Den Supermarkt zu stürmen und ihn dann besetzt zu halten, das wäre natürlich viel einfacher, wenn ich Leute hätte. Ich meine, Leute unter meinem Kommando, in meiner Macht; Leute die machen, was ich ihnen sage. So einen Söldnertrupp, eine Gang. Aber so was hab ich nicht, und mit solchen würde ich eh nix zu tun haben wollen. Und die würden auch gar nicht auf mich hören.
Also muss ichs alleine machen. Passt mir eh am besten.
Geht auch. Man darf dann nur nicht so auf markig machen wollen. Sondern heimlichstillundleise, bis man die Sache abgesichert hat. Strategie, alles Strategie.
Sie haben zwei Tore: Eingang vorne, Liefereingang hinten. Beide elektronisch verrammelbar; simples System, krieg ich locker geknackt. Sonst nix, nicht mal Fenster. Ist eh ne ziemlich kleine Filiale, Innenstadt halt, jeder Quadratmeter scheißteuer, da überlegen die sich das dann schon sehr genau, ob die dreizehnte Sorte Schokolade für ihren Platzverbrauch noch genügend Profit bringt.
Also, Attacke auf die stille Art. Ich lass mich heute Abend einschließen. Ist natürlich in einem Supermarkt nicht ganz ohne; das wäre in einem Kaufhaus oder einem Möbelgeschäft oder einem Autohaus oder sonst was mit großen Brocken sehr viel einfacher. Hinter den Keksen oder zwischen den Joghurts kann man sich nicht so einfach verstecken. Aber für mein Drei-Stränge-Experiment muss es eben ein Supermarkt sein. Lebensmittel.
Also, Killerköpfchen zum Einsatz.
Es ist Mittwoch. Mittwochs verschwindet der Filialleiter immer schon um drei Uhr nachmittags. Vielleicht geht er Golf spielen, mit den Ärzten; oder er geht in den Puff, oder er macht Yoga, oder kümmert sich um seine Kinder. Jedenfalls macht das mit dem Rauskehren und Abschließen dann immer so ne Tussi, die es gar nicht abwarten kann. Schon ne dreiviertel Stunde vor Schluss macht sie das Schiff fertig für Schoten dicht und schaltet die Ichsehdichwennduklaust-Kameras aus.
Um zwanzig vor Schluss kommt dann dieses Fort Knox auf Rädern, mit dem westengepanzerten Transportritter, der sich natürlich nen Scheißdreck drum schert, dass das hier eigentlich ne Fußgängerzone ist. Der fegt durch die Fußgänger und lässt sie hopsen, parkt mit quietschenden Bremsen vorm Eingang, stakst rein wie John Wayne vorm Lungenkrebs, sackt das Geld ein, und röhrt wieder ab.
Die Kollegen verdrücken sich zügig, die Tussi macht vorne dicht, schlüpft hinten raus und verriegelt das Tor. So läuft das immer ab.
Man muss gewitzt sein, und schnell. Immer gerade vor ihr oder hinter ihr um die Ecke, im richtigen Moment dann Zack! – und ich kauere im Kabuff vom Marktleiter. Jetzt bin ich sicher; selbst wenn sie noch mal kurz im Laden rumguckt.
Ich höre, wie die Tussi davonklappert, mit vollem Feierabend-Gusto. Nachdem sie die Alarmanlage angeschmissen hat. Aber die ist altmodisch; sie springt nur an, wenn einer rein will. Und ich bin ja schon drin ...
Zeit für mein dreisträngiges Experiment.
Ist ja nicht so, dass ich einfach nur so n Penner bin, selbst wenn es manchmal so aussieht, für manche Leute, unter manchen Umständen.
Aber dies ist ein Experiment, jawohl, ein gigantisches Experiment – Ach Quatsch, auch nicht gigantischer, als heute eben alles mal so gigantisch ist. Das Experiment eines Penners; vermutlich sein letztes, das Ding in meinem Darm wächst ja immer weiter... Aber wenn schon nicht gigantisch, dann wenigstens verrückt; ein verrücktes Experiment, jawohl, klingt immerhin so ein bisschen nach Gruselkabinett. Obwohl es eigentlich nur deshalb verrückt ist, weil ich es mache. Sonst sind es ja nur n paar Fragen ...
