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In der Dunkelheit des Dezembernachmittags schimmerten in mattem Rot die leicht lückenhaften Buchstaben:
. aushaltswaren .achgeschäft Meyer
Drinnen herrschte geschäftiges Treiben. Die Saison-Aushilfskräfte wuselten hin und her und versuchten verzweifelt, genau die Tasse zu finden, die in Omas Schrank passte, oder „irgendwas Nettes für die Küche“ für Tante Erna, oder den Kochtopf, der auf jeden Fall eine ganz bestimmte Marke sein musste – aber welche, das hatte der Kunde vergessen…
Nur in einem Hinterzimmer, das man über ein paar verwinkelte Halbtreppchen erreichen konnte, war es ruhig. Hierhin hatte der Geschäftsführer vorübergehend diejenigen Artikel ausgelagert, von denen er sich im Weihnachtsgeschäft nicht viel versprach. Nützliche, aber nicht sehr dekorative und teilweise auch schon etwas angestaubte Dinge, die wahrscheinlich niemand zu Weihnachten kaufen und schenken würde.
„Einfach abgeschoben hat er uns“, beschwerte sich ein Dichtungsring für Schnellkochtöpfe.
„Sei doch froh, hier hinten haben wir es wenigstens ruhig und gemütlich“, brummte ein dicker alter Einkochtopf. „Da vorne im Laden ist ja echt der Teufel los.“
Ein Eierschneider zirpte: „Aber es sieht dort wunderschön aus – alles ist geschmückt, mit Goldpapier und roten Schleifen und so, und sie spielen Musik... Und die Sachen da werden fast alle gekauft, weil so viel los ist...“
Ein kleiner Tretmülleimer schnaufte verächtlich. „Du bist wohl auch einer von den Naivlingen, die sich einbilden, gekauft zu werden wäre das allergrößte Glück, was?“
„Na, jedenfalls besser als hier rumstehen und Staub ansetzen, und dann irgendwann verramscht werden“, meinte ein bauchiger Keramik-Aschenbecher, der tatsächlich schon einen ziemlich dicken, flaumigen grauen Rand aus Staub angesetzt hatte.
„Wir haben dieses dämliche Weihnachtszeug doch nicht nötig“, erklärte der dicke Einkochtopf bestimmt.
„Was ist denn eigentlich Weihnachten genau?“ fragte der Eierschneider schüchtern. „Ich meine, ich weiß, dass es ist, wenn die Leute ganz viel kaufen – aber neulich habe ich gehört, wie einer gesagt hat, Weihnachten ist viel mehr als nur Geschenke kaufen…“
„Weihnachten ist, wenn ein dicker roter Mann „hohoho“ ruft. Er fliegt dann mit einem Rentierschlitten durch die Luft, quer über die ganze Erde, und er hat einen Sack. Das habe ich schon oft gehört“, erklärte der Dichtungsring.
„Blöde Geschichte“, maulte der kleine Tretmülleimer. „In Wirklichkeit geht es doch um die Tannenbäume. Die fliegen in alle Häuser –„
„So ein Quatsch“, blubberte der Dichtungsring, „das weiß doch jeder, dass Tannenbäume nicht fliegen können.“
„Und warum haben sie dann jetzt überall Tannenbäume in den Häusern, häh?“ giftete der Tretmülleimer zurück. „Da reden sie doch alle davon. Und wie sollen die dahinkommen, wenn sie nicht fliegen?“
„Das ist doch überhaupt ganz anders“, dröhnte der Einkochtopf. „Weihnachten ist, wenn um Mitternacht alle Tiere und alle Gegenstände sprechen können, so wie die Menschen.“
„Toll!“ meinte der Eierschneider beeindruckt. „Dann können wir um Mitternacht mit den Menschen reden?“
„Nee danke“, winkte der Tretmülleimer ab, „also, dieser fette Typ mit der Glatze, der mich hier rübergeschleppt hat, was sollte ich dem denn sagen – dass er eklige Schweißfinger hat? Oder diese dämliche Tussi, die nie irgendwas findet und immer an uns rumzerrt und uns hin- und her schubst – also nee, Menschen – mit denen muss man nicht auch noch reden. Und außerdem sage ich doch, es geht um die Weihnachtsbäume. Da fliegen dann Engel drumherum, und einer setzt sich auf die Spitze –“
„Also, wer fliegt denn nun, die Tannenbäume oder die Engel, oder was?!“
Bevor die Stimmung zwischen dem Dichtungsring und dem Tretmülleimer noch feindseliger werden konnte, meinte der staubige Keramik-Aschenbecher rasch:
„Es gibt da noch so eine andere Geschichte, von einem kleinen Kind, das in einem Stall geboren wird, und dann liegt es in der Krippe, und die Tiere stehen drum herum, und die Engel jubilieren, und es ist Gottes Sohn.“
„Die Geschichte klingt schön!“ piepste der Eierschneider.
