Ganz persönliches Erleben des großen Waldbrandes bei Gorleben am 12. Aug.1975:

Auch heute ist es wieder glühend heiß. Seit Wochen hatte eine erbarmungslose Sonne Felder und Forsten aufgeheizt, kein einziger Regentropfen war gefallen und verdörrtes Gras knistert in der Trockenheit. Ich hatte tüchtig über meinen Papieren am Schreibtisch in der Mansarde geschwitzt und beschließe selbstsüchtig, mir kurz vor dem Mittagessen noch ein Bad im so herrlich kühlen Gartower See zu gönnen. Wenn ich bis zur Nasenspitze in das weiche Wasser eintauche, ist die große Hitze erst einmal vergessen und mit dem Blick über den spiegelglatten See kriecht die ganz große Entspannung wohlig in alle Glieder. Der Bauch meldet Vorfreude auf den baldigen Nahrungsgenuss, der wie stets pünktlich um 12:30 Uhr verabredet ist. Kurz vor zwölf wende ich mich deshalb wieder in Richtung Ufer und schwimme wie in ei­nem Wellnesstempel mit bedächtigen Zügen vor mich hin. Der sanfte mittägliche Glockenschlag der nahen Gartower Kirche schwebt über dem Wasser. Vielleicht hö­re ich auch die Glocke nur gefühlsmäßig schlagen, weil diese Badeszene so tief romantisch ist, wie es Ludwig Richter nicht romantischer malen könnte. 

Aber statt des erwarteten leisen Glockenschlags zerreißt jäh das Aufheulen einer Sirene im Dorf Gartow die mittägliche Ruhe. Eine zweite Sirene schrillt mit in den Panikchor ein. Unter dem Jaulen der Sirenen kippt die Entspannung der Mittags­pause schlagartig in eine hektische Katastrophenstimmung um. Wellen zerstören den glatten Spiegel des Sees. Wenn es auch nur die eigenen, jetzt hastigen Schwimm­bewegung sind, die die Wellen aufwerfen, so wandelt sich dennoch das idyllische Bild des entspannten Bades in Sekunden zum Kampf gegen die bremsende Wassermasse, die den panischen Schwimmer vom Ufer fernhalten will.

Kein Handtuch, sondern Lufttrocknung. Ich hechte auf das alte Fahrrad und hetze zum Hof zurück. Der Magen toleriert nur widerwillig die hungrige Hektik und dem drückenden Sitzfleisch passt der harte Ledersattel nicht recht. Vor der Garage renne ich Andreas, dem Leiter des Forst­betriebs in die Arme: „Es soll bei Gedelitz brennen! Das Feuer breitet sich aus! Wir müssen nachsehen, komm mit!“ Entschlossen klappt er die Tore zur Garage seines BMW auf.

Woher wusste er so schnell von dem Brand? Funktelefone hatten 1975 nur der Bundeskanzler und wenige VIPS`s. In trockenen Sommern sind in den aus­gedehnten Kiefernwäldern auf armem Sandboden Waldbrände leider keine Selten­heit. Die Furcht vor neuen Flammen war auch in diesem extrem trockenen Sommer allgegenwärtig. Und so konnte die Sirene nur eins bedeuten: Feuer im Forst.

Immerhin gab es schon ein sehr einfaches Meldesystem. Bei den Forsthäusern in Wirl und in Falkenmoor stand je ein hölzerner Feuerturm. In etwa 25 m Höhe saß ein Wachhabender und blickte mit einem Fernglas fortwährend in die Runde auf der Suche nach einer Rauchsäule. Geduldig, Stunde um Stunde .... Und noch eine Stunde. Sobald einer Qualm aufsteigen sah, peilte er die genaue Himmelsrichtung und fragte über ein Netztelefon seinen Kollegen auf dem benachbarten Turm an, ob er die Rauchsäule auch schon entdeckt habe und in welchem Winkel er sie sehen würde. Im Turmzimmer waren auf einem Kartentisch die Standorte der beiden Feuer­türme markiert. Wenn darauf die Blickrichtungen eingetragen wurden, war deren Kreuzungspunkt die Brandstelle.

