Es war einmal ein niedlicher kleiner Junge in Lohr, der hieß Roland und träumte des Nachts. Davon, dass er der tapfere Prinz Roland wäre und einmal eine wunderschöne Prinzessin zur Braut bekäme, wie ihm seine Mutter zum Einschlafen manchmal erzählte. Wenn er aber nicht gleich einschlummerte, so fuhr ihn seine Mutter in einem Rollenbett in der Stube umher, und das gefiel dem Kleinen sehr gut.»Mutter«, bat er, » Roland will rollen!« Dann langte sie im Halbschlaf mit dem Arm aus dem Bett und rollte die kleine Bettstelle hin und her. Aber irgendwann schlief sie gänzlich ein.
Es dauerte nicht lange, da sah der Mond in die Fensterscheiben, der gute alte Mond, und was er da sah, war so possierlich, dass er sich erst einmal die Augen auswischte; so etwas hatte der alte Mond all sein Lebtag nicht gesehen. Da hielt der kleine Roland in seinem Bettchen das eine Beinchen wie einen Mastbaum in die Höhe. Daran hing seine Bettdecke wie ein Segel. Roland hatte die Decke mit beiden Händen weit ausgebreitet und fing an mit beiden Backen zu blasen. Allmählich, leise, leise, fing sein Bettchen an zu rollen, über den Fußboden, weiter die Wand hinauf, dann kopfüber die Decke entlang und schließlich die andere Wand wieder hinunter. »Roland will rollen!« krähte Roland, als er wieder auf dem Boden war. Alsbald blies er wieder seine Backen auf und weiter ging es kopfüber und kopfunter. Es war ein großes Glück für den kleinen Roland, dass es gerade Nacht war und die Erde auf dem Kopf stand; sonst hätte er sich doch gar zu leicht den Hals brechen können.
Als er die Reise zum dritten Mal gemacht hatte, guckte der Mond ihm plötzlich ins Gesicht. »Junge«, sagte er, »hast du noch nicht genug?«
»Nein«, rief Roland, »Ich bin Prinz Roland und will zu meiner Prinzessin rollen!Mach mir die Tür auf!«
»Das kann ich nicht«, sagte der gute Mond. Aber er ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fallen und darauf fuhr der kleine Roland zum Haus hinaus. »Wo wohnt denn deine Prinzessin?«, fragte der freundliche Mond.
»Im großen Schloss am Wasser des tiefen Brunnens wird meine Prinzessin vom feuchten Froschkönig bedrängt. Der ist jetzt bestimmt noch wach und ich muss der Prinzessin helfen!«
»Junge«, überlegte der alte Mond angestrengt, »das Wasser vom tiefen Brunnen am Schloss? Meinst du das Wasserschloss Mespelbrunn?«
»Ja, da will ich hin«, jauchzte Roland, »leuchte, alter Mond, leuchte!« Und so blies der Kleine die Backen auf und der gute alte Mond leuchtete. Sie fuhren aus Lohr hinaus durch die Wälder des Spessarts, bis sie geradewegs an das Schlosstor von Mespelbrunn gelangten.
Doch das Tor war verriegelt und die Fenster dunkel. Aber oben aus dem Turmzimmer schimmerte matt ein Lichtschein. »Die Prinzessin ist doch noch wach!«, jubelte Roland und trommelte mit seinen kleinen Fäusten gegen die schweren Bohlen des Tores.
