Sommer, Sommernachtstraum, heiße Nächte, schwüle Dunkelheit. Ricarda liegt hitzig im Bett, sehnt sich nach Kultur, Kunst und Genuss. Aber stattdessen muss sie einen düsteren Kampf ausfechten. Gegen ihren Schnupfen, zäh, triefend, hartnäckig. Und gegen den aufkommenden Stress der großen Chemieklausur in der nächsten Woche mit endlosen Formeln und kryptischen Begriffen wie Disaccharide, Oligosaccharide und alpha-D-Fructofuranose. „Was soll ich in meiner Nose haben?“, schweift sie gedanklich von den Zuckersorten ab, während sie den Schleim abwischt, der aus ihrer verschnupften Nase quillt.
Ricardas Interesse gilt eigentlich ihren Lieblingsfächern Sport und Kunst. Zwecks Broterwerbs studiert sie Deutsch und Englisch fürs Lehramt. Und nun soll sie auch noch Chemie dazu nehmen? Aber es muss sein, denn ihr stinkereicher Erbonkel Karl-Heinz, Eigentümer einer kleinen Chemiefabrik, hat es ihr „nahe“ gelegt. „Ricarda, meine Süße!“, hat er gesagt, „nur die Chemie wird es schaffen, mit den bald 10 Milliarden Zweibeinern auf unserem Planeten fertig zu werden. Was diese Menschenmenge in sich hineinstopfen möchte, woher soll es kommen? Und was dann aus ihnen herauskommt, wie und wo sollen wir diese zart duftenden Tonnen von zäh-schleimiger Gülle entsorgen oder verwerten? Mein Zuckerpüppchen, ich sage es dir: Saccharide sind unsere Zukunft! Allein Zuckerstoffe, generiert aus bisher zu Entsorgungsaufgaben diskreditierten Stoffen werden unsere Welt ernähren!“. Nur wenn sie auch noch das Fach Chemie belegen würde, würde er ihr das Studium bezahlen. Was sollte sie machen? Ihre gute Figur und ihr schlauer Kopf sind ihr einziges Kapital.
Gestern war sie wieder bei ihrem Karl-Heinz zum Nachmittagskaffee „eingeladen“. Der Arme hat von Geburt her einen gekrümmten Rücken und wirkt dadurch ebenso kurz wie breit. Ricarda erträgt es mit Fassung, wenn er „seinem Sweethart“ schwungvoll einen Sitzplatz an der Kaffeetafel zuweist und dabei wie aus Versehen seine Hand auf ihrem Gesäß platziert.
„Zum Glück gibt es wieder Honigbrot!“ hat er gesagt und dann – wie immer - aus seiner Dose mit der Aufschrift „Karl Heinz Lieblingshonig“ die übliche zähe gelbliche Schlotze fingerdick auf Ricardas Butterbrot geträufelt. „Guten Appetit meine Liebe, denn Zucker ist die Ernährung der Zukunft. Millionen gemütlicher Amerikaner beweisen es mit ihrer zufriedenen Figur bereits heute!“ Ricarda hatte sich auch gestern – wie stets – bemüht, dass alles gegen ihren immer wieder aufkommenden Brechreiz herunterzuwürgen.
Nun ist es Abend und Ricarda hat sich müde und erschöpft auf ihr Bett fallen lassen. Ihre Gedanken geraten in wilde Kreise und springen zwischen den Süßstoffen für die Chemieklausur, dem Ausfluss aus ihrer Nase, den widerlichen Honigbroten des buckligen Erbonkels, der Zuckerwatte auf dem Volksfest, mit dem sie ein abstoßender Lustmolch ködern wollte und ihrer verzweifelten Flucht vor diesem Ekelpaket hektisch hin und her. Seitdem trainiert sie regelmäßig im Fitnessstudio, was ihre Figur noch ansehnlicher gemacht hat. Leider hat sie heute ihr Triefschnupfen davon abgehalten. Stattdessen streckt sie die schmerzenden Gelenke grade, wobei ihr unwillkürlich und traumatisch der krumme Rücken dieses Widerlings einfällt, der ihr an die Wäsche wollte. Seine klotzige Gestalt mit der Anmut eines Kleinbusses und der Visage eines Lkw-Grills will nicht von ihrem inneren Auge weichen. Ihr doppelt gestresstes Hirn beginnt mit seinen „Aufräumarbeiten“ und schaufelt die verschiedenen Szenen bizarr übereinander.
