Warten ...

auf die Pause ...

auf den Feierabend ...

auf das Wochenende ...

auf den Jahresurlaub ...

auf die Pensionierung ...

Der müde alte Witz, so abgeleiert wie alles und alle hier: Das Robinson-Spiel – Warten auf Freitag.

Immer wieder. Hamsterrad.

Ich glaube, ich muss mal.

Der Fischer guckt schon wieder so missbilligend – muss ich denn wirklich? Tja, muss ich wirklich? Weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht sind es ja tatsächlich nur die paar Minuten Nicht-Arbeit, auf die ich‘s anlege – aber ich weiß es selber nicht mehr, ehrlich. Ich will nicht wirklich schwänzen oder so. Ich muss einfach. Glaube ich. Waswower bin ich eigentlich – was will ich hier? Wo ich nicht mal mehr selber weiß, ob ich aufs Klo muss ...

Und was geht es überhaupt den Fischer an. Er ist ja nicht mal mein Chef. Noch nicht. Und den Chef selber interessiert es überhaupt nicht, ob einer wie ich aufs Klo geht oder nicht.

Ich gehe trotzdem.

Die Gänge. Diese entsetzlichen Gänge.

Was daran so entsetzlich ist?

Nichts.

Ein ganz fürchterliches Nichts. Grauweiß und betönern und sparlichtgrell. Und alle Gänge immer überall gleich. Endlos. Leer und gierig. Könnten mich spurlos verschlucken, und keiner würde es merken.

Ach was, ich spinne mal wieder. Es ist hell und warm und trocken hier. Was will ich eigentlich?

Einen Tag frei, zum Beispiel? Ach was, bringt doch auch nichts. Nicht mal, wenn ich was anderes außer Fernsehen machen würde. Ein freier Tag ist auch nur ein Tag zwischen zwei Arbeitstagen. Die endlosen Gänge lauern geduldig. Sie kriegen mich ja doch.

Wenn sie mich kriegen, wie sich das wohl anfühlt? Wie der Überfall eines wilden Tiers – der er-schreckende Sprung, der brutale Prankenschlag, der Schmerz beim Biss – oder ob man es überhaupt nicht mehr merkt, ganz schmerzlos, gelassen, wie beim Erfrieren, man rutscht einfach rüber, freiwillig beinahe, ohne sich zu wehren ... Oder vielleicht haben sie mich sowieso schon gekriegt ...

Okay, ich bin verrückt. Anfallsweise. Was bleibt mir anderes übrig? Ich wäre ja noch verrückter, wenn ich es nicht hin und wieder werden würde. Hier. Wo alles so zivil seinen Gang geht, wo alles und jeder seinen sorgfältig gestalteten Platz hat. Zum Arbeiten.

Zum Kotzen.

Ich muss was tun. Irgendwas. Irgendwas Wirkliches. Sonst werde ich noch verrückt.

Schlimmer. Sonst werde ich noch so wie hier.

Irgendwoher der Funke: Martins weiße Mäuse vielleicht ....

Sie waren mal Versuchsmäuse; vermutlich was nicht ganz so Schlimmes, sonst wären sie jetzt nicht so munter, aber eben – Laborkreatur. Wie mein Job, irgendwie. Letzten Endes kann ich froh sein, gutes Geld und geregelte Arbeitszeit, und es gibt schließlich 'ne Menge Malocher, die haben's verdammt viel schlechter, und die, die gar keinen Job haben, denen geht‘s sowieso beschissen ... Das System ist sehr effektiv.

Aber heute lass ich die Mäuse raus. Einfach so.

Mal sehn, was passiert. Irgendwas wird passieren, bestimmt. Sie passen nicht hierher, diese Mäuse. Ganz einfach bloß: weil sie so lebendig sind. Und hier ist nichts lebendig, sonst. Es ist auch nicht unbedingt tot. Das zählt hier nur einfach nicht – lebendig oder tot. Hauptsache es funktioniert. Hier sind wir alle Zombies – ach naja, vielleicht auch nicht. So dramatisch ist es überhaupt nicht. Es ist bloß – einfach so.

Aber jedenfalls wird was passieren. Irgendwas, was man nicht vorher weiß, was man nicht berechnen kann. Leben.

Es sind drei. Die eine ist weiß mit roten Augen; die zweite ist auch weiß, aber mit blauen Augen – ich wusste gar nicht, dass Mäuse blaue Augen haben können. Und die dritte hat ein paar graue Flecken, und schwarze Knopfaugen. Eigentlich ist drei fast zuwenig, aber vielleicht vermehren sie sich – soll ja sehr schnell gehen, bei Mäusen. Obwohl ich nicht mal weiß, ob sie Männchen oder Weibchen sind. Ich will auch gar nicht nachschauen. Unwissenschaftlich, irgendwie – aber es ist doch ihre Privatsache, ihr Intimbereich. Und andere Mäuse habe ich sowieso nicht.

Heute morgen habe ich sie rausgelassen. Bis jetzt ist noch nichts passiert. Es hat sie noch keiner gesehen. Ich weiß im Moment auch selber nicht, wo sie sind. Drei so winzige Mäuse in so einem riesigen Büro ...