Am 12. August 1975 um 11 Uhr 55 dreht ein wachhabender Türmer die Wähl­scheibe seines Telefons: Alarm für den diensthabenden Feuerwehrmann in Gartow, Einschalten der Sirenen des Dorfes, damit deren durchdringendes Geheul seine Kollegen herbeiruft, Information an den Betriebsleiter.

Beim Aufjaulen der Sirenen in Gartow bin ich sicher nicht der einzige, der sich auf sein Fahrrad schwingt: Ein eigenes Auto ist 1975 keinesfalls selbstverständlich, aber bis zur Brandstelle sind es wenigstens 10 km. Im BMW von Andreas bringt bei aller Katastrophenstimmung der Geschwindigkeitsunterschied zum Fahrrad das entlastende Gefühl, vielleicht doch noch rechtzeitig zu kommen, um etwas machen zu können. Dass auch der Sitz gut passt, interessiert in dem Augenblick kaum.

Wohin fahren wir jetzt genau? Der Name des nahegelegenen Dorfes Gedelitz etwa 4 km westlich von Gorleben reicht erst einmal, um in die rechte Richtung loszurasen. Als Koordinaten des Brandherdes hat der Mann auf dem Feuerturm Andreas als dem Leiter des Forstbetriebs per Telefon die Nummer des betroffenen Jagens zugerufen. Als Jagen werden die meist rechteckigen Abschnitte zwischen den Waldwegen bezeichnet.

Zackig zwei Feuerpatschen ins Auto und Abfahrt Auf der Straße ist der BMW voll in seinem Element und für einige Sekunden kommt die Einschätzung auf, die Sache irgendwie in den Griff zu bekommen. Das Low-Tech-Equipment Feuerpatsche ist ein solider Holzstiel mit Blechstreifen in Form eines Fächers. Damit schlägt der Feuerwehrmann auf die Flammen und schneidet ihnen die Sauerstoffzufuhr ab. Wo auf dem armen Sandboden nur etwas Gras, Moos und Heidekraut wachsen, drückt die Feuerpatsche die dünne Schicht dieses brennenden oder schwelenden Bewuchses zusammen, die Flamme verlöscht und der Brand breitet sich nicht mehr weiter aus. Erscheint mittelalterlich, aber spart das knappe Löschwasser, das auf den heißen Sandflächen sowieso schnell wieder verdunstet.

Jetzt kommt links voraus die grau-schwarze Rauchsäule des Waldbrandes in Sicht. Wir verlassen die Straße und biegen in einen sandigen Waldweg ein. Weil Hochwald manchmal den Blick auf den Qualm verdeckt, müssen wir an den Wegkreuzungen anhalten, um uns zu orientieren. Bald weist ein erster Rauchgeruch und das schon ganz leise zu hörende Prasseln der Flammen in die rechte Richtung. Dennoch kommen wir von einigen Kreuzungen nur mühsam wieder los. Voller Ungeduld, die nahende Katastrophe vielleicht doch noch begrenzen zu können, tritt Andreas herzhaft auf das Gaspedal und der Motor brummt auf. Aber die wenig belasteten Hinterräder wirbeln die Sandkörner auf und die Reifen graben sich in den weichen Sand ein.

Unübersehbar und unüberhörbar prasseln die Flammen und fressen sich in einem jungen Kiefernbestand weiter. Der entsetzte Betrachter glaubt, stumme Schreie der sterbenden Bäume zu hören. Eine flammende Front wälzt sich als breite Wand durch den jungen Wald. Die ausgedörrten Kiefernadeln glühen zu kleinen Fackeln auf und fallen als heiße Asche zu Boden. Dürre Äste verglimmen. Zurück bleibt in gespenstischem und anklagenden Schwarz der verkohlte Stamm des Baumes mit wenigen größeren Ästen.

