Lieber Leser, bitte lesen oder zumindest überfliegen sie zuerst „Rosemaries Fortsetzung“ von Rosemarie Knechtel, denn der folgende Text von Detlev ist dessen (nächste) Fortsetzung:
Weil die Männer immer noch nicht mit ihren Brötchen oder anderen Backwaren zum Frühstück zurückgekommen waren, gingen Caroline und Friederike weiter am Ruhlsee entlang. Das leise Plätschern des Sees ließ eine gute Stimmung aufkommen und beide tauschten Freundlichkeiten aus. Die schlanken und ansehnlichen Figuren der zwei spiegelten sich immer dann im glatten Wasser, wenn der sanfte Lufthauch am Ufer pausierte. Friederike ließ anklingen, dass spontane Einfälle und Ideen, so wie zum Beispiel von Andreas, ihren etwas langweiligen Alltag beleben könnten. Caroline wünschte sich hingegen mehr vorhersehbare Erlebnisse in ihrem Leben.
Wenig später beim gemeinsamen Frühstück mit den Männern diskutierten alle, welche der vielen Möglichkeiten aus Fritzens Ideenkatalog, die er schon bei der Planung des Treffens reichhaltig erkundet hatte, als Unterhaltung für diesen Tag interessant werden könnte. Andreas trompetete mit herzhaftem Gelächter, dass er den lokalen „Bauchtanz“ bevorzugen würde: „Ja, gibt es das hier wirklich?“. Caroline reagierte prompt und rutschte rhythmisch auf ihrem Sitz hin und her. Fritz, der Genaue, raschelte in seinen vorbereiteten Blättern. Nein, es hieße nicht „Bauchtanz“, sondern tatsächlich, hier in Langenselbold gäbe es etwas Ähnliches, nämlich den so genannten „Bachtanz“. Im Jahre 1460 hätten die Bauern den Grafen von Isenburg eine Steuererhöhung als zu deftig verweigert. Daraufhin riefen die Isenburger erzbischöfliche Soldaten aus Mainz herbei. Die griffen das Dorf zwar an, aber sollen von den wütenden Bauern mit Mistgabeln in die Flucht geschlagen worden sein. Vor Freude tanzten die Frauen im Flüsschen Gründau. Die Steuererhöhung, so hieß es: „sey dem Dorfe Langenselbold vors erste erlassen. Aber als Sühne und Bestraffung für ihre Widerborstigkeit sey es den Selbolder Untertanen ufferleget, fortan alljährlich zu diesem Tage durch den dortselbigen Bach zu springn und zu tanzen!“.
Caroline lächelte hintergründig: „Das sollen also die wackeren Bauern mit ihren Mistgabeln erreicht haben? Wer hat hier wen aufgegabelt? Welche mythologische Bedeutung mag der so sogenannte »Bachtanz« wohl wirklich haben?“, und tanzte jetzt erst recht mit wiegenden Hüften um den Frühstückstisch, um die müden Männer unmissverständlich zum „Bachtanz“ aufzufordern. Andreas blickte wieder in Fritzens bunte Papiere mit den lokalen Angeboten und triumphierte in die Runde: „Dann auf zum Bachtanz! Im hiesigen Lokal dieses Namens bieten sie heute einen Mittags-Tisch mit ortstypischen Überraschungen an. Nach dem Bachtanz könnten wir hier ja mal einen zünftigen Bauchtanz einführen!“, lachte er Friederike aufmunternd an und blickte auf ihre schlanke Taille.
Abrupt erstarb sein Lachen, als er sah, wie Friederike mit hochrotem Kopf durch alle hindurch ins Leere starrte. „Was ist los, alles o.k.?“ entsetzte sich Caroline. „Warum in aller Welt ist Bauchtanz so etwas Furchtbares für dich!“ Friederike fasste sich nur langsam und schaute verkrampft zu Fritz. Tränen füllten ihre Augen und sie griff wie traumwandlerisch in das kuschelige Fell von Lasco, der direkt neben ihr auf dem Boden lag und ebenso schnaufte wie ihre verstörte Herrin.