Vielleicht hätte ich ihnen Peilsender mitgeben sollen oder sowas, dann könnte ich ihre Wege verfolgen – aber nein, das ist nur wieder so eine von diesen Ideen. Die gar keine Ideen sind, nicht von mir. Das ist genau die Sorte von Sachen, die einem hier einfällt.

Irgendwie bekomme ich Angst, dass einer auf sie tritt. Könnte ja passieren. Sie sind so klein. Und alle rennen hier so schnell. Und keiner schaut nach unten. Das könnte wirklich so leicht passieren, dass einer auf sie drauftritt. Dann wäre ich verantwortlich dafür. Dabei wollte ich doch bloß – jedenfalls wollte ich auf keinen Fall, dass ihnen was Schlimmes passiert. Ich hoffe bloß, sie sind schnell genug, schlau genug.

Und ich hoffe, sie finden das Futter, das ich ihnen heimlich hinstreue. Hier im Büro gibt es ja sonst nichts. Die Pflanzen sehen alle künstlich aus. Und wenn sie nicht künstlich sind, dann sind sie vermutlich giftig. Wahrscheinlich könnte eine Maus sich sowieso nicht von einem Gummibaum ernähren. Oder würde sie dann Gummibälle kacken? Aber nee, das ist nicht witzig ...  die armen Mäuse, die hier zwischen all den teuren Sachen glatt verhungern würden, qualvoll verenden ...

Krümel gibt es nämlich auch nicht; nicht mal mehr Kaffee dürfen wir am Schreibtisch trinken, wegen der Rechner. Weil ein paar Kekskrümel oder ein Schluck Kaffee auf der Tastatur schon einen wahnsinnigen Schaden anrichten können – Kurzschluss, Chaos, oder sogar Rechner kaputt. Und das darf natürlich nicht sein.

"Hey!" – Das war der Fischer. Total verblüfft. Das könnte es sein – die erste Sichtung?

"Also sowas", er schnaubt ein bisschen, das heißt bei ihm lachen. "Jetzt seh ich doch glatt weiße Mäuse. Echt, das hat genauso ausgesehen wie eine weiße Maus."

Ich bin gespannt, was er ansonsten zu der Maus sagt, der Fischer. Aber er hackt schon wieder auf die Tasten ein. Und pusht die Rechnermaus wild herum.

Ich schieße ihn an: "Eine Maus? Eine echte, lebendige Maus?"

Er wirft mir einen ärgerlichen Blick zu: "Was? Maus? Ach was, natürlich nicht. Wo soll denn hier eine Maus herkommen? Und noch dazu eine weiße. Das ist doch Blödsinn. War halt irgendsoein Lichtreflex oder was." Hackt weiter.

Arme Maus. Sie ist nicht da, weil sie nicht da sein kann. Und nicht da sein darf. Was muss eine Maus mit dem Fischer eigentlich machen, damit er an sie glaubt? Ihn in den Hintern beißen? Aber wahrscheinlich würde er dann sagen, es war eine Nadel. Weil eine Nadel wahrscheinlicher ist. Er-klärbar. Eine Nadel ist immerhin ein technischer Gegenstand. Sie könnte sich durchaus nachvoll-ziehbar in einen Prozess eingefädelt haben, der Bürostühle produziert. Ich wünschte, alle drei Mäuse würden Fischer in den Hintern beißen. Aber das ist natürlich enorm unwahrscheinlich...

Jetzt das zweite "Hey!", von einem anderen. "Also – also das hat wirklich wie eine Maus ausgesehen! `ne echte weiße Maus!"

"Mit blauen Augen, oder mit roten?" frage ich. Das ist eine durchaus vernünftige Frage, und würde der eindeutigen Identifizierung dienen. Aber das kapiert wieder mal keiner. Verrückt, glauben sie. Also ignorieren sie. Mich und die Mäuse.

Langsam aber sicher weitere "Hey!"s. Sie sind alle ziemlich verwirrt. Sie bauen auf knallharte Üblichkeiten. Einerseits haben jetzt schon zehn Leute oder so eine weiße Maus gesehen – andererseits gibt es sowas doch hier nicht. Ja. Nein. Kann doch nicht sein?!

Fischer, natürlich, findet die Antwort. Es darf und kann und soll nicht sein, und deshalb wird er dafür sorgen, dass es auf jeden Fall bald nicht mehr ist. Er hat einen Kammerjäger-Service angerufen. Morgen um sieben rücken sie an.

Ich habe mich geirrt. Es muss nichts passieren. Nicht wirklich. Nicht hier, nie. Sie haben sich dagegen abgeschottet, ganz effektiv. Sie sorgen dafür, dass nichts passiert.