„Aber das war doch schon vor ganz ganz langer Zeit“, brummte der dicke Einkochtopf. „Und es war auch ganz ganz weit weg von hier. Hat nix mit uns zu tun. Wie alle diese komischen Geschichten. Von den Menschen. Weihnachten. Hah.“
„Und sie lassen uns ja sowieso nicht mitmachen“, flüsterte der Eierschneider betrübt. „Das Weihnachtsgeschäft ist ja da vorne, und wir sind hier hinten…“
„Wir haben Weihnachten auch überhaupt nicht nötig“, erklärte der Einkochtopf fest.
„Das stimmt, diese ganzen Weihnachtsgeschichten sind doch zu blöde“, meinte der Dichtungsring.
„Halt Menschenzeug“, schepperte der Tretmülleimer verächtlich.
Rundum gab es zustimmendes Schnauben und Seufzen.
"Nix für uns", bekräftigte der Einkochtopf.
Am Weihnachtsabend kehrte im ganzen Geschäft Stille ein. Der letzte Kunde war gegangen, die Verkäufer hatten noch schnell ein bisschen aufgeräumt, sie hatten kurz miteinander mit einem Glas Sekt angestoßen, und dann waren alle nach Hause geeilt.
Es ging auf Mitternacht zu. Irgendwo fingen Glocken an zu läuten.
"Jetzt ist also richtig Weihnachten", zirpte der Eierschneider ein wenig traurig. "Jetzt feiern sie alle..."
"Wahrscheinlich schmeißen die Sachen im Geschäft vorne jetzt auch eine Party", spekulierte der Dichtungsring, "die haben ja die tolle Dekoration und alles. Nicht wie wir abgeschobener Kram hier hinten", fügte er bitter hinzu.
Der Einkochtopf räusperte sich ein paarmal. "Also – es ist ja nicht so, dass wir das nötig hätten, das möchte ich doch betonen – aber – merkt ihr es nicht auch?"
"Was denn?" fragte der Dichtungsring verständnislos.
Es gab ein dumpfes Geräusch. Der dicke alte Einkochtopf war ein Stückchen vorwärtsgeruckelt.
"Wir können uns bewegen", erklärte er nachdenklich, "vielleicht ist das, weil das jetzt die magische heilige Stunde ist – wo wir mit den Menschen reden könnten und so. Vielleicht können wir uns deswegen jetzt auch frei bewegen?"
Alle probierten es jetzt. Der Eierschneider robbte an der Tischkante entlang, der kleine Tretmülleimer hopste munter vorwärts, der Keramik-Aschenbecher rollte gefährlich nahe an die Regalkante – und rettet sich durch einen eleganten Sprung auf den Boden, den er ohne den kleinsten Sprung in seiner Glasur überstand. Sogar der skeptische Dichtungsring schlängelte sich eifrig durch das Regal.
Übermütig schlug der Keramik-Aschenbecher vor: "Los, gehen wir doch rüber zu den Weihnachtssachen vorne im Geschäft, dann können wir mitfeiern!"
"Naja", brummte der Einkochtopf, "wir können uns ja einfach mal anschaun, was die da vorne jetzt so machen..."
