„Bitte fahr los, Ursula – ich möchte nicht länger an diesem Ort bleiben – bitte fahr doch! Ja, es ist alles in Ordnung mit mir, niemand hat mir etwas getan. Aber bitte fahr jetzt!“

‚Er hat vollkommen vergessen, dass der Motor des Autos nach unserem Spaziergang nicht angesprungen ist, das heißt: Er hat vergessen, warum er überhaupt dieses Haus betreten hat. Er wollte doch nach Starthilfe fragen.’ Ursula schüttelte den Kopf und betätigte automatisch den Anlasser. Und diesmal sprang er an! Günter nahm diese Tatsache als ganz selbstverständlich hin. Es war, als ob er unter einem Schock stehen würde.

         Es wurde schon dunkel, als sie die ‚Stadt erreichten. Bald waren sie zu Hause und Ursula schenkte sich und Günter ein Glas Wein ein. Und nun, unter der Wirkung des Alkohols, wurde ihr Mann endlich zugänglich und begann zu sprechen:

         „Du warst doch bei der Beerdigung meines Vaters dabei, oder?“ „Natürlich, Günter, das weißt du doch. Aber was hat das mit heute Nachmittag zu tun?“

„In diesem Haus war mein Vater!“

„Dein Vater ist vor fünf Jahren gestorben. Was erzählst du denn da?“

„Ich weiß, dass er tot ist. Aber ich habe ihn trotzdem gesehen. Als ich bei diesen Leuten in der Küche stand und ihnen erzählte, dass wir eine Autopanne haben, ging die Tür in ein angrenzendes Zimmer auf, und ich sah meinen Vater in einem Sessel sitzen. Er lächelte mich genauso an, wie er es früher immer getan hat. Du kannst sicher verstehen, dass ich erschrocken bin und daraufhin aus dem Haus rannte.“

„Klar, das verstehe ich schon. Aber es ist absolut sicher, dass dein Vater tot ist. Du hast ihn doch selbst noch auf seinem Sterbebett liegen sehen. Es kann höchstens ein Mann sein, der deinem Vater ähnlich sieht.“

         „Ja, aber dein gesunder Menschenverstand beruhigt mich diesmal nicht. Ich hatte eine solche Angst, eine Wahnvorstellung zu haben.“

         Das Ereignis ging den Weidings nicht mehr aus dem Sinn. Am darauf folgenden Samstag fuhren sie wieder in den Spessart und nahmen die gleiche Straße, die sie neulich auch benutzt hatten. Den Anlasser hatten sie inzwischen reparieren lassen. Nun war es noch heller Nachmittag und sie sahen die Gegend mit anderen Augen. Es war genauso einsam wie das letzte Mal, doch erschien es ihnen weniger unheimlich. Sie entdeckten sogar einen Wanderweg, der fast auf gleicher Höhe mit dem besagten Haus am gegenüberliegenden Hang entlang führte. Auf diesem Weg suchten sich Günter und Ursula einen Platz, von dem aus sie das Haus gut beobachten konnten. Einmal meinten sie sogar, sie hätten einen älteren Mann in ein Auto steigen sehen.

         Die Beobachtung dieses Hauses wurde für das Ehepaar schon fast zur Obsession: Am nächsten Tag waren sie klüger und packten eine Decke und ein Fernglas ins Auto. Unablässig beobachteten sie abwechselnd das Haus. Nach einiger Zeit trat ein älterer Herr in den Garten und hielt sich länger dort auf. Er beschnitt Sträucher und erledigte andere leichte Arbeiten. Nun konnten sie ihn gut beobachten. Er hatte absolut nichts Geheimnisvolles an sich, doch die Ähnlichkeit mit Günters Vater war verblüffend. Auch bestimmte Bewegungen waren genau gleich.

         Leider konnten sie am folgenden Wochenende ihre Beobachtungen nicht fortsetzen. Ein großes Familienfest sollte stattfinden: Günters Tante feierte mit ihrem Mann goldene Hochzeit und hatte die gesamte Verwandtschaft dazu eingeladen. Günters Mutter freute sich besonders darauf, mit Sohn und Schwiegertochter in das kleine Dorf Wiesenstein zu fahren, aus dem Günters Eltern stammten. Anschließend wollten sie der Mutter eine Freude bereiten und noch zwei Tage im Dorf bleiben. Sie war jedes Mal glücklich, wenn sie hierher kam, denn sie hatte noch Geschwister und andere Familienangehörige im Ort.