Ricarda sieht sich, wie sie abends noch einen kurzen Gang in der Altstadt macht, die heute aber etwas ungepflegt wirkt. Ab und an fallen ein paar Regentropfen. Wiederholt begegnet ihr ein buckliger Mann, ebenso kurz wie breit, der kreuz und quer durch die Gassen schlurft. Immer wenn er sie gerade passiert hat, scheint er zwischen den Regentropfen auch einige Spuren zu hinterlassen. Im fahlen Licht der Straßenlaternen sieht es aus wie ein Tropfen Schleim. Da! Und da auch! Da ist ja noch einer! Ricarda schaut und schaudert, denn die Tropfen sehen aus wie gelblicher, grüngelblicher oder rotgelblicher Auswurf, frisch erbrochen. In Konsistenz und Farbe gleichen die hellen Bestandteile Karl Heinz’ Lieblingshonig. „Hatschi!“, schleimt ihre Erkältung dazwischen.
Ricarda geht schneller durch die einsamen Gassen, will den schmierigen Flecken ausweichen möchte schnell nach Hause. Aber statt weniger werden die kleisterartigen Tropfen immer zahlreicher. Angewidert biegt Ricarda rechts ab, um auszuweichen. Aber die Straße ist mit einem ganzen Film von Absonderungen bedeckt. Erschreckt kehrt sie um und beginnt zu laufen. Doch sie kann dem zähen Ausfluss nicht entrinnen. Da ist er schon wieder. Zuerst quillt das eitrige Sekret nur aus einem einzigen Gully, dann aus allen in der Straße. Jetzt drückt es sogar die Kanaldeckel hoch. Knöcheltief steht die bräunlich gelbliche, nach Verfall und Schwefel stinkende Soße auf den Straßen.
Auf der zuvor noch menschenleeren Straße sind jetzt einige Gestalten zu sehen, die mit schreckgeweiteten Augen und staksigen Schritten auf ihrem Weg durch die Pampe stolpern. Ricarda hat zum Glück wegen des schlechten Wetters ihre festen Schuhe an. Und mag gar nicht daran denken, wie sie die zäh an den Stiefelschäften hängenden Tränen wieder abkriegen könnte. Erschrocken kommt sie an einem ehedem sehr eleganten, roten Damenschuh mit endlos hohem Absatz vorbei. Er hat es wohl nicht mehr geschafft, mit seiner Trägerin mitzukommen und wird in diesem Moment mit grünlich gestreiftem und dunkelbraun übel stinkendem Matsch geflutet. Aber Ricardas straffe Oberschenkel sind gut trainiert, so dass sie ihre Füße bei jedem Schritt schneller aus dem Morast herausziehen kann als manch andere Passanten.
Auf ihrem Weg kommt sie an einer Straßenkneipe vorbei – menschenleer. Zuvor vielleicht von fröhlichen Zechern bevölkert, dann offensichtlich in Panik verlassen, sind nur umgestürzte Barhocker und ein verloren in der blubbernden, schwankenden Masse treibender Bierseidel zu sehen. Aus dem einsamen Fernsehgerät des Lokals hört sie eine schnarrende Stimme. Ricarda bleibt stehen, um zu sehen, was los ist. Auf dem Bildschirm stellt sich jemand verkrampft als der Sprecher eines schnell gebildeten Katastrophenstabes vor und presst heraus, dass es keinen Anlass zur Beunruhigung gäbe. Noch wisse man nichts über die Ursache, aber den Bürgerinnen und Bürgern würde nachhaltig versichert, dass man mit allen verfügbaren Mitteln dagegen kämpfen werde. Das technische Hilfswerk mit all seinen Helferinnen und Helfern stünde in Alarmbereitschaft, in den Rathäusern würden alle verfügbaren Gummistiefel und Gummistiefelinnen ausgeteilt und die obere Natur- und Artenschutzbehörde sei alarmiert. Es sei ein bisher unbewiesenes Gerücht, dass der zuckrig-faulige Geruch aus der Explosion eines Gülletanks und der anschließenden Überschwemmung einer Chemiefabrik und einer Schokoladenmassenproduktion entstanden sei.