Aber es kam keine Antwort. Nach einer Weile hörte Roland erst ganz leise und dann immer lauter neben sich: »Quak. Quak, quak.«
»Ja, bist denn du der Froschkönig?«, fragte der kleine Roland erstaunt. »Nein«, sagte der Frosch. »Der König schläft schon, aber ich muss noch Dienst als Nachtwächter tun.« – »Wie langweilig!«, erwiderte Roland. »Ich dachte, hier könnte ich noch etwas Aufregendes erleben, dem Froschkönig die Krone klauen oder einen romantischen Film mit Liselotte Pulver.«
»Das gibt es nur in der Hauptsaison. Aber jetzt gleich können wir dir immerhin eine schnelle Bootsfahrt bieten«, verhieß ihm der Frosch. »Steig nur in das kleine Boot neben der Schlossbrücke ein.«
»Aber ich sehe ja gar keine Ruder«, verwunderte sich Roland. »Wie soll sich das Boot denn bewegen?«
»Das lass nur unsere Sorge sein«, quakte der Frosch und rief: »Quick, Queck und Quackeleia!« Eilfertig schwammen drei weitere Frösche aus dem Schlossteich herbei, die jeweils ein kleines, sauber auf höchsten Glanz poliertes Krönchen auf dem Kopf trugen. »Jeder von uns hat einen kräftigen Lederriemen um den Hals, siehst du sie? Die musst du jetzt alle in deine Hände nehmen und ordentlich festhalten!«, forderte ihn der Frosch auf. Und wirklich, kaum, dass es sich der kleine Roland versehen hatte, zogen sich die Lederriemen straff und das Boot setzte sich langsam in Bewegung.
»Heißa, macht das Spaß!«, jauchzte der kleine Roland. Die Frösche schwammen schnell und immer schneller, bis sie schließlich mit kraftvollen Stößen aus dem Wasser empor schnellten, immer wieder, so dass vor dem kleinen Boot eine gewaltige Bugwelle aufschäumte. Mit spitzen Schreien feuerte Roland die Frösche zu noch rasanteren Geschwindigkeiten an. In wildem Zickzack kreuzte das Boot auf dem Schlossteich, Gischt und Schaumsprühten hoch auf und glitzerten im Mondlicht.
Das muntere Treiben währte so lange, bis plötzlich das Licht im Turmzimmer erlosch. »Oh«, quakten die Frösche, »jetzt endet unsere Dienstzeit am Wasser. Wir müssen nach oben ins Schloss, weil die holde Prinzessin soeben geruhte, zu Bett gehen zu wollen.« Und auf direktem Wege brachten sie auch den kleinen Roland zurück zu seinem Bettchen am Schlosstor.
»Junge«, sprach der Mond zum Roland, »jetzt hast auch du sicher genug. Komm, ich bring dich nach Lohr zurück.«
»Nein!«, versuchte es der kleine Roland: »Die Prinzessin soll mich hin- und her rollen und statt dem Froschkönig mir einen Kuss geben!«, und dabei sah er den guten Mond mit verträumten Augen an. »Leuchte, alter Mond, leuchte!« rief er und blies wieder die Backen auf. »Wackerer Roland«, mahnte der Mond, »alles mit Maßen! Rolle jetzt erst einmal deinen Rolls-Royce zurück nach Lohr!«. Und schon schob er einen Strahl seines Lichts unter das Rollbettchen und stellte es hübsch schräg, so dass der kleine Knirps wie auf einer Rollbahn direkt bis nach Lohr ins Schlafzimmer rollte und sanft das Bett seiner Mutter berührte.
»Mein lieber Roland!« freute sich seine Mutter, als sie erwachte und die vor Aufregung geröteten Bäckchen des schlafenden Kindes sah. »Träume weiter, du guter Prinz! Du wirst noch zu deiner Prinzessin kommen und eine aufregende und schöne Zeit erleben, bis du einen Rollator benutzen musst!«
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Dieser streng fabulologische Bericht über Rolands nächtliches Abenteuer im Spessart adaptiert das berühmte Kunstmärchen vom kleinen Häwelmann und seinen Abenteuern mit dem Mond. Dem Dichter Theodor Storm war am 25. Januar 1848 sein erstes Kind geboren worden, mit Namen Hans. 1849 verfasste der glückliche, aber nächtens vielleicht auch etwas angestrengte Vater das Märchen. Hans Storm arbeitete später als Ortsarzt in Frammersbach im Spessart.
Detlev Stupperich 24. Mai 2018