Es ist Anfang Dezember und schon dunkel. Regen klatscht auf die Windschutzscheibe, als der Revierförster Karl S. am Ende eines harten Arbeitstages nach Hause kurvt. In seinen 38 Dienstjahren im Spessart hatte er schon manchen Sturm erlebt. Aber gestern war es besonders heftig gewesen. Die Böen hatten sogar große und stattliche Bäume wie Streichhölzer abgeknickt und manche sogar entwurzelt. Karl und seine Arbeiter mussten bis zur Erschöpfung schuften, um wenigstens die Straßen wieder passierbar zu machen. 

In einer engen Kurve blickt er müde in das abgebrochene Geäst einer riesigen Buche – und ist plötzlich hellwach, als ihn schlagartig ein roter Blitz trifft. Reflexhaft tritt er voll auf die Bremse, bis sein Auto stoppt: "Was war das denn?" entfährt es ihm, während er suchend in den Lichtkegel der Scheinwerfer starrt. Und bald sieht er es: ein längliches, spitzes Teil hängt an einem Ast mitten in der Krone des gefallenen Baumes und pendelt im Wind. Das untere Ende leuchtet immer wieder rot auf. 

Karl steigt aus, um zu prüfen, ob er hier etwas tun muss. Im Näherkommen erkennt er den roten Reflektor, der ihm das Licht seiner eigenen Scheinwerfer zurückgeworfen hat. Er sitzt auf einem gelben Plastikteil. Es sieht so aus, als sei es von einem Auto abgerissen, vielleicht von der Heckschürze. 

"Und wo ist jetzt der Unfallwagen?", fragt sich Karl. Aber er entdeckt nichts. Gar nichts, was irgendwie ein Auto sein könnte. Die Müdigkeit kriecht wieder in ihm hoch. Gedankenleer folgt sein Blick der Richtung in den Straßengraben, die das im Wind pendelnde Autoteil wie ein Pfeil vorgibt. 

Aber da wird er ein zweites Mal wieder ganz wach: Zwischen den Blättern bewegt sich etwas. Durch den Wind hindurch hört er leise ein klägliches Fiepen. Er erkennt ein kleines Auge, das ihn anschaut. Alte Blätter und frisch abgebrochene Äste geben kaum den Blick frei auf ein Wildschwein. Es ist noch jung, erst in diesem Jahr geboren, wie er an den allerletzten Andeutungen der für Frischlinge typischen Längsstreifen erkennt. Vorsichtig zieht er einige Äste zur Seite. Das arme Tier ist übel zugerichtet: Ein Vorderlauf ist gebrochen, und aus zwei langen Fleischwunden tropft langsam etwas Blut. Karl schiebt blutgetränktes Herbstlaub weg und sieht, dass auch ein Hinterlauf unnatürlich abgewinkelt ist.

"Wie oft bin ich schon zu nächtlichen Wildunfällen gerufen worden?", überlegt Karl. Angestrengte Routine drängt andere Gedanken beiseite: "Hat das Tier mit den schweren Verletzungen noch eine Überlebenschance? Die Quälerei hält es nicht mehr lange durch. Ist es waidgerecht, wenn ich ihm jetzt den Fangschuss gebe?" 

Als er gedanklich schon prüft, ob die Schachtel mit der Munition noch in der Ablage hinten links im Kofferraum liegt, da hebt die Kreatur vor ihm ihren Kopf. Mühsam und – wie es scheint -– mit allerletzter Kraft versucht der Jährling sich aufzurichten. Zwei kleine Augen schauen ihn an, blicken ihm direkt in sein Gesicht. Wie klagend und nach Hilfe suchend leuchten sie auf. 

"Jetzt verstehe ich endlich, warum die Waidmänner die Augen des Wildschweins 'Lichter' nennen!" sagt er laut gegen den Wind. "Warte, ich hol' dich!" beruhigt er das Tier und streicht kurz über dessen verklebte Borsten.

Aus seinem Auto ist die Fußmatte auf der Beifahrerseite noch das weichste Teil. Langsam hebt er das Tier aus dem Graben und legt es mit dem Bauch auf die Matte, so dass die gebrochenen Läufe frei herunterhängen und er es wie in einer Tasche ins Fahrzeug heben kann. 

