Endlich in Griechenland! Elvira saß in einem Café am Hafen und ließ die vergangenen drei Tage vor sich ablaufen, die recht anstrengend gewesen waren:

Packen für die Reise, eine weite Autofahrt nach Italien, 36 Stunden Schiffsreise nach Griechenland, aussteigen in Patras heute Morgen und zwei Stunden Autofahrt, bis sie endlich in Korinth angekommen waren. Elvira und ihr griechischer Mann Petros besuchten wie fast jedes Jahr seine Schwester und andere Verwandte in seiner Heimatstadt.

         Sophia ließ es sich nicht nehmen, für alle drei täglich zu kochen. Die beiden wohnten auch bei ihr. Nachdem die Kinder aus dem Hause waren, hatte sie extra ein Gästezimmer eingerichtet, um ihren Bruder und seine Frau oder auch ihre Schwester aus Athen zu beherbergen.

         Nach dem Mittagschlaf hatte sich Petros zum Fischen verabschiedet, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen im Urlaub. Elvira war hierher gekommen, um in diesem Lokal auf dem großen Platz am Hafen den ersten Urlaubstag zu genießen.

         Seitdem sie gut Griechisch konnte – es hatte mehrere Jahre gedauert – verstand sie fast alles, was gesprochen wurde – ausgenommen die Fernsehnachrichten, weil die Sprecher ihre Meldungen so unheimlich schnell herunterratterten, als würden sie für jedes Wort pro Minute bezahlt. In ihrem Lieblingscafé mochte sie aber noch so fehlerfrei ihre Bestellung aufgeben, es wurde ihr meist in englischer Sprache geantwortet.

         So saß sie schon eine Weile, beobachtete das bunte Leben und Treiben und träumte vor sich hin.

         Da zogen zwei Männer am Nebentisch ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie ähnelten einander, als ob sie Brüder wären: groß, dunkelhaarig, schlank, doch einer mit langen Locken und Schnurrbart, der andere mit kurzem Haar und ohne Bart.

 

         „Das haben wir aber toll hingekriegt!“, rief der mit dem Bart aus. „Michalis, mach nicht so ein Geschrei“, ermahnte ihn der zweite. „Na, ist doch wahr, die haben wir ganz schön gelinkt!“, fuhr der erste nun etwas leiser fort.

         Elviras Neugier, die meist nur schlummerte, aber nie richtig schlief, war nun geweckt. Sie beherrschte es vollendet, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen und dabei genau auf das zu achten, was um sie herum vorging. In ihrem Beruf als Lehrerin konnte sie das Pokerface gut brauchen. Während sie sich mit dem Strohhalm ihres Getränks beschäftigte, wartete sie auf die Fortsetzung des Gesprächs.

         „Diese Touristen tragen doch alle einen Haufen Kohle mit sich herum. Und wenn man es sich leisten kann, im „King Saron“ zu wohnen und einen dicken BMW zu fahren, dann geschieht es einem nur recht!

         ‚Ich möchte nur wissen, was einem recht geschieht’, dachte sich Elvira und schaute dabei versonnen auf das Meer.

‚Nicht jeder BMW-Fahrer muss gleich furchtbar reich sein. Aber das „King Saron“ als erstes Haus in der Stadt lässt schon auf Geld schließen. Was meinen die nur damit?’

         Der ohne Bart, der anscheinend etwas vorsichtiger war als sein Kumpel oder Bruder, sprach nun mit noch leiserer Stimme als zuvor. Doch Elvira, geübt darin, auch geflüsterte Bemerkungen ihrer Schüler aufzunehmen, konnte ihn noch ganz gut hören.

         „Wenn die zu uns in Urlaub kommen, rechnen sie sowieso damit, einen Haufen Geld loszuwerden. Da sind ein paar Fünfziger gar nichts für sie.“ – „Aber dass sie gleich 200 blechen, damit hätte ich auch nicht gerechnet“, wandte jetzt der andere ein.

         Elvira hatte vorher einige Ansichtskarten gekauft, die sie jetzt langsam aus ihrer Handtasche zog und hingebungsvoll beschriftete, unterbrochen durch angestrengtes Nachdenken, was und wem sie schreiben könnte.

         „Naja, wir haben es eben geschickt gedeichselt: du von der einen Seite mit dem Moped und ich mit dem zerbeulten alten Klapperkasten von vorne. Der hat uns doch glatt abgenommen, dass wir die Vorfahrt hatten und die Polizei ihn als Ausländer erst einmal festnehmen würde.“

         Elvira dachte im ersten Moment, sie hätte sich verhört. Das war ja ein starkes Stück!

„An dir ist ein Schauspieler verloren gegangen. Wie du den verletzten Mopedfahrer gespielt hast, das war schon Klasse!“ „Aber du als geschädigter Autofahrer warst auch nicht übel!“ „Wenn wir dieses Spielchen noch ausbauen und verfeinern, können wir von den Touristen ganz schön absahnen.“

         Da klingelte Elviras Handy. ‚Hoffentlich ist es niemand der griechischen Verwandtschaft, sonst muss ich ja griechisch sprechen, und das hören die Beiden dann. Ich schau erst mal, wer es ist.’ Es war Petros, der begeistert erzählte, wie viele Fische er gefangen hatte. Natürlich sprach sie deutsch mit ihm.