Es wirkt irgendwie fast makaber, dass unweit davon eine Gruppe Feuerwehrleute steht und wie apathisch in die Flammen zu starren scheint. „Jou“, begrüßt uns einer: „Vor'n paar Minuten dachten wir noch, wir hättens hier im Griff. Unser TLF (Tank-Lösch-Fahrzeug) war sowieso fast leer. Er is' jetzt nach Trebel anne Zapfstelle.“ Tief zieht er die rauchige Luft ein und stützt sich auf eine große Schaufel. „Aber der Wind! Die Böen habn uns nich 'n Hauch von Chance gelassen. Gleich an drei Stelln isses wieder hell auf­geflammt.“ Wieder stiert er in das Feuer, als ein kleiner Windstoß einen Bogen von Glut aufwirbelt und in eine scheinbar noch ganz grüne Kiefer treibt, die aber ebenso ausgetrocknet ist, wie all die anderen und in einem hellen Stoß auflodert. Fast mitleidig blickt er auf unsere beiden Feuerpatschen: „Jou Chef“, sagt er zu Andreas, „ da könn'se jetzt auch nix mit ausricht'n. Wir müssen auf das TLF warten. Und der Fritz is los, dass der Heinrich sein neues Güllefass in Gang setzt. Es is bloß so: Mit dem seine schwache Pumpe schaffta man vielleicht so 10 Meter. Und wenna näher ran fährt, dann fackelt ihn die nächste Böe selbst ab.“

Ein ungeschriebenes Gesetz war es, dass bei so einer Katastrophe jeder versuchte mitzuhelfen, wo er denn irgend konnte, auch wenn die Ausrüstung nur unvoll­kommen dafür geeignet war. Das geht uns auch so: Obwohl wir gerade über die geringe Wirkung unsere Feuerpatschen bei solch hohen Flammen gehört haben, gehe ich trotzig mit erhobenem Blechfächer auf die züngelnde Wand zu. Möchte es doch schon mal selbst probieren. Die Lehre ist so einprägsam wie sich die hochofenartige Hitze mit stechendem Schmerz in mein Gesicht hineinbeißt.

„Passen 'se man auf sich auf, “ kommt das Echo von einem Feuerwehrmann. „Gestern sind 9 Kollegen bei Eschede zusammen mit ihr'n Löschfahrzeug verbrannt. Die hatt'n sich auch zu weit vorgewagt. Als sich der Wind nur'n klain büschen gedreht hat, war Ihnen der Rückweg abgeschnitten. Und aus war's!“ ist sein Kommentar – ebenso trocken wie der Forst vor den Flammen.

Mit hochroten Köpfen müssen wir einsehen, dass wir hier vor Ort rein gar nichts be­wirken können. Der Brand hat bereits die Kronen der Bäume erfasst. Gegen dieses Kronenfeuer hilft nur ein reichliches Durchfeuchten der angrenzenden Waldbestände. Aber woher und wie diese Wassermengen herbeischaffen? Die Feuerwalze könnte jetzt nur noch eine Schneise stoppen, die so breit ist, dass sie kein einziger Funke überspringt.

Mit tiefhängenden Mundwinkeln steigen wir wieder in den BMW. Auch der liegt tief, so tief, dass er immer wieder mit der Unterseite aufsetzt, wenn wir auf einem Wald­weg in eine Furche hineingeraten. Da hilft nur: Möglichst schnell voran, damit der Schwung die Fuhre weiterschiebt. Mit Vollgas weiter, aber wohin?

Andreas entscheidet sich, eine Lagebesprechung im Forstamt zusammenzurufen. Mehrere Mitarbeiter und ich stecken ihre Köpfe über einer Karte des Forstbestandes zusammen. Wie schnell werden sich die Flammen weiter fressen? In welche Richtung treibt sie der böige Wind? Wie können wir uns eine Orientierung ver­schaffen.