Fritz stand auf und legte Friederike beide Hände beruhigend auf die Schultern. „Friederike“, sagte er mit tiefer Stimme. „Ich weiß, wie schwer es ist, mit deinem großen Trauma fertig zu werden. Aber wenn du es schaffst, das jetzt in einer größeren Runde nüchtern zusammenzufassen, wird es sicher ein Durchbruch für dich und für uns beide sein.“
Friederike atmete stoßweise und schwieg eine quälend lange Zeit, während Fritz nur direkt neben ihr saß und sie sanft berührte. Stockend begann sie endlich davon zu reden, dass vor jetzt bald 15 Jahren eine für sie unvorstellbar intensive Beziehung, die schon in der Kinderzeit begonnen hatte, abrupt geendet habe. „Die Erinnerung daran wird für mich jetzt fast übermächtig, weil wir die Fahrt zu diesem Treffen genutzt haben, um Lasco in die Strahlenklinik nach Linsengericht zu bringen. Lasco hat ein Karzinom im Dünndarm. Bevor es operiert werden muss, wollen wir versuchen, es durch Bestrahlung zu bekämpfen.“
Erschrocken versuchten Andreas und Caroline ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, indem sie aufstanden und intensiv die langen Haare von Lascos Fell kraulten. Es sei ja nur zu gut zu verstehen, dass die Angst um ein geliebtes Wesen eine große Belastung sei. Aber schließlich seien die Zeiten wie bei der Namensgebung von Reinheim, als sich die Krankenfürsorge im Wesentlichen auf gutes Essen, Kräutertees und feuchte Tücher hätte beschränken müssen, zum Glück lange vorbei. Und außerdem hätte sie ja ihren treuen Fritz, der sie doch noch viel intensiver, hingebungsvoller und länger unterstützen könne als es die treu blickenden Augen von Lasco je könnten. „Aber was hat das denn mit deiner verflossenen großen Liebe und dem Bauchtanz zu tun?“, fragte Caroline arglos.
Wieder füllten sich Friederikes Augen mit Tränen und sie schaute auf den Boden. „Lass es jetzt einfach weiter heraus!", sprach ihr Fritz wieder gut zu. „Setze mitten in der für dich am schwersten zu ertragenden Situation ein. Das war doch der Bauchtanz!“. Wieder verkrampfte sich Friederike. Aber sie ballte ihre Fäuste und stieß heraus. „Den Bauchtanz muss natürlich nicht der arme Lasco aufführen. Nur seine Gedärme,“ versuchte sie verspannt zu witzeln. „Nein, den Bauchtanz hat diese … ja eben diese … genau diese Katharina aufgeführt. Nicht die Katharina aus Reinheim. Nein, es war die Leiterin dieser Klinik in Linsengericht, die auch Katharina heißt.“
Die lebenslustige Caroline schluckte und musste sich ihren heftigen Lachdrang verkneifen. Es gelang ihr mit einiger Mühe, ganz ernst zu entgegnen, dass sie über den Bauchtanz der Klinikleiterin als Behandlungsmethode für den Dünndarm ihrer Patienten zwar etwas irritiert sei. Aber wenn es tatsächlich eine therapeutische Langzeitwirkung haben sollte, dann wäre diese Behandlungsmethode ebenso nebenwirkungsfrei wie umweltfreundlich und kostengünstig.
Friederike konnte offensichtlich nicht auf diesen Scherz eingehen. Mühsam berichtete sie, dass ein Bauchtanz der ganz große Auftritt der strahlenden Katharina gewesen sei. An dem Abend, eben an dem Abend, als ihr innig Geliebter sein Herz an diese, an diese, also an diese dürre Bohnenstange von Katharina verloren habe. Bei den letzten Sätzen hatte auch Andreas so ausgesehen, als ob er ebenso wie Caroline mit seiner Fassung kämpfen musste. Jetzt konnte er seine flotte Zunge nicht mehr länger zügeln und es entglitt ihm die Frage, warum denn für Friederike die Sorge um das Untergewicht der Frau Katharina eine so schwere seelische Belastung sei, dass sie ihr so nachhaltig die gute Laune verderben würde?
Aber der Satz war gut, sehr gut, denn jetzt konnte Friederike – endlich – etwas schmunzeln: „Die Hungerqualen der Katharina für ihre Figur, die sind mir nun wirklich völlig egal. Vielmehr gönne ich der Person das sogar von Herzen. Nein, was sich stets und jetzt verstärkt immer wieder vor meinem inneren Auge abspielt ist, wie ich mit ansehen muss, dass mein Geliebter, mein Traummann mit seinen strahlenden blauen Augen begeistert zu dieser Person glotzt und dann – wie alle anderen – in Begeisterungsstürme ausbricht, als sie auf die Bühne des damaligen Festsaals springt und bei einem improvisierten Bauchtanz ihre schlanke Taille wie einen Wurm winden lässt, mit den dürren Armen wedelt, als wären sie Seile und ihre Silikon-Busen hüpfen lässt.