Ricarda hat es jetzt bis in ihr Haus geschafft, und ist froh, den grünlich fauligen Strömen in ihre Wohnung im dritten Stock entflohen zu sein. Bis dahin wird die Schlammlawine ja wohl so schnell nicht steigen. Sie atmet durch und schaltet die Nachrichten ein. Wieder erscheint der verspannte Sprecher auf dem Bildschirm. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Amtes für Naturschutz hätten in aufopferungsvollem Sondereinsatz nachgewiesen, dass der erhöhte Schleimanfall entgegen anderslautenden Meldungen keinesfalls den Schleien in dem durch die Stadt fließenden Fluss anzulasten sei. Diese Fische und Fischinnen seien vielmehr selbst vom Schleim betroffen und würden hektisch nach Luft zu schnappen versuchen.
Der sichtlich nervöse Sprecher des Stabes wird von einem souveränen Krawattenträger abgelöst. Der steht überbetont selbstbewusst in einem Labor, auf dessen Tischen Berge von Kandiszucker, Pferdeäpfeln, Käse und Guano zu sehen sind. Nur kurz erwähnt er, mit welchen Bestandteilen man die Fluten zu simulieren versucht, um alsbald einen Gegengestank mischen zu können. Die tiefer gelegenen Stadtgebiete seien evakuiert. Die Kläranlage habe gemeldet, dass die Lage unklar zu werden beginne. Der ADAC habe kurzfristig Schleuderkurse für Autofahren auf extrem rutschigem Untergrund initiiert. Trotz des geplanten Dreischichtbetriebes seien die Kurse jedoch für die nächsten 7 Wochen bereits ausgebucht.
Ricarda schaut aus dem Fenster nach unten auf den Parkplatz ihres Hauses. Die trägen Fluten umströmen die Autos und Strudel markieren die Räder der Karossen. Ricarda erkennt ihr Auto. Halt, das hat sie doch heute Nachmittag nicht an diesem Baum abgestellt! Der Schwall der Fluten muss es dagegen gedrückt haben. Ob sie runtergehen kann? Nein, das wäre jetzt wohl lebensgefährlich. Entsetzt wählt sie die Notrufnummern 110, 112 … Besetzt, überlastet, nur ein Automat bittet: „Rufen Sie später erneut an!“
Ricarda zappt an ihrem PC weiter und geht auf die Seite der Bildzeitung: „Bayern versinkt in stinkender Flutwelle!“ Man wittere dahinter extremistische Attentäter, die von einem geheimnisvollen Mister Z indoktriniert und gesteuert seien. Hinter dieser Schlagzeile ist die Silhouette eines Mannes zu sehen. Erschrocken nimmt Ricarda den Buckel dieser Figur wahr. Der Gewalttäter, der Erbonkel und die Fitness-Fetischisten im Studio verschmelzen vor ihrem inneren Auge zu einem Monster, das wie ein Tyrannosaurus mit wiegendem Oberkörper und gefletschten Zähnen im Lkw-Grill auf sie zu stampft und nach ihren Oberschenkeln schnappt.