Böse Vermutungen zirkulieren. Natürlich kommt der obligate Schmäh vom Raucher und seiner achtlos weg geschnippten Zigarette als Brandursache. Richtig bösartig ist die Unterstellung, dass ein Handlanger der Atomlobby gezündelt haben soll, um den renitenten Waldbesitzer zur Hergabe seiner Grundflächen für die Atommülldeponie zu bringen. Später verbreitet sich das Gerücht, dass auch in Eschede und Unterlüß, wo in den letzten Tagen ebenfalls große Waldbrände gewütet haben, als Alternative zu Gorleben die atomare Wiederaufbereitungsanlage geplant worden sein soll. Heute haben uns Tschernobyl und Fukushima gelehrt, wie tief begründet die Vorbehalte sind und welches Verdienst der Mann mit seinem Widerstand erworben hat. Damals hielten es viele für das Querulantentum eines ewig Gestrigen.

Auch in den Mittagsstunden des 12. August 1975 ist das Thema eine tief empfundene Wehrlosigkeit. Aber weniger gegen unsichtbare Strahlen, sondern gegenüber einem Feind, der sich mit lodernden Flammen und weithin drohend sichtbarer Rauchsäule erbarmungslos dorthin walzt, wohin es dem Wind zu belieben scheint. Den Überblick zu bekommen, wenigstens zu erahnen, wohin sich das Feuer weiterfressen wird, das ist jetzt die drängende Frage.

25 km entfernt ist das Flugfeld Lüchow-Rehbeck mit einem kleinen Flugzeug zum Vergnügen eines flugbegeisterten Bauunternehmers fürs Wochenende. Aber heute ist Dienstag. Immerhin erreicht man schnell sein Büro und anstelle eines glorreichen automatischen Anrufbeantworters sogar eine natürliche Person. „Ja klar“, sagt seine flotte Sekretärin: „Die Idee mit der Beobachtung von oben hatten wir auch schon. Wir haben den Boss auf seiner Baustelle in Schleswig-Holstein erreicht. Er hat aber gesagt, dass heute sonst keiner in Lüchow da wäre, der den Vogel steuern könnte. Und wie lange er mit dem Auto zurück nach Lüchow bräuchte, könnten wir uns auch selber ausrechnen.“

Wir rechnen also herum und versuchen abzuschätzen, wie schnell und in welche Richtung das Feuer wohl vorangetrieben werden wird. Genau nach Süden oder eher Südwesten? „Zum Kaffee isses in Trebel“, witzelt einer verkrampft. „Und Du meinst also, den Brand mit einer Tasse Kaffee zu löschen?“ ärgert sich sein Nachbar. „Aber nur mit Milch und …“, hält der Witzbold dann doch inne und verzichtet auf das rhetorische Stückchen Zucker. „Nee, nee“, entgegnet ein anderer. „Der Wind bläst bei uns meistens von Nordwest. Das Feuer wird nach Südosten gehen. Prezelle ist bedroht!“

Die Sonne scheint hell auf den Kartentisch im Forstamt, aber die Mienen der Gesprächsteilnehmer verdüstern sich. „Wir müssen eine Verteidigungslinie aufbauen“, stellt Andreas fest. „Also, das kann nur diese Schneise sein“, antwortet der Büroleiter mechanisch und weist auf einen langen Waldweg hin, der von Trebel aus in Richtung Meetschow verläuft. „ Die Schneise ist doch viel zu schmal!“ entgegnet ein anderer. „Das ist ein Hochwald. Wie's der Chef grade selbst erlebt hat, fliegen die Funken in den Baumkronen über diesen lächerlichen Abstand weiter wie nix.“ Ein anderer fragt: „Wie viel Zeit wird uns noch bleiben, bis das Feuer den Meetschower Weg erreicht hat?“ Und überlegt sofort weiter: “Wenn wir den Weg zur Feuerschneise verbreitern wollten, würden wir selbst mit allen unseren Motorsägen die Bäume in der kurzen Zeit nich' runter kriegen und schon gar nich' weg.“ Der erste Redner lamentiert: „Die Bundeswehr soll mit ihren großen Bergepanzern bei Eschede schon aktiv sein. Aber bis die bei uns sind …“ Verspannt und schweigend starrt die Tischrunde auf die große Karte.

