Es war ein für mitteleuropäische Verhältnisse wunderschöner Sommertag: Wolken, leichter Wind, etwa 26 ° C; für Griechen in Griechenland allerdings fast zu kühl für August. Kein Badewetter. Elvira war schon seit zwei Wochen in Korinth. Fast jedes Jahr besuchte sie mit ihrem Mann Petros seine Schwester Sophia. Deren Kinder waren schon längst aus dem Haus und hatten eigene Familien gegründet. Deshalb war genug Platz, um ein paar Wochen in den Schulferien bei ihr zu verbringen.

Elvira beschloss, ein bisschen zu wandern. Sie packte einen kleinen Rucksack mit etwas Geld, Handy, und einer Flasche Wasser. Dann nahm sie ihre Nordic-Walking-Stöcke, legte alles auf den Rücksitz ihres kleinen Fiat und fuhr los.

Schon letztes Jahr hatte sie in einem kleinen Tal eine alte Wasserleitung auf einer Steinbrücke – „entdeckt“, die ein nun ausgetrocknetes Flussbett überspannte und unzweifelhaft römisch sein musste. Leider hatte sie das Aquädukt bisher nur im Vorbeifahren von der Straße aus gesehen. Heute wollte sie es sich genauer anschauen, da es nicht so heiß war. Nach einigem Suchen fand sie auch eine kleine asphaltierte Straße, die zu dem etwa 20 Meter tiefer gelegenen Flussbett führte und daran entlang lief. Bald sah sie auch das ganze Aquädukt in aller Pracht vor sich. „Eindeutig römisch, 1. Jahrhundert vor Christus“, murmelte sie ironisch, denn sicher war sie sich nicht. Die großen Steine, aus denen das Bauwerk bestand, sahen sehr regelmäßig aus und waren noch kaum verwittert.

 ‚Hätte ich vor 25 Jahren etwas von den vielen archäologischen Schätzen Griechenlands gewusst, wäre ich vielleicht Archäologin geworden statt Lehrerin.’ Aber damals hatte sie sich nicht so sehr für die alten Griechen interessiert, eher für einen jungen – ihren späteren Mann Petros. Wie dem auch sei, die alte Wasserleitung mit Brücke, die über den Fluss gebaut war, musste einfach von den Römern gebaut worden sein, denn Korinth hatte zwischen dem 2. Jahrhundert vor Christus und dem 3. Jahrhundert nach Christus zum römischen Reich gehört.

Elvira parkte an einer Ausbuchtung des Sträßchens, nahm ihren Rucksack und marschierte los. Unterwegs schoss sie mindestens 40 Bilder, die das Bauwerk von allen Seiten und Entfernungen zeigten.

Nachdem sie alle Fotos auf dem Handy angesehen hatte, verstaute sie hoch zufrieden die Kamera wieder im Rucksack. Sie wanderte zurück durch das ausgetrocknete Flussbett und stellte sich vor, dass es im Winter sicherlich wie ein ganz normaler Fluss aussah, mit Wasser gefüllt, das in das nahe gelegene Meer mündete.

Viele verschiedene Pflanzen wuchsen hier: Grüne Sträucher mit kleinen harten Früchten, Kletten, wilde Olivenbäumchen und aromatisch duftende Kräuter. Neben einem Stein entdeckte sie eine Eidechse, die sich sonnte, und überlegte kurz, ob sie sie fotografieren sollte, doch da war das Tierchen schon hastig raschelnd zwischen trockenem Strauchwerk verschwunden.

 

Plötzlich hörte sie das Zuschlagen einer Autotür. ‚Das wird doch nicht meines sein? Da in der Nähe habe ich doch geparkt. Diesen großen Felsbrocken hier hab’ ich vorher von oben gesehen’, schoss ihr durch den Kopf. ‚Nein, ich habe es doch ganz bestimmt abgesperrt.’ Dann konnte sie Stimmen hören. Zwei Männer unterhielten sich. ‚Es werden wohl Bauern sein, die nach ihren Weinstöcken sehen’, dachte Elvira und ging weiter. Da hörte sie von oben die Stimmen wieder. Sie unterhielten sich über Fernsehgeräte und Computer.

Als sie an einer nicht so steilen Stelle das Ufer hoch gestiegen war, erkannte sie in der Nähe ihres Autos einen Lieferwagen, wie ihn Handwerker oft benutzten. ‚Gut, dass ich meinen Wagen gleich in Richtung Straße geparkt habe; jetzt wäre das Wenden etwas schwierig.’ Beim Weitergehen bemerkte sie, dass die beiden Männe etwas unfreundlich auf ihren Kleinwagen schauten und sie anscheinend erwarteten. ‚Ich habe doch am Rand geparkt, sie können mit Leichtigkeit an meinem Auto vorbei fahren’, dachte sie etwas beunruhigt. Als sie sich  dem fremden Wagen näherte, dessen Hecktüre offen stand, bemerkte sie aus den Augenwinkeln ein großes Fernsehgerät, einige Computer und andere große Elektrogeräte. ‚Das kommt mir aber komisch vor, ich tu lieber so, als hätte ich nichts gesehen. Doch das Athener Autokennzeichen versuche ich mir einzuprägen.’ Nun war sie nur noch einige Meter von den beiden Männern entfernt.

‚Am besten stelle ich mich ein bisschen naiv und spreche englisch mit ihnen’, überlegte sie schnell, denn es war irgendwie völlig klar, dass sie nicht einfach wortlos in ihr Auto steigen und wegfahren konnte.

„Jassou“, grüßte sie höflich-harmlos die beiden. Sie drehte sich halb zu dem Aquädukt um und zeigte freudestrahlend darauf. „Very old, hm?“ – „Yes, very old“, brummelte einer der beiden Fremden. Er war etwa so gekleidet wie ein Soldat, in einer Art Tarnanzug in verschiedenen Grün- und Brauntönen. „Not come here alone“, fügte er noch hinzu und machte durch Gesten deutlich, dass hier auf Tiere geschossen wurde.

 „Okay“, murmelte sie angestrengt freundlich, verstaute ihre Habseligkeiten und fuhr davon.

Als sie nach einigen Kilometern die ersten Häuser des nächsten Dorfes erreicht hatte, parkte sie am Straßenrand und ließ sich diese seltsame Begegnung durch den Kopf gehen. Eigentlich war sie ein bisschen zittrig und hatte etwas Angst bei dieser Begegnung gehabt. Gut, dass die Männer das nicht gemerkt hatten! Waren diese beiden harmlos, oder hatte sie es mit Dieben oder Hehlern zu tun gehabt, die dort an der vermeintlich einsamen Stelle ihre Beute begutachteten?

Sie notierte sich das Autokennzeichen auf einem Zettel, den sie im Rucksack verwahrte.

Zu Hause angekommen rief sie Petros an, der erzählte, dass er fast alleine am Strand sei – jede Menge Platz, den Griechen sei es zu kalt und sie solle doch auch kommen.

Später im Meer erzählte sie ihm ihr Erlebnis. Da fiel ihm ein, dass ein ehemaliger Mitschüler, Pavlos, bei der Polizei arbeitete. Vielleicht könnte der mit dieser Information etwas anfangen.

So war es auch auch. Es stellte sich heraus, dass die Polizei die beiden Männer schon seit längerem im Visier gehabt hatten. Nun hatten sie endlich den Beweis und die Autonummer. Es waren tatsächlich Hehler, und die Diebe würden sie sicher auch noch finden.

Aber allwissend war Elvira nicht: das Aquädukt war nicht antik, sondern wurde erst im 19. Jahrhundert erbaut.