Sie holt tief Luft und springt zu anderen News, die sie normalerweise auch nicht für so vertrauenswürdig hält. Aber in dieser extremen Bedrohung? Auf den Videos mehrerer Infocenter stapft wieder der bucklige Mann in militärisch gefleckter Tarnkleidung mit oberwichtigem Gesichtsausdruck an allen Brennpunkten des Geschehens hin und her durch die zäh schwappenden Schlammströme. Laufend gibt er Interviews und präsentiert mit gequetschter Fistelstimme seine Vermutungen, jede abstruser als die nächste. Donald Trump werde von einem großen Arzneimittelkonzern gesponsert, der seinem Hustensaft zum Durchbruch verhelfen wolle. Im nächsten Videoclip wird der IS beschuldigt, in konzertierten Aktionen zusammen mit Wladimir Putin, Raycip Erdogan und Kim Il Sung die Leitzentralen aller Raffinerien am Mittelrhein gehackt und umprogrammiert zu haben, die daraufhin ein Schweröl-Wein-Gemisch mit einem Treibmittel in alle Pipelines und durch einige Lecks auch in die öffentliche Wasserentsorgung gedrückt hätten.
Ricarda schaltet zurück auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Jetzt seien auch Städte in anderen Bundesländern betroffen. In Köln würde der Pegel des Rheins ansteigen. Zu sehen ist, wie offensichtlich routinierte Helfer aus Sandsäcken und Metallplatten Hochwasserbarrieren aufbauen. Ricarda klopft sanft auf ihren Monitor, aber die auf anderen Katastrophenbildern sonst so leuchtend gelb strahlenden Streifen auf den Overalls der Helfer bleiben schwarz-weiß. Wenige Bilder später ist ein gummigestiefelter Herr zu sehen, der zufrieden bekanntgibt, dass er in seiner Eigenschaft als Bürgermeister angeordnet habe, dass alle Fernsehteams nur noch Schwarzweiß-Bilder senden dürfen, damit die grün gelben Streifen und Flecke auf dem zähen Schleim die Zuschauer nicht an dessen beißend strengen Geruch erinnern würde
Ricarda geht ans Fenster, öffnet es einen Spalt – und schlägt es entsetzt gleich wieder zu. Der Gestank ist tatsächlich ekelerregend. Vorhin hatte sie noch eine bleierne Müdigkeit gelähmt, aber die ist jetzt wie verflogen und ihr gestiegener Adrenalin-Spiegel lässt ihr Herz klopfen. Mit schwitzigen Fingern hackt sie zunehmend hektisch auf die Tasten ihres PC ein, immer aufgeregter auf der Suche nach den Ursachen. Ihr Hirn fährt Zick-Zack. Was ist los? Kann ich hier bleiben? Habe ich genug zu essen im Haus? Muss ich mich künftig von diesen widerlichen Karl-Heinz-Chemie-Gülle-Honig-Broten ernähren? Wird meine Umwelt zu einem einzigen Chemie-Werk degeneriert?
Verspannt kämpft sie gegen den aufkommenden Brechreiz. Auf dem Bildschirm flackert Hannover auf, denn die Leine geriete aus den Fugen. Die Leine? Ach so, das ist der Name des Flusses in der Stadt. Jetzt muss sie doch etwas grinsen: In Hamburg sei das Wasser der Alster so gelblich geworden, dass es kaum mehr vom Alsterwasser in den Bierkrügen zu unterscheiden sei. Immerhin hat da wenigstens noch einer etwas Humor. Oder ist es Galgenhumor? Der Gedanke an eine Radlermaß ist sonst erfrischend, aber die Assoziation zu einer gelblich glucksenden, faulig süßlichen Brühe lässt es ihr hochkommen.
Jetzt überwältigt sie der Würgeimpuls und Ricarda hechtet zum Fenster. Gerade noch rechtzeitig. Ihr Mageninhalt pladdert in großem Bogen auf die Straße. Erstarrend sieht sie, wie er in die träge blubbernde Suppe klatscht und sofort von dem schwappenden Matsch nicht mehr zu unterscheiden ist. Doch – merkwürdig – von beißend schweflig hat der Geruch mittlerweile zu einem süßlichen Akzent geschwenkt. Im doppelten Sinne erleichtert, schwankt Ricarda zu ihrem Tastenfeld zurück und surft ein bisschen in einigen Foren.