Heute weiß ich nicht mehr, wessen Idee die Planierraupe war: „An der Straße nach Gorleben bauen sie am Deich. Ich hab' da so 'ne große Planierraupe gesehen. Die müsste doch einige Bäume umkriegen!“ Und schon meldet sich wieder der Oberbedenkenträger der Runde ungefragt zu Wort: „Ja, ja, die stehen da jetzt alle mit dröhnenden Motoren und warten auf uns und unsere Anweisungen“, ätzt er ironisch. Andreas blickt fragend in die Runde und steht dann aus seinem Stuhl auf. „Meine Herren, was haben Sie sonst noch für Vorschläge?“ Ein wildes Gemurmel hebt an. Von Güllefässern, der Bundeswehr und von den Feuerwehren aus den Nachbardörfern und sogar aus Lüchow und Dannenberg. „Wer löscht eigentlich den Durst all der Feuerkämpfer?“ ist das einzige Neue am Tisch. „Gut!“ sagt Andreas. „Haken sie bei den erreichbaren Stellen mal nach. Und“ wendet er sich zu dem durstigen Witzemacher, „holen Sie bitte ein Dutzend Getränke­kisten hier ins Forstamt, damit wir sie später austeilen können. Jetzt fahre ich zu der Baustelle mit der Planierraupe. Ich denke, dass wir uns nicht am Meetschower Weg, sondern an der Trebeler Chaussee orientieren müssen,“ und fordert mich auf, mitzufahren.

Die Trebeler Chaussee ist ein Teilstück der B 493, das auf fast 10 km Länge schnurgrade von Gartow aus in westlicher Richtung bis nach Trebel reicht. Anfangs des 18. Jhdts. ist diese Trasse auf zahlreichen, mühselig zusammengekauften Niederwaldstücken zur Repräsentation angelegt worden. Weil am 12. August 1975 alle befürchten, dass die Feuerwalze diese Bundesstraße noch überspringen könnte, wird sie zu einer wichtigen Orientierung.

So sitze ich wieder im BMW, der fleißig die Straße in Richtung Gorleben entlang schnurrt. Der Sitz passt. Aber die Mission passt nicht, jedenfalls nicht ins übliche Schema. Wir sollen ja „nur“ auf die große Baustelle, einen Weisungsbefugten finden ihn auffordern, seine Arbeit zu unterbrechen, stattdessen den Tieflader anzuspannen und eine Planierraupe aufzuladen. Ziel: Eine Brandschneise brechen. Und zwar jetzt gleich. Sofort. Auftragsformulare, Zuständigkeiten, Verrechnungsstellen, Haftungs­übernahme, Betriebssicherheit? Alles Fehlanzeige, nur zwei Männer und ein Auto. Bin ich hier im richtigen Film?

Ich staune. Und zwar darüber, dass der Bauleiter nur eins sagt: „Jou. Aber erst müssen wir noch tanken, sonst wer'n we nich' weit kommen.“ Der Fahrer steigt in die Kabine der Planierraupe und glüht. Glüht den großen Diesel am Ende der Mittags­pause nur kurz vor, bis er mit einer schwarzen Rauchwolke anspringt. Dabei lässt er sich in den Sitz fallen. Und der passt, fast so gut wie im BMW. Wie angegossen um­schließen die zwei Mulden der blechernen Sitzschale beide Gesäßbacken. Wir sind im Jahr 1975! Da verstellt noch kein Monitor die Aussicht auf die Motorhaube und kein Joystick möchte gefühlvoll gedrückt werden. Nein, während der Tankpause fühlen alle, wer hier und jetzt die ultimative Befehlsgewalt hat: Die Rauchsäule des Waldbrands ist mittlerweile so hoch, dass sie von der Baustelle über die Bäume hin­weg deutlich zu sehen ist.

