weiter auf die Anzeige und lerne. Ich lerne, dass heute die eigentlichen Bedingungen nicht mehr im Kleingedruckten stehen, sondern – der Fortschritt geht weiter – im ganz klein gedruckten, das neben das schöne Waldbild gequetscht ist. So hole ich denn eine Lupe und lese und lese. Um es dem geneigten Leser – ganz im Sinne der Emser Depesche – zu ersparen, was ich alles noch durchlesen musste, komme ich jetzt sofort und unvermittelt auf den Punkt. Nein, nicht auf den Punkt, der weiter oben eigentlich ein Komma hätte sein müssen, sondern auf die eigentliche Aussage dieser Anzeige. Die ist ganz einfach: Wenn ich der großen und vornehmen Bank in Frankfurt 250.000 € gebe, dann verspricht sie, mir sofort 500 € davon zurück zu geben und zwar freiwillig. Das ist wirklich großzügig. Danke, liebe Großbank! Jetzt weiß ich endlich, wie ich sofort an die heiß ersehnten 500 € kommen kann.
Detlev Stupperich, September 2014
P.S. Für das, was mit den verbleibenden 249.500 € passieren soll, habe ich auch mit einer noch größeren Lupe keinen Text entdecken können. Ob ich für diese Information wieder auf das Bild in der Anzeige zurück greifen muss? Neben der hintergründig lächelnden Dame ist dort eine zweite Person in einem ärmlichen, grauen Pullover abgebildet. Ihre angewinkelten Unterarme deuten darauf hin, dass sie sich im Laufschritt bewegt. Sie dreht dem Bildbetrachter ihren schmalen, vielleicht ausgehungerten Rücken zu, so als ob sie in Richtung Wald abhaut. Außerdem hat sie ihre Kapuze hochgezogen. Erwartet diese Person, dass sie alsbald im Regen stehen wird?
P.P.S. Quellenangabe für das hier veröffentlichte Bild: DER SPIEGEL, Nr.36/ 1.9.2014, Seite 77 unten, linker Teil der Anzeige.