Kammerjäger. Was für ein absurdes, dummes, lustiges, fürchterliches Wort. Es gibt keine Kammern mehr. Aber Jäger. Und den Tod, natürlich. Beseitigen. Ich weiß nicht, wie sie heutzutage so-was machen – mit Chemie, wahrscheinlich, oder mit Strom – Rattengift, Hochspannung ... Wenn sie wenigstens eine Katze dafür nehmen würden, oder einen Mäusebussard ...  Im Endeffekt kommt es natürlich auf das gleiche raus, tot ist tot. Aber Endeffekt ist eben zuwenig. Für die Katze ist die Maus immerhin noch was Wichtiges; für Fischer und seine Kammerjäger ist sie nur noch – ein Faktor. Ein zu eliminierender. Sie werden methodisch an die Arbeit gehen und meine Mäuse eliminieren.

Nein, das kann ich nicht zulassen. Ich bin für sie verantwortlich. Ich habe die Mäuse reingeschmuggelt in dieses Büro; und was immer sie getan haben, sie können nichts dafür. Und sie haben ja nicht mal was getan, nichts Schlimmes, nichts, worüber der Fischer sich beklagen könnte. Ihr einziges Verbrechen ist, dass sie da sind. Da wo sie nicht hingehören. Meint der Fischer.

Und daran bin ich schuld. Also muss ich was machen. Rückgängig.

Mir fällt nur ein, die Mäuse in den gleichen Karton zu stecken, in dem ich sie hergebracht habe, und sie wieder mit nach Hause zu nehmen.

Dazu muss ich sie erstmal wieder einfangen. Wenn alle anderen weg sind.

Also warten. Bis auch der letzte gegangen ist. Immerhin gibt es keine bessere Ausrede in unserer Welt als Überstunden.

Es ist schwierig, den Fischer auszusitzen. Dauernd schielt er misstrauisch rüber zu mir und schaut auf die Uhr. Aber er weiß sowieso nie, was wirklich los ist. Wenn ich konzentriert über meine Arbeit nachdenke und dabei vor mich hinstarre, fragt er mit dieser süßsauren Reinhau-Fresse: Na, wieder mal Urlaubsträume? Und wenn ich in der Gegend herumträume und dabei vor mich hinkritzle, dann nickt er beifällig und denkt, ich schufte. Auch jetzt weiß er nicht, was los ist; eigentlich interessiert es ihn ja auch gar nicht.

Endlich. Der Fischer geht.

Aber Mantel und den Aktenkoffer lässt er da. Mist. Bloß aufs Klo. Selbst einer wie der Fischer muss manchmal aufs Klo.

Auf jeden Fall muss ich die Zeit nutzen.

Eine habe ich erwischt, die war zu langsam. Die mit den blauen Augen. Vielleicht machen blaue Augen lebensuntüchtig. Obwohl es ja eigentlich gut für sie ist, wenn ich sie erwische, jetzt. Aber das kann sie schließlich nicht wissen. Sie kratzt ärgerlich im Karton herum; wenn ich die anderen beiden nicht schnell finde, oder der Fischer kommt zurück, dann nagt sie sich wieder frei. Ich sollte sie in eine Schublade sperren. Aber irgendwie bringe ich das nicht fertig – Maus rein, Schublade zu. Dass man sowas machen kann. Mit uns. Also lasse ich sie kratzen. Vielleicht werde ich sie Kratzi nennen.

Es ist wirklich nicht einfach, Mäuse zu fangen. Schließlich bin ich keine Katze. Ich bräuchte – Werkzeuge, Fallen – aber es muss auch so gehen. Ich durchsuche Papierkörbe, krieche unter Schreibtische – da, der Schreibtisch da drüben – ein Rascheln – da huscht doch was –

Noch ein Geräusch – aber es ist bloß Fischer, der vom Klo zurückkommt.

"Was machen Sie denn da unten?" Aus seinem Ton wird deutlich, dass ihm diese Krabbelei sogar bei einem Insekt wie mir merkwürdig vorkommt. Ich entscheide mich für die Wahrheit, oder zumindest den aktuellen Teil davon: Ich jage Mäuse.

Ihn interessiert natürlich nur eins: "Und, haben Sie sie erwischt?"

Ich hoffe bloß, er hört das Kratzen im Karton unter meinem Schreibtisch nicht.

Nein, er hört es nicht, er redet laut: "Wissen Sie, bei so einer Maus, da muss man sehr schnell und geschickt sein. Lassen Sie mich mal -"

Ich zucke die Achseln und lasse ihn. Unter den Schreibtisch krabbeln. Wenn er doch unbedingt will...

"Warten Sie mal", er schnauft eifrig, "seien Sie mal ganz still, mucksmäuschenstill sozusagen, damit ich hören kann, ob da was huscht – da muss man ganz still sein, nicht mal bewegen darf man sich, damit man das hören kann."

Ich sage sowieso nichts. Jetzt ist auch er still – und wir hören es beide, das Rascheln.

"Da", sein Jagdinstinkt kocht, "da ist sie, da irgendwo hinter den Kabeln da – wenn ich die beiseite schiebe – da müsste sie –"

Er schreit. Irre. Entsetzlich. Bäumt sich auf.

 

Ich bin gegangen. Nichts mehr zu machen. Mausetot. Er hätte das angeknabberte Kabel nicht anfassen dürfen. Nicht ausgerechnet an der blanken Stelle. Die Kammerjäger werden ihn finden, morgen früh.

 

© Henrietta Hartl