Dann fährt er weiter durch den nächtlichen Wald. „Ach Karl“, klagt seine Frau am Autotelefon: „Wir wollten uns doch heute Abend Weihnachtsgeschenke für die Kinder überlegen!“ Karl muss noch öfter telefonieren. Erst den dritten Tierarzt trifft er an. Karl assistiert beim Schienen der beiden Brüche und dem Vernähen der langen Wunden. Nach Stunden biegt er mit dem in Verbände dick eingewickelten Schweinchen in die heimatliche Försterei ein. Arko, Karls großer Jagdhund schaut verdutzt zu seinem Herrn auf, als er seinen Korb im Flur plötzlich verlassen muss.

Aber er scheint zu spüren, dass das jetzt eine Ausnahmesituation ist und gehorcht neugierig. Er hält sogar Wache neben seinem neuen Hausgenossen. Das arme Schwein und der treue Hund scheinen sich zu mögen und bekommen ab jetzt gleichzeitig ihr Futter. 

Niklas, Karls Sohn tauft den neuen Hausbewohner Susi und baut ihm ein gepolstertes Rollbrett. Das junge Tier lernt erstaunlich schnell, sich mit den beiden gesunden Füßen abzustoßen. Es bewegt sich ungeniert auf der ganzen Etage und fährt zwischen Wohnzimmer, Küche und Flur hin und her. Susi ist ein Teil der Familie geworden.

Der 24.Dezember ist näher gekommen. Einen riesigen Weihnachtsbaum hat Karls Familie aufgestellt und dekoriert das Weihnachtszimmer als Überraschung für den abgespannten Vater. 

Heiligabend. Eine Pyramide aus flackernden Kerzen taucht den Raum in ein warmes Licht. Und daneben steht dieses Jahr ein ganz großer Weihnachtsengel. Zwei ausladende goldene Flügel und ein schmaler Heiligenschein reflektieren den Schein der Kerzen. Dazwischen – Karl mag seinen Augen kaum trauen – da steht als Körper des Engels die abgesplitterte Heckschürze des nächtlichen Unfalls. 

„Fröhliche Weihnachten, lieber Vater“, sagt seine Tochter. „Ihr habt ja immer wieder diskutiert, ob die Heckschürze beim Unfall abgerissen wurde und ins Geäst geschleudert wurde, oder ob das der Sturm war." – "Ja, Anna," antwortet Karl."Was haben wir herum gerätselt, wie dieser Unfall abgelaufen ist! Weshalb stammt das Plastikteil nicht von der Front des Autos, sondern vom Heck, wo die Reflektoren sitzen?  Warum klebte an dem Heckspoiler kein einziger Tropfen Blut, obwohl Susi doch so schwer verletzt dalag? Sie kann es uns nicht sagen – der Unfall wird ihr Geheimnis bleiben!" – " Ach Susi!" sinniert Anna: "Auf jeden Fall hast du überlebt! Aber Vater, wenn diese gelbe Spitze nicht auf Susi gezeigt hätte, dann hättest du sie nicht im Graben gefunden und sie wäre gestorben. Deshalb sehe ich darin einen Schutzengel für unsere Susi." Zufrieden krault Anna das kleine Schwein, dessen Augen jetzt glücklich strahlen.

Ja liebe Leser, das ist meine kleine Geschichte vom glücklichen Schweinchen Susi. Sie summiert eigene Jugenderlebnisse mit Wildunfällen in den riesigen Waldgebieten Norddeutschlands beim Abtransport der Autowracks.

Und sie erzählt von der verletzten Wildsau Susi, die tatsächlich einige Jahre in einer Försterei lebte, wo sie mit den Hunden befreundet war. 

Und sie erinnert an die Heckschürze meines Autos, die mir vor Jahren ein Wildschwein hier im Spessart demoliert hat, indem es erst an die Seite des Autos sprang, dann daran entlang rutschte, und sich schließlich an der Heckschürze verhakte. Die wurde dabei derart beschädigt, dass sie auf auf dem Schrott landete. Im Rückspiegel konnte ich mitverfolgen, wie sich der Schwarzkittel mehrfach überschlug, sich auf seinen Hintern setzte, wiederholt den Kopf schüttelte und dann das Weite suchte. Grußlos ließ er mich alleine mit der kaputten Heckschürze zurück.