Dort spotten hartgesottene Atheisten bereits, dass es wohl mittlerweile so viele Sünder auf diesem Globus gäbe, dass das biblische Manna des Himmels auf sie alle und auf die ganze Republik niedergekommen sei. Doch die zwanghaften Verniedlichungen halten die Eskalation der Katastrophe nicht auf. Es wird berichtet, dass der bucklige Bube jetzt an wechselnden Orten in der gesamten Republik gesichtet worden sei. Vermutlich um ihn in vorauseilendem Gehorsam zu besänftigen, wolle daraufhin Frau Merkel zum Islam konvertieren und der Papst in Afrika eine Kampagne für proaktive Verhütung starten. „Ja fällt denen nichts anderes mehr ein?“ fragt sich Ricarda.
Es wird ihr noch heißer, Schweiß tropft von ihrer Stirn und mischt sich mit orange-grün-gelben Schleimtropfen aus ihrer Nase zu einer zäh an ihr herunterfließenden Brühe. Der Bildschirm zuckt und schräge Figuren huschen über den Monitor. Das Bild beginnt zu tanzen. Ricarda erkennt in flackernden Schemen eine äußerst knapp bekleidete, muskelbepackte Figur. Auf dem Tanga prangt die Werbung: „KH-Honig, Kraft in jeder Stellung!“ Die Figur ist – nein, nicht schon wieder – bucklig. Mit gebleckten Zähnen leckt sich der Kerl genüsslich die hämisch grinsenden Lippen ab, aus denen es heraustropft, grünlich mit gelben Schlieren. Langsam, ganz langsam wankt das Ungeheuer auf sie zu, lässt seine Muskelberge auf und ab schwellen und streift sich deliziös erst seinen Tanga vom Leibe und dann …
… findet sich Ricarda bei strahlendem Sonnenschein in entspannter Liegeposition auf einer geneigten Sandfläche wieder. „Das Betreten der Baustelle …“ ist auf einem Schild lesbar, das aus dem Sand etwas herausragt. Das Monster ist verschwunden, nur der Tanga ist ihr geblieben. Sie blinzelt in die Sonne, die sich in turmhohen, silbern glänzenden Tanks und Rohrleitungen spiegelt und sie von allen Seiten ins Licht setzt. Sie will tief Luft holen, der Hustenschleim gurgelt grässlich, aber sie kann atmen. Sie versucht, ihre Arme zu bewegen – stechender Schmerz. In jedem einzelnen Glied. Gequält krümmt sie ihre Finger und ballt sie zur Faust. „Immerhin sind sie noch da“, versucht sie sich zu beruhigen und bekommt dennoch einen Schock. Ihre wohl trainierten Oberschenkel, ihre Beine – komplett gefühllos. Kaum traut sie sich, einen Befehl zur Bewegung nach unten zu senden. Die Antwort kommt prompt – fast wie gelähmt reagieren die Gliedmaßen, nur stockend und zuckend, gegen einen Schmerz auf der ganzen Haut. Immer noch von dem grellen Licht geblendet, sieht sie an sich herunter und erstarrt wieder. Eine grünlich-graue Schicht mit orange-gelben Streifen und Schlieren bedeckt ihre Beine, ihren Körper, ihre Arme. Wie eine Glasur vom Zuckerkuchen platzt dieser Belag bei jeder Bewegung in kleinen Stückchen weiter ab. Die Kanten der brechenden Splitter drücken sich höchst unangenehm in ihre gequälte Haut. Ricarda fühlt sich wie vollständig eingegipst, am ganzen Körper einbetoniert.
„Wie in einem billigen Action-Film mit diesen Pseudo-Schwarzeneggern!“, kommt es in ihr hoch, als sich die Sonne verdunkelt. Sie blickt hoch und hat formatfüllend eine militärische Tarnkleidung im Blickfeld. Daran rechts ein Oberarm, links ein Oberarm, dessen pralle Muskelberge immer wieder provokant an- und abschwellen. Das Ordinäre dieser Figur verstärkt ein freiliegender Bauchnabel über einer viel zu tief ansetzenden Hose, aus der schwarze Haarborsten mittig herausquellen. Der Typ hält in seiner rechten Hand ein glänzend schwarz lackiertes Maschinengewehr und in seiner linken Hand einen ebenso schwarzen Gummiknüppel, die er rhythmisch auf und ab bewegt. Quer über seine gewaltige Brust zieht sich die Aufschrift „Security“, von der sich Ricarda wie angebrüllt fühlt.
