Adam Keller stand morgens vor dem Spiegel im Bad, rasierte sich und kämmte dann sein schütteres dunkles Haar. Vor kurzem war er 55 Jahre alt geworden und dachte seitdem oft über sich und sein Leben nach:

Ich würde ja mein Leben als Lehrer gar nicht aushalten, wenn ich nicht am Nachmittag meine Fische und meine Bücher hätte. Diese Jugend von heute: frech, faul, oberflächlich! Zum Beispiel dieser Florian mit seinem dämlichen Grinsen, das er für alle meine Fragen hat. Und sein Vater soll auch bei mir zur Schule gegangen sein, vor 20 Jahren? Ich kann mich nicht erinnern – kein Wunder, es müssen schon um die 2000 Schüler gewesen sein, die ich hier im Gymnasium unterrichtet habe. Und wenn er so wenig wusste wie sein Sohn, war er mir sicher nicht besonders aufgefallen.

Die Kollegen aus der Schule gehen jetzt regelmäßig im Grunewald joggen. So ein Quatsch! Das ist mir zu albern, und mit meinem Gewicht von 78 kg bin ich ganz zufrieden. Außerdem haben sie gar nicht gefragt, ob ich auch mitkomme. Ich will das sowieso nicht. Lieber Abstand halten!

Wie wäre es wohl, wenn ich verheiratet wäre? Dann würde aber die kleine 2-Zimmer-Wohnung nicht reichen, die ich mir so bequem und gemütlich eingerichtet habe. Ich hätte auch nicht so viel Geld für meine Bücher und Fische übrig. Außerdem stellt eine Frau ständig Ansprüche und verlangt Aufmerksamkeit und Zuwendung. Sie würde es in einer Wohnung ohne Fernseher wahrscheinlich auch gar nicht aushalten. Da muss den ganzen Tag etwas plappern, das sehe ich doch bei meinen Kolleginnen.

Und das mit dem Fernglas würde einer Frau auch nicht passen, kann ich mir vorstellen. Obwohl es ja an sich völlig harmlos ist: ein bisschen nachts am Fenster stehen und gucken. Sehr interessante Beobachtungen manchmal, muss man schon sagen. Und wenn man dann die Leute noch kennt, so wie die im Haus gegenüber! Also einen Fernseher brauche ich da wirklich nicht!

Aha, jetzt höre ich das Klappern des Briefkastendeckels. Mal sehen, wer mir schreibt. Außer Werbung und Rechnungen habe ich ja schon lange keine richtige Post mehr bekommen.

 

Was ist denn das? Von der Polizei? Ich habe doch gar kein Auto, mit dem ich falsch parken oder zu schnell fahren könnte. Seltsam. Ob ich den Brief gleich aufmache?    Er öffnete den Umschlag:

Vorladung zu einer Vernehmung

Sehr geehrter Herr Keller,

Sie werden gebeten, am Dienstag, den 3. Mai um 8 Uhr 30 im Polizeipräsidium Berlin-Nord in Zimmer 14 zu erscheinen.

 

Was soll denn das? Eine Vorladung? Das heißt, irgendjemand …  Nein, ich habe doch so aufgepasst, es kann mich niemand gesehen haben. Oder doch die Frau von gegenüber? Ich hätte schwören können, dass sie es nicht bemerkt hat, dass ich genau in ihr Schlafzimmer sehen kann. Entweder besitzt sie keine Vorhänge, oder sie will sie nicht zuziehen, dann braucht sie sich auch nicht zu wundern, wenn man ihrem Treiben zusieht. Treiben, genau das richtige Wort dafür. Keine Moral, diese jungen Dinger. Wenn ich mir vorstelle, dass unsere Schülerinnen zum Teil auch in dem Alter sind …

Das bringt mich auf eine Idee. Vielleicht haben mich auch Eltern von Schülern angezeigt. Sind ja so zimperlich, was ihre Sprösslinge anbelangt. Man darf gar nichts mehr zu ihnen sagen, geschweige denn sie berühren! Na, ich werde es ja am Dienstag erfahren. Aber wie regle ich das mit der Schule? Ich kann doch meinem Chef unmöglich sagen, dass ich zur Polizei muss.

Dann melde ich mich eben mal krank, wie meine werten Kollegen und Kolleginnen das auch immer tun.

 

Irgendwie schwant mir nichts Gutes.