         Die Fremden am Nebentisch lachten schadenfroh über ihren gelungenen Coup, dann sprachen sie über andere Dinge, bezahlten bald und erhoben sich. Elvira schenkten sie keine Beachtung.

         Sie jedoch beobachtete nun aufmerksam, wohin die Männer gingen. Sie schlurften die Hauptstraße entlang, die vom Hafen in die Innenstadt führte, und verschwanden kurz in einem Hauseingang.

         Elvira bezahlte ebenfalls. Danach ging sie erst einmal nach Hause zur Wohnung der Schwägerin am Rande der Stadt.

         Als Petros endlich gut gelaunt vom Fischen heimkam – es reichte locker für das Abendessen – erzählte sie ihm, was sie im Café mit angehört hatte. Gemeinsam mit Sophia berieten, was nun zu tun sei.

         Da fiel den Geschwistern ein, dass ein ehemaliger Mitschüler, Pavlos, bei der Polizei arbeitete.

         Am nächsten Vormittag machte sich das Paar auf, zur Polizeistation in der Innenstadt zu fahren. Elvira setzte sich ans Steuer, um sich wieder an den stressigen Straßenverkehr der Stadt zu gewöhnen. In der Stadtmitte mussten sie durch ein Gewirr von kleinen Sträßchen und Einbahnstraßen fahren, die fast alle verstopft waren. Dies nutzte ihr Mann und stieg schnell aus, um eine Zeitung zu kaufen. An der übernächsten Ecke wollte er wieder einsteigen.

         Vor Elvira lag eine unübersichtliche, fast zugeparkte Straßenkreuzung. Langsam bewegte sie ihr Fahrzeug zwischen den in der ersten und zweiten Reihe abgestellten Autos hindurch. Da – ein Stoß von der linken Seite! Hatte sie ein Fahrzeug gerammt? Sie öffnete das linke Seitenfenster. Ein Moped lag neben ihrem Wagen auf dem Boden. Daneben richtete sich gerade der Fahrer mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Ausgerechnet jetzt musste das passieren, wo sie alleine im Auto saß! Vor Aufregung sprach sie deutsch: „Ich habe Sie gar nicht gesehen! Woher sind Sie denn so plötzlich gekommen? Es tut mir …“ – da stockte sie, weil sie dem Mopedfahrer nun erst direkt ins Gesicht gesehen hatte. Eine Welle von kleinen Schauern lief durch ihren Körper. Es war einer der beiden Männer aus dem Café am Hafen!

         Mein Gott, was sollte sie nur tun? Vor allem durfte er nicht merken, dass sie ihn erkannt hatte. In englischer Sprache schimpfte er nun über die Touristen und vor allem über die Frauen am Steuer. „Du musst 200 Euro bezahlen, ich bin verletzt!“ forderte der Mann von ihr und hielt sich das rechte Knie. „Oder wir gehen zur Polizei.“ – „No police, please“, stotterte Elvira. Das Stottern war echt, denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie nun machen sollte. Hinter ihr fingen mehrere Autofahrer bereits an zu hupen, weil sie nicht an ihr vorbeikamen. Sie wurde immer nervöser. Der Gauner stellte sich fordernd vor ihr auf und verlangte das Geld. Sie fingerte ihr Handy aus der Tasche, um Petros anzurufen, da sah sie ihn mit einem anderen Mann von Weitem kommen. Schon wollte sie ihn herbeiwinken, da bemerkte sie, dass er abwehrende Gesten machte und den Zeigefinger auf seine Lippen legte. Verwirrt tat sie so, als ob sie nach ihrem Geldbeutel suchte, da kam endlich Petros mit dem anderen Mann. „Was ist denn hier los? Ich bin von der Polizei.“ Wie ein Wiesel wollte der Scheinverletzte nun davonflitzen, doch der Polizist hatte damit gerechnet und packte ihn fest am Arm.

Petros fuhr das Auto zur Seite, denn das Hupen von allen Seiten war inzwischen fast unerträglich geworden. Dann stand er mit Elvira am Straßenrand und sie beobachteten, wie der Polizist mit dem Gauner diskutierte. „Wo hast du denn den Polizisten gefunden? Der kam ja wie gerufen.“ – „Das ist mein Mitschüler Pavlos. Wir haben einander am Kiosk getroffen, wo wir beide eine Zeitung kauften. Er wollte gerade wieder ins Büro gehen.“ – „Da können wir ja gleich mitkommen, und der Betrüger wird wahrscheinlich auch ins Revier müssen.

         So war es dann auch. Es stellte sich heraus, dass die Polizei ihn und seinen Bruder schon seit längerem in Verdacht gehabt hatte, Unfälle zu fingieren. Nun hatten sie endlich den Beweis dafür.

         Am Abend feierten Elvira und Petros den erfolgreichen Abschluss ihres ersten Kriminalfalles und freuten sich auf ein paar schöne, weniger aufregende Urlaubswochen.