Sie ist nur mit diesem Tanga und einigen grün-gelben-grauen Krusten bekleidet und fühlt sich unendlich verletzlich, der Erscheinung vor ihr schutzlos ausgesetzt. Sie verharrt in Schockstarre mit verzweifelt kreisenden Gedanken. Doch dann blitzt ihr die Idee auf, zu einer Gegenprovokation anzusetzen. Sie wird ihre Waffen, die Waffen einer Frau zum Einsatz bringen!
Später dann wird der Cuxhavener Bote in seiner Regionalausgabe berichten, dass gemäß einer gewöhnlich zuverlässigen Quelle ein couragiertes Mädchen für ein imposantes Schauspiel im Norden unserer Republik verantwortlich sein soll. Zeugen werden zitiert, die gesehen haben wollen, wie ein ansehnliche, junge Dame in Badebekleidung mit dem Wachpersonal der turmhohen Tanks in der großen neuen Chemieanlage nahe der Küste vorwitzig geschwätzt und geschäkert haben soll und ihm immer wieder ein Bodypainting auf ihren Beinen und ihren Brüsten vorgezeigt haben soll:
Ricarda hört sich gurren: „Und Du willst ein so starker und machtvoller Mann sein, dass Du dieses große Tor mit den schwarzen Riegeln tatsächlich ÖFFNEN kannst?“ Der wackere Wachmann hat mit so einer Reaktion nicht gerechnet. Die herrischen Schwingungen seines gut geölten Maschinengewehrs und seines pechschwarzen Knüppels verkümmern zu einem hilflos wirkenden Zittern. Er stottert tapfer etwas von Dienstvorschriften und Hinweisen auf irgendwelche Sicherheitsrisiken. Die Muskelberge seiner Oberarme, prall und groß wie Ricardas Oberschenkel, schlaffen ab. Aus seinem zuvor zuckersüßen Grinsen fallen die Mundwinkel seiner grillartigen Nahrungseinbringungsöffnung in eine halb geöffnete Stellung herab.
Dennoch – eine einzige gezielte Bewegung dieses Kraftprotzes und Ricarda sitzt für den Rest ihres Lebens im Rollstuhl. Sie ist sich vollauf bewusst, trotz all’ ihrer Quälerei in den Fitness-Maschinen diesem Hünen in groteskem Maße körperlich unterlegen und ihm kaum bekleidet und chancenlos ausgeliefert zu sein. Mit dem Mut der Verzweiflung rafft sie alle mentale Kraft zusammen, um weiter das frech kichernde Schulmädchen zu spielen: „Du gibst vor, so ein starker Mann, so ein Kraftmeier zu sein? Nein, das glaube ich Dir nun wirklich nicht! Du sitzt doch nur in Deiner Wachbude herum, hörst gefühlsduselnde Songs von Hansi Hinterseer und überlegst, ob Du als Rentner endlich den Hauptschulabschluss nachholen könntest!“ Der Mann schnappt wie Fische nach Luft und bringt nur hervor: „Aber Volksmusik ist doch …“ Ricarda lässt ihn mit seiner Beichte nicht zu Worte kommen, sondern macht weiter, räkelt sich lasziv und drückt mit sanften und sinnlichen Bewegungen die letzten Splitter der angetrockneten grünlich-gelben Schmiere von ihrer Haut. In immer extremer provozierender Haltung baut sie sich auf.