Schon wieder sitze ich. Zu viert im Fahrerhaus der Zugmaschine, die den Tieflader mit der Planierraupe auf die Bundesstraße zieht. Der Sitz passt. Für den LKW-Fahrer, für den Fahrer der Planierraupe, für Andreas und für mich. 1975 gibt es durchgehende Sitzbänke, auf denen man schon mal dichter zusammenrücken kann. Da interessiert sich niemand für eine Lordosenstütze im Rücken.

Auch wir fragen in diesem Moment nicht nach solchem Luxus, sondern immer dringender: „Wo setzen wir die Schneise an?“. Heute überlege ich, ob wir das am 12. August 1975 hätten besser entscheiden können, wenn wir eine Drohne mit einer Kamera gehabt hätten, die hoch über die Brandstelle aufgestiegen wäre und ihre Bilder in das Fahrerhaus gefunkt hätte: Mit welcher Geschwindigkeit wird sich das Feuer bewegen? Wann erreicht es welche Schneise? Wann kreuzt es die B 493 von Gartow nach Trebel? Ideal wäre eine spezielle App im SmartPhone gewesen, die wie ein Navigator den weiteren Weg der großen Feuerfront hochrechnet und den seitlichen Vorstoß der schneisenbrechenden Planierraupe auf dem Bildschirm darstellt.

Nein, so eine Sicht des Feldherrn über ein Schlachtengetümmel oder der Blick des modernen Generals auf die Bildschirme seiner Feuerleitzentrale ist im heißen Sommer von 1975 auf die Gehirne der vier Männer in ihrem Fahrerhaus begrenzt. Die Vogelperspektive müssen wir uns in den eigenen Köpfen ausmalen. Und zwar jetzt, denn unsere augenblickliche Situation gleicht den Offizieren auf dem sprichwört­lichen Feldherrnhügel, die eine Entscheidung „richtig“ treffen müssen und wissen, das richtig viel davon abhängt.

Wenn wir 1975 die Geschwindigkeit und die Richtung der Feuerfront und das mögliche Arbeitstempo der einsamen Planierraupe im Forst „richtig“ vorhergesagt hätten, dann hätten wir vielleicht das große Feuer an der B 493 von Gartow nach Trebel aufhalten können. Dann wären vielleicht fast 1000 Hektar südlich dieser Straße heute ein prachtvoller Hochwald und kein Naturschutzgebiet „Nemitzer Heide“. Wir hätten die große Planierraupe eben nur 3 oder 4 Waldwegkreuzungen später abladen müssen.

Aber das können wir am frühen Nachmittag des 12. August 1975 eben nicht ab­sehen. Stattdessen müssen wir, wie es in Momenten folgenschwerer Entscheidung wohl leider allzu oft abläuft, aus dem Gefühl heraus entscheiden. Deutlich sehe ich die großen Augen meiner drei Nachbarn im Fahrerhaus vor mir, wie sie sich fragend ansehen. Irgendwann meint einer von uns, sich sicher zu sein und ruft nur: „Hier!“ Die anderen können es auch nicht besser begründen und sind in dem Moment erst mal erleichtert, dass jetzt etwas passiert. Der Lkw-Fahrer stoppt und die Planierraupe rattert rasselnd vom Tieflader und direkt in die jungen Bäume am Rand der Straße. Wie Streichhölzer brechen sie unter dem Druck des Schildes der schweren Maschine und werden zu einem kleinen Wall am Rande der Schneise zusammengeschoben.