Erst Verzweiflung und dann Wut hatten sich in mir breitgemacht. Sie gaben mir die Kraft und die blinde Entschlossenheit, dieses Miststück, meine Feindin mit ihren eigenen Waffen schlagen zu wollen. Ich riss mir das T-Shirt über den Kopf und stapfte schnurstracks auf eben diese Bühne, mit dem ganz festen Willen, noch viel attraktiver und viel verführerischer mit dem Bauch zu wackeln.“
Friederike hatte sich in Rage geredet und die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihr heraus. Carolines und Andreas Gesichter zeigten deutlich, dass ihre Albernheit in Betroffenheit umgekippt war. „Das habe ich nicht gewusst“, sagte Andreas erstaunlich leise, „dass Bauchtanz für Dich offensichtlich mit einem traumatischen Erleben verbunden ist. Aber eins verstehe ich noch nicht ganz: Bei deiner attraktiven – wenn ich das mal so im Klartext sagen darf – durchaus sinnlichen und beweglichen Figur, müsstest du doch alle Chancen gehabt haben, zumindest einen guten Eindruck zu machen, wenn nicht sogar tatsächlich deine Konkurrentin auszustechen?“
Jetzt atmete Friederike wieder heftig und neigte ihren Oberkörper ruckartig nach vorn. Selbst Lasco muss ihre energische Entschlossenheit gespürt haben, denn er hatte sich wie zum Sprung aufgestellt und knurrte leise, aber vernehmlich. Mit erhobener Stimme fuhr Friederike fort: „Das hatte ich ja auch gehofft. Mit all meinem Ingrimm auf diese, auf diese, eben diese Ziege sprang ich in einem einzigen Satz auf die Bühne. Wie eine Feder war ich gespannt, nur auf eines konzentriert: Die Zuneigung meines Geliebten zu erhalten, mit allen Mitteln, mit allen Sinnen.“
Selbst Fritz schaute erstaunt auf: „So detailliert hast du mir das noch nie erzählt!“
Friederike redete mit Nachdruck weiter: „Jedes Detail, jede Bewegung habe ich noch im Gedächtnis, wie in Zeitlupe, wie die Erinnerung an einen grauenvollen Unfall. Ich habe gespürt, dass meine Welt ins Wanken gekommen war.
Nie zuvor hatte ich Bauchtanz geübt, aber jetzt hatte ich das Gefühl, mich Ingo wie eine perfekte Erotik-Maschine darbieten zu können. Mein Bauch ruckte von links nach rechts, meine Arme winkten wie wild und immer wieder schoss mein Becken nach vorne, meine Hände glitten über die Konturen der Brüste, entlang meines zuckenden Bauches, entlang meiner Schenkel und dazwischen …“ Friederike hatte sich – während sie immer engagierter sprach – aus dem tiefen Sessel des Ferienhauses erhoben und begonnen, sich zu ihren eigenen Kommandos zu bewegen. Erst noch gezähmt, dann immer schneller, bis sie fast ekstatisch hin und her zuckte.
Caroline und Andreas waren verstummt, ihre eben noch verstört nach unten hängenden Mundwinkel hoben sich wieder und ihre Münder öffneten sich immer weiter zum Ausdruck eines tief berührten Erstaunens. Mit immer größer werdenden Augen starrten sie Friederike an. So zackig und maschinenhaft wie Friederike sich bewegt hatte, so abrupt stoppte sie und schrie die beiden an: „Was glotzt ihr mich mit hängenden Kinnladen so stumm an? Das ist ja ganz genau so wie damals. Genau das Gleiche! Niemals werde ich es vergessen können, diesen Moment, als die feiernde Menschenmenge verstummte und für Augenblicke nichts, rein gar nichts mehr zu hören war. Ich sah nur auf ihn, auf meinen Geliebten. Mitten in dieses Schweigen hinein, im Zentrum all dieser Menschen starrte er mit weit aufgerissenen Augen zu mir auf die Bühne, langsam fiel seine Kinnlade herunter. Schon wähnte ich mich am Ziel meines spontanen Auftritts, war gespannt darauf, dass er mich, nur mich, wieder so anstrahlte, so unwiderstehlich anlächelte, so wie zuvor in vielen glücklichen Jahren. Und tatsächlich, genau so, wie sich jetzt eure Mundwinkel angehoben haben, so begann auch in Ingos Gesicht ein feines Lächeln. Ich war glücklich, überglücklich, die Welt schwankte vor meinen Augen, ich streckte die Arme aus in Erwartung des ersehnten Kusses, taumelte etwas …
Und dann, urplötzlich, mitten in dieses Schweigen hinein, brach dieser Kerl, dieses Vieh, diese miese Kreatur in ein so brüllendes und so schallendes Gelächter aus, dass in wenigen Sekunden der ganze Festsaal davon angesteckt wurde und alles sich vor Lachen krümmte. Einige gingen japsend zu Boden.