Ich habe mir die drei Stränge exakt überlegt. Bin ja nicht umsonst mal Medizinstudent gewesen. In einem früheren Leben.
Experiment-Strang Nr. 1: die quasi-dauerhaften Vorräte. Also so was wie Nudeln, Reis, Haferflocken, Dauerkonserven ... Frage an das Experiment: Wie lange könnte man von dem Zeug in einer Filiale überleben? Wenn man Tage, Wochen, Monate – Jahre? – dort campt und isst?
Ich werde eine sorgfältige Bestandsaufnahme machen von allem, was dementsprechend geeignet ist. Dann werde ich das je nach Nährwert in Tage umrechnen. Dabei muss ich mir allerdings auch noch eine gewisse Verderbnis-Quote überlegen; manches von dem Zeug wird ja doch mal faulen oder schimmeln, oder es sind Motten drin, also muss man entsprechend was abziehen. Und manchmal ist mir vielleicht schlecht, und ich esse nichts und spare damit überproportional – aber manchmal kotze ich vielleicht auch alles wieder raus, was ich gegessen habe, und damit verschwende ich was – egal, es wird sich eine Quote dafür schätzen lassen. Ich habe ja noch Zeit, darüber nachzudenken, Zeit die Quote zu optimieren, unter den gegebenen Umständen.
Experiment-Strang Nr. 2: die verderbliche Ware. Also Frischfisch, Obst und Gemüse, Fleisch und Wurst, Milchprodukte, Backwaren, Tüten mit irgendwelchem Zeug, das aufs Verfallsdatum zugaloppiert ... Frage an das Experiment: Wann verwest was wie?
Ich werde dazu verschiedene Tableaus aufbauen; oder genauer: Ich werde verschiedene Konstellationen für das Experiment aufbauen. Ein großes Arrangement mit Obst und Gemüse, und vielleicht noch ein paar Backwaren am Rande. Ein großes Arrangement von Milchprodukten bei Raumtemperatur; und eines im Kühlregal, nebeneinander aufgebaut, um die voraussehbar verschieden fortschreitenden Stadien der Verrottung detailliert vergleichen zu können. Vielleicht auch ein Arrangement von Obst und Gemüse im Kühlregal? Oder sogar im Gefrierfach? Na, ich werde sehen, welche Variationen der Parameter noch zu arrangieren sind. Hier, von mir.
Experiment-Strang Nr. 3: die Belagerung. Natürlich werden sie mich nicht einfach schulterzuckend gewähren lassen. Wenn sie merken, dass ich mich hier drinnen verrammelt habe, werden sie versuchen, mich da rauszukriegen, wie eine Ratte aus einem Keller. Frage an das Experiment: Was werden sie tun? Werden sie es schaffen, und wenn, dann wann? Wie weit werden sie gehen?
Mich zum Beispiel einfach in die Luft sprengen, hätte schon beträchtliche Nebenwirkungen, schließlich gibts hier links und rechts noch lauter andere Läden, und obendrüber Wohnungen und Büros – die würden dabei ja auch Schaden nehmen. Vermutlich sogar mehr Schaden, als die Benutzbarkeit eines mittelprächtig laufenden kleinen Innenstadt-Supermarkts wert ist, selbst bei zynischster Berechnung, d.h. Menschenleben werden niedrig angesetzt gegenüber Mieterträgen, Inventarkosten, Versicherungssummen und ähnlichen monetären Positivposten. Aber selbst dann könnte eine Sprengung ernsthaft defizitär werden.
Also sprengen werden sie mich vermutlich nicht.
Aber sie könnten brutal die Türen zusammenrammen, dann mit gezückten Maschinenpistolen hier reinkrachen und tatsächlich auf mich schießen. Polizisten heutzutage haben Angst, richtig Angst. Und Angst macht brutal. Erst feuern, dann denken.
