Morgen ist Vernissage, die Eröffnung der Kunstausstellung.

Die Künstler und Künstlerinnen freuen sich schon darauf, ihre Werke dem Publikum zu präsentieren. Alle Bilder hängen schon seit Tagen an der Wand. Einige, wie das Bild Nr. 14, stehen auf einer Staffelei in der Mitte des Saales.

Aus Aberglauben und weil es so Brauch ist, wurde kein Bild mit der Nummer 13 bezeichnet.  

Das Bild, das nun Nr. 14 statt Nr. 13 ist, stammt von Robert Müller, einem bekannten Landschaftsmaler der Region. Auf der Leinwand sieht man ein kleines alpenländisches Dorf. Steil ragen ringsum hohe Berge auf. Oben auf den Gipfeln liegt noch reichlich Schnee, über den Bergen hängen dunkle, bedrohliche Wolken. Es ist Frühling auf dem Gemälde, rosa und weiße Blüten öffnen sich schon an vielen Bäumen. Anscheinend hat es in der letzten Zeit öfter geregnet, denn in den Obstgärten rund um das Dorf und auf den Wegen erkennt man Pfützen.

Robert Müller ist ein großer Verehrer von Rainer Maria Rilke und fügt seinen Naturbildern oft einige passende Verse des Dichters an. Müller schreibt diese Zeilen in wunderschöner Schrift auf Büttenpapier und hat das Blatt an der Staffelei befestigt.

Es lautet:

Später Weg. Die Hütten kauern,

und das dumpfe Dorf schläft ein.

Ernste Türme seh ich dauern,

weit aus weißen Blütenschauern

wächst ihr Weltverlorensein.

Bevor die Künstler nach Hause gehen, verhüllen sie ihre Werke mit Tüchern.

Heute ist es so weit: Um elf Uhr Vormittag soll die Alte Turnhalle geöffnet werden. Die Malerinnen und Maler wollen sich jedoch schon eine Stunde vorher dort treffen. Robert Müller hatte gestern im Rathaus den Schlüssel bekommen und sperrt kurz vor zehn Uhr das Eingangstor und den Zugang zum Ausstellungsraum auf.

Was ist denn das?         Ein Desaster, eine Katastrophe!

In der Mitte des Saals liegen Steine und Geröll, einen guten Meter hoch! Erde, schmutziges Wasser, Schlamm! Welche Vandalen sind hier eingedrungen?

Die Kollegen und Kolleginnen kommen auch herein, bestürzt und entsetzt.

Sie benachrichtigen die Polizei und die Hausmeisterin. Zwei Polizisten prüfen alle Schlösser an den Türen, ob sie aufgebrochen wurden. Sie können jedoch keine Spuren von Gewalt entdecken.

Fassungslos steigt Robert Müller über die Steine, die sich unter seinem Bild gesammelt haben. Er deckt das Tuch ab und lässt es zu Boden gleiten.

„Das Bild hat jetzt die Nr. 13 – wer hat denn das ausgetauscht?“ Danach betrachtet er sein Werk genauer und wird blass. „Ich – ich – habe auf die Berge Schnee und darüber dunkle Wolken gemalt. Jetzt liegen Schnee und Geröll im Dorf, Äste im Schlamm und die Wege und Wiesen sind voller Seen!

Und das Gedicht von gestern!? Jetzt steht ein anderer Vers von Rilke auf meinem Papier:

Vor mir liegt ein Felsenmeer, Sträucher, halb im Schutt versunken,

Todesschweigen. – Nebeltrunken

hangt der Himmel drüber her.

Nur ein matter Falter schwirrt

rastlos durch das Land, das kranke…“

Er setzt sich auf die Bühne und schüttelt verzweifelt den Kopf.

„Das gibt‘s doch nicht! Wie kann denn das sein? Ihr habt doch mein Bild und das Gedicht gesehen, als wir alles aufgehängt haben – oder spinne ich?“

„Nein, du spinnst nicht. Vor dem Verhüllen der Bilder hab‘ ich alle fotografiert. Schau mal deines an!“ ruft ihm eine Kollegin zu und zeigt Robert sein Gemälde auf ihrem Handy.

Auch die Polizisten, die Hausmeisterin und alle Künstler betrachten die Fotografie. Das Bild ist grundverschieden von dem gestrigen. Das erste Gedicht ist auf dem Foto gut erkennbar.

Mit rot-weißen Bändern sperren die Polizisten das Bild Nr. 13/14 ab, damit keine Spuren verändert werden. Am Montag sollen Experten aus München den seltsamen Sachverhalt prüfen.  

Inzwischen hat sich die rätselhafte Enthüllung schon in der Altstadt herumgesprochen. Journalisten drängen sich zusammen mit vielen  Neugierigen in den Ausstellungssaal und fotografieren verwirrt und kopfschüttelnd das Chaos.

Dieser Fall wurde nie gelöst.

©E.J.-K.