Feddersen lebte ein ausgesprochen wohlgeordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit ins Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging nachts um die gleiche Zeit schlafen.
An einem Donnerstag im November jedoch geschah etwas Unvorhergesehenes: Ein Klient seines Chefs kam atemlos um Viertel vor zwölf Uhr in Feddersens Büro gestürmt und wollte in einer äußerst dringenden Angelegenheit beraten werden. Der Chef war unterwegs, doch bei diesem Sachverhalt kannte sich Feddersen ebenfalls gut aus. Da er den Hilfe suchenden Klienten nicht gut abweisen konnte und wollte, blieb ihm nichts anderes übrig: Er selbst musste sich mit ihm befassen. Das Problem des Klienten war etwas kompliziert, und das Gespräch zog sich lange hin. Als dieser schließlich das Büro verlassen hatte, knurrte Feddersen der Magen. Er brauchte gar nicht auf die Uhr zu sehen um zu wissen, dass der übliche Beginn seiner Mittagspause schon weit überschritten war.
In den fast zehn Jahren, in denen er hier arbeitete, war es noch nicht vorgekommen, dass er wie heute erst 40 Minuten nach Zwölf in das kleine italienische Restaurant trat, in dem er mittags zu essen pflegte. Der Wirt, der gleichzeitig auch Kellner war, zeigte sich leicht erstaunt, Feddersen zu so ungewöhnlicher Zeit zu sehen.
„Guten Tag, Herr Feddersen“, begrüßte er ihn, „ich dachte schon, sie seien heute krank oder in Urlaub.“ – „Guten Tag, Franco“, erwiderte dieser, „nein, ich war durch etwas Wichtiges im Büro verhindert. Oh – wie ich sehe, ist mein Stammplatz besetzt.“ – „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie noch kommen, Herr Feddersen, hätte ich ihn natürlich für Sie frei gehalten!“ –
„So schlimm ist es auch wieder nicht, wenn ich einmal an einem anderen Tisch sitze“, gab Feddersen gut gelaunt zurück. Doch insgeheim war es ihm schon lieber, wenn keine Störungen seine gewohnte Routine unterbrachen. Er fühlte sich am sichersten und wohlsten, wenn alles nach Plan ablief und möglichst nichts die eingefahrenen Bahnen behinderte. Doch heute war er nun schon einmal dabei, von seinen Grundsätzen abzugehen.
Deshalb setzte er sich mit nur geringem Bedauern an den ihm zugewiesenen Tisch. Beherzt wählte er aus der Speisekarte ein Gericht aus, das er noch nie gegessen hatte, weil er befürchtet hatte, es würde ihm nicht zusagen. Doch es erwies sich als überraschend wohlschmeckend, und er war angenehm überrascht. Inzwischen war es schon ein Uhr vorbei und er hatte fast das Gefühl, zu spät dran zu sein und ins Büro zurückhasten zu müssen, als ihm einfiel, dass er ja heute viel später gekommen war und also noch Zeit hatte.
Da öffnete sich die Tür und eine einzelne Frau trat ein. Zielbewusst steuerte sie einen bestimmten Stuhl an einem bestimmten Tisch an, der noch frei war. Franco schien sie zu kennen, denn er brachte ihr unaufgefordert ein großes Glas Mineralwasser. Sie bestellte etwas zu essen ohne die Speisekarte zu benutzen und entfaltete dann eine Zeitung, in die sie sich vertiefte. Ihn, Feddersen, hatte sie gar nicht wahrgenommen. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er sah – seiner Meinung nach – recht durchschnittlich und unauffällig aus. Doch die Frau erregte seine Aufmerksamkeit und Neugier. Sie war nicht mehr ganz jung, aber noch in dem Alter, in dem eine Frau ihn interessierte – etwas jünger als er, schätzte er. Ihre Kleidung war modisch, ohne auffallend zu wirken. Sie schien sich selbst genügend Gesellschaft zu sein und machte nicht den Eindruck, auf jemanden zu warten.
Als er seine Rechnung bezahlte, fragte er Franco, ob er diese Frau kenne. „Natürlich kenne ich sie; und zwar fast so gut, wie ich Sie kenne, Herr Feddersen. Sie kommt jeden Tag von ein bis zwei Uhr hierher, in ihrer Mittagspause.“
Nachdenklich ging Feddersen den Weg in sein Büro zurück.
Elfriede Jakob-Komianos, September 1994