Und das alles – man hat es später kaum glauben wollen –, um Gedichte vorzutragen. Poetische und lyrische Gedichte aus dem ersten Semester ihres Germanistik-Studiums. Sanfte Liebe und zarten Seelenschmerz wirft sie ihm verbal um die Ohren. Der Aufpasser verliert seine Contenance, eine Träne der Rührung quillt aus seinem geröteten Auge. Mit allerhöchstem Krafteinsatz gelingt es den beiden tatsächlich, die schweren Riegel aufzubekommen. Sie lehnen erschöpft an den beiden gigantischen Toren und merken zuerst gar nicht, wie sie sich langsam in Bewegung setzen. Ricarda quietscht begeistert auf: „Au fein, das macht hier aber Spaß mit Dir! Gleich spiele ich Dir die Wassermusik von Händel auf Dein Handy!“ In dem Moment, in dem sie dem verdutzten Wächter einen dicken Knutschfleck auf die Backe drücken will, löst sich explosionsartig die Dichtung der Fluttore und mit ohrenbetäubendem Zischen und Rauschen presst sich eine Flutwelle hervor, welche die meterhohen und tonnenschweren Tore wie ein Katapult zur Seite schwingen lässt. Die beiden Personen, die sich eben noch wie Adam und Eva im Paradies zu ergehen schienen, werden wie Golfbälle weggeschleudert.
Dieses Mal ist es ihr Glück und sichert ihr Überleben, dass sie schreiend und mit hoch aufspritzenden Wellen in ein großes Becken mit ölig zäher, gelblich-grüner Flüssigkeit hineingestürzt werden. Prustend kämpfen sie mit dem Ertrinken. Ricarda schafft es nur mit letzter Kraft bis zum Ausstieg am Beckenrand. Der Wachmann verschwindet immer wieder unter dem Flüssigkeitsspiegel. Nur sein Gewehr, das er verzweifelt umklammert, ragt noch über die träge schwappende Soße heraus. Ricarda muss ihren Tanga als Lasso einsetzen, um den Nichtschwimmer an den Beckenrand zu ziehen.
Das Morgenmagazin der ARD und das Buxtehuder Echo bestätigen übereinstimmend, dass in einer erst kürzlich errichteten Großtankanlage an der Nordseeküste die Sicherheitstore vorsätzlich entriegelt worden sein sollen und daraufhin eine gewaltige Flutwelle die Tore aufgedrückt habe, bis gelb und grün gestreifte Schlammwogen sich in den Abflusskanal ergossen haben. Der Flüssigkeitsspiegel sei derart angestiegen, dass das meteorologische Institut der Hafenbehörde im weit entfernten Hamburg nur kurze Zeit später die Warnung vor einer Springflut in bisher nicht vorstellbarer Höhe ausgegeben habe. Die Wettersatelliten beobachten eine gelbgrüne Schlierenbildung in der Deutschen Bucht.
Die Krisenstimmung verschärft sich: Der Bundesinnenminister ruft die Terrorwarnstufe Zwo aus. Alle Radarfallen der Republik werden auf präventiven Dauerblitz geschaltet und eine ab sofort bundesweit geltende Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h verkündet. Aus nicht näher spezifizierten Sicherheitsgründen wird die Lesung von Gedichten und das Verfassen satirischer Texte auf unbestimmte Zeit strengstens untersagt.
Die Verkehrssysteme brechen unter den hektisch und ziellos in alle Richtungen fliehenden Menschenmassen zusammen. Nach zahllosen Auffahrunfällen müssen Autobahnen und ICE-Strecken gesperrt werden. Erstaunlich, dass Internet und Rundfunksysteme weiterarbeiten. In den nächsten Tagen der Katastrophe gelingt nur noch einer gewitzten Redakteurin aus Unterfranken per Dampflok aus einer Museumseisenbahn über Nebenstrecken und weiter mit dem Fahrrad der Durchbruch zum Ort des Geschehens, zur Großtankanlage bei Cuxhaven. Dort sitzen viele nationale und internationale Fernsehteams mit ihren Übertragungswagen fest. Sie richten Dutzende von Kameras auf den Abwasserkanal und feilschen mit den frisch engagierten Managern von Ricarda und dem Wachmann um fünf- und sechsstellige Ablösesummen für ein exklusives Sofort-Interview. Ratlose Bundestagsabgeordnete des Familienministeriums irren hektisch telefonierend zwischen den Tanks umher.