Wieder kommt das Gefühl der Erleichterung auf, im Moment das Bestmögliche getan zu haben. Andreas und ich können dem Fahrer der Planierraupe nicht weiter sinnvoll helfen. Die Größe der Maschine muss reichen, um die Schneise längs der Straße so weit zu verbreitern, dass das Feuer sie nicht überspringt. Wir fahren des­halb per Anhalter zurück nach Gartow.

Im Forstamt sind mittlerweile einige Berichte von Augenzeugen zusammen­gekommen. Die Flammenwand sei so hoch geworden, dass sie frontal nicht mehr bekämpft werden könne und das Kronenfeuer sich unaufhaltsam durch den Wald fressen würde. Die eingetroffenen Wehren müssten sich darauf beschränken, die seitlichen Enden des linienartig brennenden Bereiches zurückzudrängen. Andreas versucht weiter an der Koordination der Kräfte zu arbeiten. Das ist nach Maßstäben von 2015 unvorstellbar mühsam, denn 1975 sind die Werkzeug für ihn und seine Mitar­beiter nur Telefone und deren Wählscheiben.

Ich bekomme die Aufgabe, die Getränkekisten zu verteilen. Gerne nehme ich dafür den VW-Bus anstelle des BMW, denn der kommt auf den Sandwegen viel besser voran. Gerne nehmen mir die Kämpfer an der Feuerfront die Flaschen mit dem Mineral­wasser und dem guten Apfelsaft ab. Der Prophet der Lagebesprechung im Forstamt behält vollauf Recht: Der Durst ist so groß, dass ich nicht sehr lange auf das Leergut warten muss. Auf meinen Touren von Gruppe zu Gruppe habe ich immer wieder wechselnde Mitfahrer im Auto: „Fahren sie Richtung Straße? Nehmse mich man mit. Hier nebenan muss der Gerd sein. Für den habe ich noch einen Helm und neue Handschuhe dabei.“ Ich merke wie komplex es ist, den Überblick über das Ausmaß und das Fortschreiten des Katastrophe zu bekommen.

Noch ahne ich nicht, dass ich meine eigene persönliche Katastrophe fast nicht über­leben werde. Bei den Getränkerunden komme ich auch wieder auf die lange Chaussee. Dort halten sich einige bereit, die von der Straße aus gegen das Feuer angehen wollen. Ich kann nicht erkennen, ob sie dafür noch andere Gerätschaften als ihre Schaufeln haben. Aber immerhin sind sie eine Nachrichtenquelle. Der Fahrer der Planierraupe hätte anfangs quer zur Straße gearbeitet. 10 Meter vor und wieder zurück, 10 Meter vor und.... Das hätte eine wunderbar breite Schneise ergeben, eine sichere Feuerbremse, aber viel zu langsam. Deshalb führe er jetzt wie beim Schnee­räumen einfach parallel zur Straße. Aber ob diese schmälere Schneise noch etwas nutzt?

Als ich das nächste Mal auf die Chaussee komme, sehe ich da auch ein rotes Feuerwehrfahrzeug stehen. Sollten die Flammen etwa schon soweit vorgedrungen sein, dass die Wehren von der Straße aus arbeiten müssen?  Die Planierraupe mit ihrer schützenden Schneise ist noch nicht einmal in der Ferne zu sehen. Was ist passiert? Ich erfahre, dass sie viel zu langsam voran gekommen sei, die Windrichtung ganz plötzlich etwas nach Westen gedreht habe und deshalb das Überspringen über die Straße viel näher an Trebel heran befürchtet werde. Es solle sogar Trebel selbst bedroht sein. Immer mehr erhitzte Feuerwehrleute kommen auf die Straße. Meine Getränke finden natürlich reißenden Absatz. In einer Hand einen vollen Kasten, in der anderen den fürs Leergut gehe ich herum. Einem tiefen Ordnungskomplex folgend habe ich den Schlüssel für das Auto tief in der Tasche und mittlerweile zwei Kästen mit Leergut in der Hand, als ich aufschaue und ein Auto nach dem anderen an mir vorbei rast.

