„Papa, da sind ja so viele Leute – und alle hintereinander! Was machen die?“
„Die wollen alle die Kirche ansehen und haben sich angestellt. Aber schau, Maria, das geht recht schnell. Jetzt sind schon wieder alle ein paar Meter weiter vorn.“
„Warum müssen sie anstehen? Können sie nicht einfach reingehen?“, fragt nun die fünfjährige Lisa.
„Am Eingang steht ein Mann, dem die Leute ihre offenen Taschen zeigen müssen. Sie dürfen in der Kirche nichts essen und trinken“, antwortet die Mutter.
Nach etwa fünf Minuten steht die Familie bei dem Mann, der in die Taschen und Rucksäcke blickt. „Wir haben nichts zu essen dabei!“, ruft Lisa. Die siebenjährige Maria rollt mit den Augen, und der Angestellte schmunzelt. Es gefällt ihm, dass die Eltern den Kindern einen harmlosen Grund für die Taschenvisitation erklären. So kleine Kinder hätten Angst, wenn sie wüssten, dass auch nach Waffen und anderen gefährlichen Dingen gesucht wird.
Andächtig geht die junge Familie nun durch die riesige Kathedrale. Die beiden Mädchen hält der Vater je an einer Hand. Die Mutter trägt das vier Wochen alte Baby Korbinian, genannt „Korbi“, in einem Tuch vorne an ihrem Körper.
Nach einiger Zeit muss Maria mal zur Toilette. Der Papa begleitet sie. Hier sind so viele Leute, dass er sich sorgt, ob das Kind zu ihnen zurückfindet.
Lisa geht jetzt neben oder manchmal hinter der Mutter her. Das Kind findet die vielen Statuen interessant. Jede ist anders, und sie stellt sich vor, dass sie bei Dunkelheit ganz unheimlich aussehen und sich bewegen – wie in dem Film „Nachts im Museum“. Natürlich durfte sie ihn gar nicht ansehen, doch Maria zeigte ihr in der Programmzeitschrift die Bilder und erklärte ihr die Handlung des Films.
Lisa ist fasziniert und träumt vor sich hin. Aber wo ist denn jetzt Mama?
Sie kann leider nicht nach ihr rufen. Die Eltern haben beim Hineingehen gesagt, dass man hier drinnen nicht laut sein darf, weil es eine ganz heilige alte Kirche ist.
„Mama, Mama!“ flüstert sie.
So viele Menschen schauen sich diese Kirche an. Manche Frauen sehen von hinten ein bisschen wie Mama aus. Doch als sie sie überholt und betrachtet, sind es ganz andere Menschen – dann weint sie ein wenig.
Draußen war es schon etwas dunkel, als sie hier hereinkamen, aber jetzt ist es ganz finster. Nach und nach leert sich die Kathedrale, denn um 17.45 Uhr wird der Dom geschlossen. Lisas Eltern sind außer sich vor Sorge. Der Vater steht mit Maria am Eingang, die Mutter mit dem Baby am Ausgang – bis niemand mehr herauskommt und der Küster die Tore zuschließen will.
Die Eltern erzählen ihm, dass die kleine Lisa irgendwo hier in dem Riesendom ganz alleine umherirrt.
Maria meint: „Jetzt sind ja außer Lisa und uns keine Leute da. Also dürfen wir laut rufen. Lisa, Lisa!“
Jeder der drei und der Küster laufen in eine andere Richtung, um die Kleine aufzuspüren. „Lisa! Lisa!“ schallt es durch das Münster. Auch das Baby schreit jetzt – als ob es dadurch mithelfen könnte.
Lisa sitzt weinend auf einem Kirchenstuhl in einer Nische mit Holzfiguren.
Endlich hört sie das Rufen ihrer Familie. „Mama! Papa! Maria! Korbi!“ antwortet sie und rennt in die Mitte der Kirche. Hier treffen sich alle sechs, der Küster und die Familie. Sie führen einen kleinen Freudentanz auf.
„Schön, dass wir wieder alle zusammen sind. Jetzt können wir heimfahren.“
„Wärt ihr auch ohne mich heimgefahren?“
„Aber nein! Niemals!“
Erst während der Fahrt im Auto entspannt sich Lisa endlich und schläft ein.