In dem Durcheinander wird kaum jemand gewahr, dass der Geruch der abfließenden Pampe immer süßlicher wird. Die Meute der Yellow-Press-Journaille hat nur eins im Sinn: Ricarda möge endlich nachstellen, wie sie mit ihrem Tanga dem ertrinkenden Wachmann das Leben rettete. Gegen all diesen Trubel an gelingt es Ricarda wenigstens einmal, die sachbezogene Aufmerksamkeit der pfiffigen fränkischen Redakteurin auf ein erstaunliches Geschehen hin zu ziehen. Beide Frauen richten ihre Augen und die Redakteurin auch ein Richtmikrofon nach oben zu den Galerien auf den Tanks. Dort oben auf dem höchsten Turm sehen sie, wie eine schmale Gestalt mit gekrümmtem Rücken, aber ansonsten in einer noch jugendlichen Erscheinung mit unauffälligem, ovalem und sommersprossigem Schuljungengesicht unter dünnen schwarzen Locken wütend hin und her springt.
Trotz der Ferne gelingt es der Redakteurin das Mikrofon so exakt auszurichten, dass sie aus dem Gebrüll seiner überschnappenden Stimme eine konkrete Aussage heraushören kann: „Ihr dummes Volk, ihr Tolpatsche, ihr Gehirnlosen, ihr Idioten! Es ist mein Verdienst, ja meines, dass ich knapp davor war, Euch von dem Joch der Privatsphäre erlöst zu haben. Fast war ich soweit, dass jeder von Euch über jeden alles nachlesen kann und ich für Euch alles zur perfekten Werbung komplettiere, ja endlich nur noch Werbung. Kein Nachdenken mehr über sachliche Zusammenhänge, keine Weitergabe und Aufnahme von sachlichen Informationen. Von all dem wäret ihr befreit worden, ja endgültig befreit.
Und hier, ja genau hier in diesem Tanklager, hier wäre für euch alle die ultimative Lebensalternative gewesen: DER ZUCKERBERG. Nahrungs- und Genussalternative für Milliarden von Menschen auf diesem Globus. Für Jahrzehnte! Schluss mit dem Abschlachten von Tieren, Schluss mit dem milliardenfachen Mord an Salatköpfen und Tomaten! Beerdigung der Ballaststoffe in eurer Nahrung. Kein mühsames Nachdenken mehr über Speisekarten und Einkaufslisten. Keine Hetze mehr in gigantischen Supermärkten. Nur noch supergemütliche Dicke mit Ihren Handys vor dem Kopf! Doch was macht ihr? Ihr Undankbaren! Ihr unruhigen Querdenker! Ihr rastlosen Selbstbestimmungsfanatiker! Ihr spült einfach alles ins Meer, ins Meer, ins Meer.“ Es hallt als Echo von allen Tanks nach: „Ins Meer, ins Meer, ins Meer!“
Und ein Wunder geschieht: Die allerortens verteilte Pampe zieht sich zurück . Erst langsam, dann immer schneller. Die Straßen und Plätze werden wieder frei und über alle Bildschirme der Nation tanzt Ricarda als Schulmädchen. Nur noch im Hintergrund des Spots brüllt es wie Hustenstöße: „Ins Meer, ins Meer, ins Meer!“
In diesem Moment weckt Ricarda ein Geräusch. Sie schreckt in ihren Kissen hoch: Was für ein abscheulicher, ekliger, abstruser und blödsinniger Traum! Das Klappen ihres Briefkastendeckels hat sie aufgeschreckt. Eine Postkarte von Karl-Heinz lädt sie zum Fachvortrag und Diskussionsforum ein: „Faserige Rotalgen als weltweiter Fleischersatz!“ Der synthetische Zucker sei doch allzu ungesund. Und das Beste – auf einmal sind Husten, Schnupfen, Heiserkeit allesamt weg, so als wäre nix geschehen.
Detlev Stupperich, 2. Mai 2018