Brutal geschockt, begann alles vor meinen Augen zu flimmern. Ich konnte noch einen Schritt weiter torkeln und brach zusammen. Auf allen Vieren kroch ich hinter die Bühne, während der Festsaal brüllte und tobte. Aber für mich, ganz alleine, urplötzlich verlassen, war meine Welt zerbrochen und zusammengestürzt.“
Friederike sackte mit den letzten Worten in den alten Sessel des Ferienhauses zurück. Grau und fahl blickte sie ins Leere. Umso schärfer kontrastierten dazu die fröhlichen Gesichter von Caroline und Andreas. Selbst Fritz schien zu schmunzeln: „Liebe Friederike, so intensiv habe ich das noch nie von dir erlebt. Hast du dich damals wirklich so ungestüm, so zackig, so blitzartig bewegt, wie jetzt eben hier?“ Und Caroline pflichtete ihm bei: „Super, wie du das hinbekommen hast! Mit einer Schnelligkeit, als ob du deinen eigenen Film mit doppelter Geschwindigkeit abspielen würdest!“ Andreas stimmte mit ein: „Fantastisch, wenn dir das an dem bewussten Abend auch gelungen ist, dich so ruckartig und superschnell wie ein durchgeknallter Roboter zu bewegen, dann hast du deine Konkurrentin ja dermaßen veralbert und karikiert, dass du der moralische Sieger des Abends warst. Respekt, so eine Performance hätte ich wirklich nicht erwartet, als wir uns zu diesem Treffen hier entschlossen haben!“
Derweil hatte sich Fritz neben Friederikes Sessel auf den Boden gekniet. In dem Moment hatte er rein gar nichts mehr von strengem Oberstudienrat an sich, so intensiv und gefühlvoll umarmte er sie und bedeckte sie mit zärtlichen Küssen.
In Friederikes Gesicht war die Farbe zurückgekehrt. Jetzt waren es ihre Augen, die die anderen weit aufgerissen anstierten: „Dynamisch…zackig… superschnell?“ stotterte sie ungläubig. „Roboter? durchgeknallt? Was sagt ihr da?“ und lehnte sich in ihrem Sessel weit zurück. „Ich habe mich in so weicher und emotionaler Pose gefühlt, überbordend vor Sinnlichkeit, so erotisch wie ein ausbrechender Vulkan, so wie … Wie soll ich es nur beschreiben? Also unser stimmungsvoller Abend gestern, der hatte ja auch eine wunderbare und gefühlvolle, intensive Atmosphäre. Aber im Vergleich zu meinem Bauchtanz, war er doch wie ein, also wie ein … harmloser Kindergeburtstag.“
„Kin – der – ge – burts – tag?“ prustete Andreas los. „Kindergeburtstag? Bei deinen Kindergeburtstagen da möchte ich aber dabei sein. Sehr gerne dabei sein. Zu Beginn die Stimmung so anheizen, dass der Saal tobt. Dann ein Kabarett, dass allen erst die Luft wegbleibt und sie sich dann vor Lachen am Boden wälzen, da mache ich mit!“
Friederike starrte den Gesamtprojektleiter des neuen Züricher Universitätsspitals so ungläubig an wie einen vom Jupiter frisch gelandeten Alien: „Ich dachte immer, seit Jahren denke ich immer und immer wieder, dass alle über mich, nur über mich…“
Jetzt hatte sich auch Caroline neben Friederikes tiefen Sessel des alten Ferienhauses hinter dem Efeu auf den Boden gesetzt und streichelte ihr ganz vorsichtig den Arm: „So wie du uns das jetzt präsentiert hast, ist es nach meinem Gefühl eine unglaubliche Gemeinheit und widerwärtige Grobheit, wie sich dein Ingo nach all den Jahren abrupt von dir getrennt hat. An diesem Abend da war ganz sicher diese Katharina die gefühlte Verliererin und du die Siegerin, die Gewinnerin!“
24.9.2019