Vor einiger Zeit besuchte ich meine Cousine Marianne. Sie lebt in Oberbayern, südlich von München.
In ihrem Ort ist immer etwas los. Manchmal spielen sich dort seltsame Begebenheiten ab. Bisweilen denke ich, dass sie die Erzählungen aus irgendwelchen Büchern auswendig kann. Die Geschichte, sagte sie, sei wirklich wahr. Sie legte eine Hand auf ihr Herz – die andere Hand war an ihrem Rücken. Lügen tut sie nicht, das ist gegen ihre Religion, findet sie.
Marianne hat einen Hang zu tratschen. Doch wenn sie das so sagte, was sie mir schilderte, denke ich, dass die Geschichte wahr ist:

Im Hochsommer letzten Jahres, als es sehr heiß war, hatten junge Leute in einer Wohnung in einem Mietshaus zusammen gefeiert und tranken natürlich jede Menge kühle Getränke. Mit fortgeschrittenem Abend wurden sie übermütig und hatten eine Wette abgeschlossen. Sie wussten nicht, um welche Wette es sich handelte, nur der Gastgeber. Jeder Bursche und jedes Mädchen zog ein Streichhölzchen. Wer das Kürzeste bekam, musste angekleidet mit  Skiausrüstung und Skiern die Treppe im Haus hinunterrutschen. Als der Auserkorene gerade beim Treppenrutschen war und einen fürchterlichen Krach veranstaltete, schreckte eine Hausbewohnerin von dem Lärm auf und machte einen Schritt zur Wohnungstür hinaus. Der „Skifahrer“ rannte die Frau um, sie verletzte sich und kam ins Krankenhaus.
Am nächsten Tag, als die jungen Leute alle wieder nüchtern waren, tat ihnen leid, dass die verunglückte Frau – Frau Obermeier – ins Krankenhaus kam. Sie beschlossen, ihr einen Blumenstrauß in die Klinik zu bringen.
Als sie an der Pforte im Krankenhaus nach Frau Obermeier fragten, antwortete die Angestellte, dass sie heute erst hier angefangen hätte. Sie blätterte und suchte, in welchem Zimmer Frau Obermeier liege.
„Ah ja, die Frau Obermeier kam heute leider in die Nervenklinik nach Haar.“
„Warum das?“ fragte der Übeltäter.
„Die Frau Obermeier hatte ständig gesagt, ein Skifahrer habe sie umgefahren.“
Der Missetäter fuhr mit zwei Freunden nach Haar und suchte den diensthabenden Arzt.
Es dauerte ziemlich lang, die Sache aufzuklären. Der Skifahrer gestand den Ärzten, dass das Ganze eine feucht- fröhliche Wette war.
Am nächsten Tag wurde Frau Obermeier entlassen, und die Missetäter brachten ihr einen wunderschönen Blumenstrauß nach Hause.

© E.J.-K.

Nov. 2020