Der Sturm hatte viele Stunden lang über dem Meer und der Küste getobt. Jetzt wurden die Windböen langsam schwächer, und der Regen ließ nach.

Er starrte aus dem Fenster und beschloss hinauszugehen. Das war jetzt genau die richtige Zeit.

Bevor er in seinen langen Regenmantel schlüpfte, ließ er noch einmal den Blick über die kleine Sammlung auf dem Beistelltischchen wandern.

Es war wie eine Landschaft, seine eigene Landschaft der Schönheit. Kleine weiß-gelbe Körnchen, dicke dunkelgoldene Tropfen, größere Splitter blassen Golds, ein kleines keilförmiges rotgoldenes Steinchen, gesprenkelt mit winzigen schwarzen Einschlüssen – und natürlich sein Prachtstück: Ein hühnereigroßer Klumpen, in dem sich Bereiche durchsichtigen Golds mit milchigem Gelb abwechselten, durchzogen von weißen, grauen und schwarzen Adern verschiedener Gesteinssorten.

Bernstein war wirklich wundervoll vielseitig.

Und er hatte das alles selbst gesammelt, selbst bearbeitet. Ganz behutsam bearbeitet, um den ursprünglichen Charakter des Bernsteins nicht zu verfälschen oder zu beeinträchtigen. Es gab ja sogenannte Kunsthandwerker, die die wildesten Sachen aus Bernstein bastelten, so als wäre ein Stück Bernstein nur ein Stück Plastik, oder Glas, aus dem man irgendeinen Modeschmuck fertigen konnte. Das fand er – respektlos. Er versuchte immer, die Bernsteinstücke, die er gefunden hatte, so natürlich wie möglich zu belassen, ihnen dabei aber zu ihrer vollen, strahlenden Schönheit zu verhelfen.

Nachdem er den Mantel zugeknöpft, einen Schal umgewickelt und die dicke Wollmütze aufgesetzt hatte, fuhr er mit der Spitze seines Zeigefingers sanft über ein ovales, goldenes Stückchen Bernstein. Er hatte es zu einem funkelnden kleinen Edelstein aufpoliert; nun sah es aus wie ein überirdisch köstliches Honigbonbon. Er hob es zwischen Daumen und Zeigefinger vorsichtig hoch und drehte es hin und her. Es funkelte im Licht der Wohnzimmerlampe – kleine tanzende goldene Flammen. Festes flüssiges Feuer. Eine wundervolle Kreuzung von Gold und Edelstein – das war Bernstein.

Dann legte er das Stückchen behutsam wieder zurück, streifte die Handschuhe über und verließ das Haus.

Draußen schlug ihm der immer noch starke, eisige Wind ins Gesicht. Dünne Regentropfen spritzten hart gegen seine Wangen.

Er wickelte den Schal noch etwas fester, schob die Schultern nach vorne und senkte den Kopf. Dann stapfte er los in Richtung Strand.

Es war kalt und nass und überhaupt scheußlich. Aber genau bei diesem Wetter, gegen Ende eines Sturms überm Meer – da hatte man die größten Chancen, Bernstein zu finden; vor allem zu dieser ungemütlichen Jahreszeit. Das waren die Wetterlagen, die oft Bernsteinklumpen hier an die Strände der Ostsee spülten. Und Schönwetter-Touristen waren jetzt auch nicht unterwegs, die ihm mit ihrem Anfängerglück womöglich die schönsten Stücke vor der Nase wegschnappen konnten.

Er war am Strand angekommen. Der Wind peitschte hier noch heftiger gegen sein Gesicht.

Er ging nun langsamer, den Blick in kreisförmigen Bewegungen über den Boden führend. Er hatte inzwischen viel Übung, aber es war immer noch schwierig. Für das ungeübte Auge sahen viele Brocken, die Bernstein enthielten, einfach wie wertlose Klumpen irgendeines dreckigen Gesteins aus. Selbst er bückte sich immer noch viele Male umsonst nach einem Stein – und erkannte dann, dass das einfach nur ein ganz gewöhnlicher Stein war. Dann waren da die Zweifelsfälle, die er einsteckte, um sie zuhause in Ruhe untersuchen zu können – das sah aus, als ob es Bernstein sein könnte, aber vielleicht war es auch etwas anderes. Die Quote war bei ihm inzwischen ungefähr 50 Prozent; früher hatte er sich sehr viel öfter geirrt und insgesamt vermutlich Tonnen von Steinen heimgeschleppt und dann weggeworfen.

Aber manchmal, ziemlich selten, war da etwas, das ihm auf den ersten Blick entgegenleuchtete, so das er wusste – das ist es. Ein Stückchen flammendes Gold. Magische Momente.

Manche Menschen konnten das nicht verstehen. Seine Ex-Frau – sie hatte lange geglaubt, dass Bernstein ein Edelstein war. Als er ihr dann mal erklärt hatte, dass es sich um geronnenes Harz handelte, war sie enorm enttäuscht gewesen – was, bloß so'n klebriges Zeug aus 'nem Baum?