Den Schlüssel hätte ich besser im Zündschloss gelassen. Jetzt steht der VW-Bus alleine am Straßenrand und der heiße Schreck durchfährt mich nicht nur, sondern glüht mich schon an: Eine weitere Böe hat die Flammen so angefacht, dass sie sich im Lauftempo auf die Straße zu bewegen. Die mehr als haushoch in den Wipfeln der Kiefern prasselnden Flammen beleuchten grell das einzelne Fahrzeug. Alle anderen Autos sind schon verschwunden. Ich habe zu Fuß keine Chance mehr, ich kann nur noch kurz dem Feuer entgegen und hoffen rechtzeitig beim Auto zu sein. Mein Leer­gut wird vermutlich in Guiness-Record-Geschwindigkeit zurück zum Fahrzeug ge­kommen sein. Wie ich die Fahrertür zuklappe, strahlt die glühende Hitze so stark durch das offenen Fenster, dass das Gesicht schmerzt. Der erlösende Dreh am Schlüssel und, tiefer Schock, der Motor röchelt nur kurz auf.

Als er beim zweiten Dreh doch anspringt, blicke ich zur Seite. „Jou“, sagt der junge Bursche, der auf dem Beifahrersitz gewartet hatte, ganz trocken und bedächtig. „Ich dachte schon, sie würden nich' mehr rechtzeitig kommen.“ Um 13:30 überspringt ein Kronenfeuer die B 493 und bewegt sich in Richtung auf Prezelle weiter.

Zitat aus Wikipedia: „Waldbrand am 12.August 1975 zwischen Gedelitz und Lanze"

Am 12.August 1975 um 11:55 Uhr brach in der Nähe von Gorleben (Kreis Lüchow-Dannenberg) ein weiteres Großfeuer aus, das bis 22:00 Uhr ca. 2.000 Hektar Wald- und Ackerfläche vernichtete. Die Bekämpfung des Brandes gestaltete sich von Anfang an schwierig, da nur ein Tanklöschfahrzeug zur Verfügung stand. Diesem gelang es zwar, zweimal die Feuerspitze zu brechen, aufgrund des starken Windes und dem Mangel an weiteren Tanklöschfahrzeugen konnte es den Brand nicht auf­halten. In den Nachmittagsstunden mussten die Ortschaften Nemitz, Lanze und Pre­zelle evakuiert werden, blieben jedoch verschont. Mit Unterstützung der Bundeswehr und den aus Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein nachrückenden Feuer­wehren konnte die Bedrohung der Ortschaft Trebel abgewendet und das Feuer in den Abendstunden des Tages eingedämmt werden. Die Brandfläche vergrößerte sich in den Folgetagen nicht nennenswert.“

Am späten Nachmittag des 12.8.1975 trafen zusätzliche Tanklöschfahrzeuge (TLF), weitere Planierraupen und die Bundeswehr ein, die zusammen mit den Bergepanzern in der Nacht eine etwa 16 km lange Schneise am Rand der Brandfläche planierten. Dank der konsequenten und durchgehenden Anlegung des Randstreifens sowie der genauen Beobachtung und sofortigen Bekämpfung von wieder aufflackernden kleinen Bodenbränden ging in den nächsten Tagen kein weiterer Hektar Wald verloren.

Der Wald ist einer der wichtigsten Spender für den Sauerstoff, den wir alle atmen. Der Wald in Deutschland nimmt jährlich 52 Mio. Tonnen Kohlendioxid* auf. Fast 1,2 Mio. Tonnen Kohlendioxid* sind in seinen Bäumen gebunden und weitere 850 Mio. Tonnen* in der Streuauflage und im Boden unserer Wälder. Dieser Betrag kommt ausnahmslos jedem zugute, es lohnt sich also für uns alle.

* Dritte Bundeswaldinventur, Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2015