         Am Montag war das Fest nun vorüber; die Mutter besuchte Verwandte, Günter und Ursula schlenderten durch den ruhigen Ort wie zwei Touristen. Sie kamen zur Kirche, in der am Tag vorher die Feier mit einer Messe begonnen hatte. An der Kirchenmauer schauten sie sich einige alte Inschriften an.

         „Interessieren Sie sich für Geschichte?“, wurden sie plötzlich angesprochen. Der Pfarrer, den sie gestern schon kennengelernt hatten, stand hinter ihnen. „Ja, das heißt, eigentlich mehr für Familiengeschichte“, antwortete Günter.

         „Da kann ich Ihnen etwas Interessantes zeigen“, gab der Geistliche zurück. Wir haben gerade eine Chronik von Wiesenstein restaurieren lassen. Sie war wahrscheinlich im Dreißigjährigen Krieg vor den Schweden versteckt worden und wurde erst vorletztes Jahr wieder gefunden. Kommen Sie und sehen Sie sich den Folianten an, wenn Sie Zeit haben!“

         Das Ehepaar folgte gerne dem Pfarrer ins Pfarrhaus, wo er in seinem Büro das alte Buch aufbewahrte. Ehrfürchtig blätterten sie das über dreihundert Jahre alte Werk durch. Auch damals schon hatten Weidings im Dorf gelebt.

         Günter wollte jetzt die Familiengeschichte weiter verfolgen. Der Pfarrer brachte ihm alle Chroniken bis zu den neuesten kirchlichen Eintragungen. Dann ließ er das Paar allein. Sie sahen, dass Günters

Vorfahren wirklich ununterbrochen seit dem 17. Jahrhundert hier ansässig waren.

         Nach langem Durchblättern kamen sie bei einem der letzten Bände der Chronik an, in dem die Eintragungen seiner Eltern stehen mussten.

         „Ursula, sieh doch mal! Beim Datum „19. März 1940“ steht: ‚Georg Weiding’ – das ist mein Vater – und ‚Johannes Weiding’, am gleichen Tag geboren: Was soll das heißen?“

         Am Nachmittag kamen sie mit Günters Mutter zurück. Sie war genauso erstaunt und wusste nicht, was sie von dieser Eintragung halten sollte. Bei einer alten Verwandten, die noch seine Großmutter gut gekannt hatte, erfuhren sie dann die ganze Wahrheit:

         Günters Großmutter war nicht verheiratet gewesen, als sie schwanger wurde. Das war zu dieser Zeit schlimm genug für die junge Mutter und nicht leicht, in dem kleinen Dorf damit zu leben. Doch sie bekam sogar Zwillinge. So etwas war unmöglich! Schweren Herzens gab sie einen der beiden Jungen, den Johannes, noch in der Klinik einer Frau mit, die mit ihr im Saal gelegen war und deren Kind bei der Geburt gestorben war. Die Ärzte regelten alles mit den Papieren. Die beiden Frauen hatten vereinbart, sich nicht wieder zu treffen. Drei Jahre später hatte Günters Großmutter geheiratet: einen Mann, der ebenfalls Weiding hieß wie sie, aber mit ihr nicht verwandt war – ein in dieser Gegend überaus häufiger Familienname.

         Nach dieser Entdeckung dämmerte es Günter: „Dieser Mann in dem einsamen Haus im Spessart ist ja dann vielleicht mein Onkel!“

         Schon am nächsten Tag fuhren Ursula, Günter und seine Mutter zu der Familie im Spessart – und es stellte sich heraus, dass der alte Herr wirklich sein Onkel Johannes war, der Zwillingsbruder seines Vaters.

         Sie kamen nun häufiger in den Spessart, denn Johannes und auch Günter Weiding freuten sich sehr über die glückliche Fügung.