Eben hatte der morgendliche Pendlerzug in die Stadt in einem kleinen Dorf am Hang des Flusses mit gemütlichen Häusern und gepflegten Gärten gehalten, wieder Fahrt aufgenommen und kurvte weiter durch das beschauliche Flusstal. „Wir schaffen das!”, dunkelhäutige Mitreisende machten deutlich, dass diese Worte nicht nur der Pünktlichkeit des Zuges und den schönen Gartenanlagen, sondern auch der Integration von Neubürgern gelten konnten. 

Dieses Motto stand auch auf einem Stapel von bunt bedruckten Faltblättern, in die sich zwei Herren vertieft hatten, als das Fahrgeräusch des Zuges von einem immer lauter werdenden Redeschwall übertönt wurde. „Ach Camilla”, flötete die erste der soeben zugestiegenen, molligen Dorfschönheiten, „ob diese beiden netten jungen Herrn gestatten werden …?” - „Ella, bitte!”, entschuldigte sich die zweite Dame: „Meine Freundin ist eben recht redselig.” Aber sie plapperten dennoch munter drauflos und hatten alsbald herausgefunden, dass der erste Herr als Integrationsbeauftragter beim Landratsamt tätig war und mit seinem Begleiter aus dem Landwirtschaftsministerium Arbeitsplätze in der lokalen Land- und Forstwirtschaft erkunden sollte.

„Ach, dann haben Sie sicher schon welche von den Neuen zu Gesicht bekommen?”, fragte Camilla den Integrationsspezialisten, derweil ihre Rundungen wippten. „Kohlpechrabenschwarz, dunkler geht's nicht! Bei Nacht müssen die komplett unsichtbar sein”, ergänzte sie. „Dann brauchen wir besonders helle Beleuchtung auf den Bahnsteigen”, kalauerte ihre fast ebenso voluminöse Mitreisende. „Nicht unbedingt!”, entgegnete Camilla: „Zu dem tiefschwarzen Kopf soll das ganze Äußere mit reichlich bunten Farben kontrastieren. Wie ein ausgeschütteter Farbkasten, wenn die mit dem Körper wackeln.”

Sie solle jetzt aber nicht gleich auf die Neuen und überhaupt auf alle Schlanken neidisch werden, spottete Ella: „Zum Beispiel diese dünngehungerten, klapperdürren Gestelle, deren Hosen so eng sind, dass sie kaum aus ihren großen, schwarzen, kistenförmigen Autos rauskommen, die tragen ja auch immer so vielfarbige Halstücher, rot, gelb, grün, blau, den ganzen Regenbogen.” – „Ich bin überhaupt nicht neidisch, nicht im geringsten! Mir schmeckt es eben einfach. Ich fühle mich wohl, wie ich bin. So!” keifte Camilla zurück. „Und was die Farben angeht, da sollen die Neuen sehr schön abgestimmte Farben tragen! Hellgrüne, dunkelgrüne, weiße und gelbe Streifen, die etwas ineinander verlaufen und vom Kopf aus bis ganz nach unten reichen. Wäre ein begehrenswertes Farbkonzept, sagt mein Nachbar.”

„Ha, ha, farbig mögen die wohl sein”, kam der Integrationsexperte endlich auch mal mit einem feinen Lächeln zu Wort. „Aber soweit ich gehört habe, müssen die ‚Neuen’ weniger begehrenswert als begehrlich sein. Ich habe mitbekommen, wie mein Nachbar einmal richtig laut gerufen hat: ‚Schön mögt ihr ja sein!’ – Entschuldigung!”, wandte er sich lächelnd zu der ersten Dame: „Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt deutlich werden muss, aber mein Nachbar hat weiter gebrüllt: ‚Nicht nur schön, sondern auch ganz schön verfressen seid ihr! Am Ende fresst ihr mir noch die letzten Haare vom Kopf!’ Und dabei war mein Nachbar bisher gar nicht so begeistert von der Idee, Migranten bei sich aufzunehmen.” Ella pflichtete ihm bei: „Bislang hatten die Migranten ja keinen besonderen Hang zu unserem Dorf am Hang, sondern eher in die Stadt, um dort abzuhängen.” 

Die ganze Zeit über hatte der Landwirtschaftsexperte der Diskussion wie beiläufig zugehört. Jetzt räusperte er sich und wurde sogleich lebhaft von seinen Mitfahrerinnen befragt: „Haben Sie auch schon von den Neuen gehört?” Der Angesprochene nickte und meinte: „Ja, ja, ein schönes buntes Äußeres reicht oft nicht für ungeteilte Sympathie. Die Cydalimae aus dem Osten von Asien haben in ihrer Jugend tatsächlich einen besonders gesegneten Appetit.” 

„Cydalimae heißen die also. Das ist aber nett, dass sich die Neuen bei Ihnen schon vorgestellt haben!”, freute sich Ella. „Wie lebt es sich denn so mit denen?”, erkundigte sich Camilla neugierig. „Die Vorstellung eines Zusammenlebens”, antwortete der Experte, „kann nur jemand nett finden, in dessen Garten keine Buchsbäume wachsen. Denn Cydalima Perspectalis frisst alle Blätter, ratzekahl, und dann sogar noch die Rinde, so gefräßig sind diese kleinen bunten Raupen des Buchsbaumzünslers.” 

„Ihhh!”, quietschten da die Damen im Duett auf: „Sind die etwa jetzt auch schon bei uns angekommen?”

Detlev Stupperich 15.8.2017