Und so setzte sich eine kleine Karawane in Bewegung. Der Tretmülleimer kam am schnellsten vorwärts und nahm großzügig den Dichtungsring mit auf den Deckel, so dass sich dieser nicht so langsam am Boden vorwärtsschlängeln musste. Der Einkochtopf nahm den Eierschneider huckepack, der ebenfalls nur langsam robben konnte, und der Keramik-Aschenbecher rollte vergnügt vor sich hin.
Als sie vorne angekommen waren, sahen sie sich um. Überall hingen noch die Dekorationen; goldene und silberne Sterne glitzerten. Aber die Weihnachtswaren standen müde und still herum.
"He", meinte der Keramik-Aschenbecher erstaunt, "ihr feiert ja gar nicht?"
Ein klappbares, fertiggeschmücktes Plastikbäumchen nuschelte: "Wir sind k.o., von dem ganzen Gelärme und Gezerre. Und überhaupt, dass wir hier übriggeblieben sind, ist ja auch nicht gerade ein Grund zum Feiern. Entweder werde ich jetzt verramscht, oder weggeschmissen – oder bestenfalls komme ich die nächsten elf Monate in irgendsoein kaltes, staubiges Lager."
Ein Schneebesen gurrte: "Naja, mich wollen sie im Januar wahrscheinlich auch noch – aber trotzdem, müde von dem ganzen Zirkus bin ich auch. Und was soll das überhaupt, dieses ganze Menschen-Zeug mit Weihnachten..."
"Genau", gluckste der Einkochtopf begeistert, "ganz meine Meinung! Das sind doch nur lauter blöde Geschichten, ganz meine Meinung!" Und er hopste dicht an den Schneebesen heran.
"Also, ich glaube, Weihnachten ist jedenfalls, wenn alle feiern, irgendwie...", piepste der Eierschneider schüchtern.
Niemand antwortete ihm, aber es ging ein leichter Ruck durch den Raum.
Der Dichtungsring schlängelte sich an einen Schnellkochtopf heran, der genau seine Marke war. Der Tretmülleimer hüpfte in Richtung eines hübschen kleinen Tischabfalleimers und bemühte sich, nicht so laut zu scheppern. Der Keramik-Aschenbecher beäugte interessiert eine moderne E-Zigarette, die anmutig in ihrer Geschenkverpackung thronte.
Dann trat die Lautsprecheranlage in Aktion und fing an, die 50 besten Christmas-Songs zu spielen. Die Lichterketten flammten auf, die E-Zigarette verteilte verschiedenen Duftnoten. Der Verkaufsraum hallte wider vom Geschnatter der feiernden Waren.
Sie feierten so wild, dass eigentlich die Alarmanlage ansprechen musste. Aber die entschloss sich, einfach mitzufeiern, schaltete sich in die Lautsprechanlage mit ein und machte den DJ für die wildesten Versionen der Christmas-Songs.
Und vor lauter Feiern verpassten sie alle das Ende der Mitternachtsstunde.
So kam es, dass die Verkäufer am Morgen des 27. Dezembers sich sehr wunderten. Sie waren ja eigentlich angerückt, um dem Ansturm der Umtauschwilligen entgegenzutreten. Aber nun mussten sie erst nochmal aufräumen – wie kamen denn bloß all die Sachen aus dem Hinterzimmer in den Verkaufsraum – und warum lag der Schneebesen neben dem Einkochtopf? Und die E-Zigarette im Keramik-Aschenbecher? Und warum ruhte ein kleiner Eierschneider im Schaufenster in der Pracht-Präsentpackung, die mit rotem Samt ausgeschlagen und mit goldenen Sternchen und Glas-Glitzersteinchen verziert war? Und die dazugehörige Kristall-Karaffe stand zwischen zwei goldverzierten Mokkatässchen auf dem Boden. Alles sehr seltsam...
Und die Lautsprecheranlage summte hin und wieder noch ganz ganz leise ein paar der richtig abgefahrenen Christmas-Grooves vor sich hin. Oo what a party!