Ihm ging es nicht um den materiellen Wert. Er würde auch nie eines seiner schöneren Stücke verkaufen. Das langweiligere Kleinzeug, das er immer wieder mal fand, brachte er manchmal zu einem Händler, der ihm dafür ein paar Euro zahlte. Aber das Wichtigste war dieses – Geschenk, das die Natur ihm machte, wenn sie ihm ein wundervolles Stück Bernstein zukommen ließ. Ein uralter Baum – viele Menschenalter – und dann das Meer, das ihm diesen einzigartigen Schatz vor die Füße spülte …

Trotzdem suchte er die Stücke mit einem gewissen Ehrgeiz. Der Gedanke, heute vielleicht ein besonders schönes Stück zu finden ­– besonders groß, eine besonders faszinierende Farbe oder Form – oder auch mal einen richtig aufregenden Einschluss, ein vollständiges Insekt oder so – ja, dieser Ehrgeiz war es schon irgendwie auch, der ihn immer wieder hinaustrieb in den eisigen Wind und Regen. Da war schon so eine Art Jagdfieber …

Fieber. Das ist ja krank, hatte seine Ex-Frau gemeint. Krank – dass er immer mehr Zeit mit der Suche nach Bernstein verbrachte. Dass er schließlich seinen Job aufgegeben hatte, das Haus in der Stadt – und hierher gezogen war, in die schäbige kleine Wohnung. Und dass er dann die besseren Stücke, die ihm wenigstens ein bisschen was gebracht hätten, nicht verkaufte. Flammendes Gold, hatte sie gehöhnt, na toll – du hast doch selber gesagt, dass es nur Harz ist – und dafür wirst du dann zum Penner. Sie verstand nichts, gar nichts. Trotzdem schmerzte es manchmal noch, wenn er an damals dachte, an ihre verrückten jungen Zeiten, an ihre Liebe – hatte sie ihn verlassen, weil er so verrückt nach Bernstein geworden war, oder war er so verrückt nach Bernstein geworden, weil sie ihn verlassen hatte … er wusste es nicht mehr, es hatte sich wohl auch irgendwie verflochten, und es war jetzt auch nicht mehr zu ändern, und er wollte jetzt auch gar nichts mehr ändern, er hatte ja jetzt dies hier. Das Meer und den Bernstein …

Während er sich einen Schwung Regenwasser von der Wange wischte, dachte er daran, dass er schon seit zwei Monaten keine Miete mehr gezahlt hatte. Irgendwann würde der Vermieter kommen und ihn rauswerfen. Und seine Bernstein-Sammlung …

Heftig wischte er auch über die andere Wange. Obwohl es sinnlos war. Kaum hatte er das Wasser entfernt, kam neues nach. Feiner, eisiger Sprühregen, wie Schrotkügelchen, die ihm die Windböen ins Gesicht trieben, und die auf seiner Haut zerplatzten.

Er konzentrierte sich wieder auf die Suche. Seine Augen tasteten den Boden ab – da war etwas Gelbliches – er versuchte das Wasser aus den Wimpern wegzuzwinkern – nein, doch nicht, das war nur ein dreckig-gelbes Steinchen. Noch ein paar Fehlalarme – aber das da, jawohl! Zufrieden wendete er das blassgelbe Körnchen hin und her. Klein aber eindeutig Bernstein.

Er fand noch zwei weitere, etwas größere Körner und entschloss sich schließlich, wieder umzudrehen. Der Regen hatte nun zwar aufgehört, aber der Wind fegte immer noch schneidend über den Strand, und er war inzwischen schon völlig durchgefroren.

Trotzdem hielt er den Blick auf den Boden geheftet; vielleicht hatte er ja auf dem Hinweg etwas übersehen.

Und plötzlich sah er es aus dem Augenwinkel – versteckt unter einem größeren Stein – tatsächlich – ein großer Klumpen!

Er bückte sich und hob das Stück auf. Es war nur leicht feucht. Verzückt lächelte er den Stein in seiner Hand an – sein Stückchen flammendes Gold!

Er zog die Handschuhe aus, fuhr mit den Fingerspitzen über die raue Oberfläche, fing an, den Stein trockenzureiben, wollte ihn in die Hosentasche schieben –

– die Flamme, der Schmerz, sein Schrei, noch schlimmerer Schmerz –

 

Phosphor, sagte der Arzt zu seinem Kollegen, Verbrennungen und Kreislaufkollaps. Sie betrachteten den bewusstlosen Mann im Bett der Intensivstation. Gibt's hier öfters, stammt noch aus dem zweiten Weltkrieg, alte Brandbomben. Sieht aus wie Bernstein, entzündet sich selbst, brennt irre heiß, und ist hochgiftig. Steht Spitz auf Knopf, ob er durchkommen wird. Tja, es ist nicht alles Gold was glänzt …