Damit sie sich das nicht trauen, werde ich am besten verkünden, dass hier Geiseln drin sind – nicht über Facebook oder so; ich mag Läden nicht, wo ich nicht der Kunde bin, sondern das Produkt. Ich werde auch nix von hier aus rausbloggen; mein ganz eigenes Experiment bleibt der Welt erspart, oder vorenthalten. Irgendein Ochse furzt es bestimmt irgendwann mal um die Welt; und irre Nachrichten gehen wüster ab als Grippeviren. Aber nicht jetzt. Nicht von mir aus. Nur ne nüchterne, professionelle Message an die Presse und die Polizei.
Sie könnten dann vielleicht durch irgendne Lüftungsklappe Gas einleiten; kein tödliches, wegen der Geiseln, aber irgendwas Betäubendes, das mich dann zum leichten Opfer macht ... Ich glaube, ich muss mich nachher mal um die Lüftungsschlitze kümmern; mit was Lappigem zustopfen.
Aber das hat alles Zeit. Vor morgen früh merkt hier keiner was.
Ich streife durch die Reihen, zähle Nudelpackungen, studiere das Verfallsdatum auf Pralinenpackungen, drücke im Kühlraum prüfend an Pfirsichen herum.
Ich bemerke, da ist ein schimmeliger Pfirsich. Und der Blumenkohl da drüben, der riecht irgendwie so faulig, selbst für einen Blumenkohl ist das nicht mehr in Ordnung. Ich beschließe, ein Schnellstarter-Arrangement aufzubauen, mit lauter Obst und Gemüse, das schon einen Schlag weg hat, so dass schnelle Ergebnisse zu erwarten sind.
Ich stelle mir dichten grünen Schimmelflaum vor, der sich über immer weitere Flächen zieht – ob wohl irgendwann der ganze Supermarkt damit bedeckt wäre, alle Packungen und Regale, sogar der Boden, die Wände – alles verschwunden unter einer grünen Schimmelschicht? Wenn es keine Störung gibt, und wenn genug Nahrung für den Schimmel da ist –
Naja, das sind vage Spekulationen. Einen Schritt nach dem anderen.
Ich werde alles nach Plan abarbeiten.
Und Abstand halten von der Spirituosenabteilung. Ich muss nüchtern bleiben. Für mein Experiment.
Vielleicht sollte ich gleich rübergehen und alle Flaschen aufmachen und auskippen, hinten im Lagerraum im Handwaschbecken. Zwanzig Liter Rum, dreißig Liter Wodka – goldene Flüssigkeit, klare Flüssigkeit – in den Ausguss, alles in den Ausguss.
Na, mal sehen, vielleicht später ...
Ich habe mir lange überlegt, wie der Schluss aussehen soll. Das sollte man ja immer wissen, bevor man anfängt. Was soll der letzte Schritt meines Experiments sein, wenn ich die Belagerung gewinne, das heißt, hier drinnen überlebe. Wenn die Experiment-Stränge Nr. 1 und Nr. 2 relevante Ergebnisse gezeigt haben, und wenn sie mich nicht vorher zersprengt, vergast, GSGestürmt oder sonstwie plattgemacht haben. Wie komme ich dann aus der Nummer wieder raus?
Zuerst sind mir nur selber dauernd so irre Knalleffekte eingefallen – Knall im wahrsten Sinne des Wortes, die ganze Bude in die Luft sprengen und so. Eventuell sogar mit mir in der Mitte als besonderem Knallkörper. Die Bilder, die man im Kopf hat – die man sogar im Bauch hat, und im Blut – das sind alles so grelle Bilder. Leiser kann man schon gar nicht mehr denken, nicht mal ein links-friedlicher Penner wie ich.
Aber ich habe hartnäckig nachgedacht, dagegengedacht, herumgedacht. Es ist ganz einfach.
Ich werde mich davonstehlen.
Einfach so.
Im Schutz der Nacht oder eines tätterätäenden Feuerwehreinsatzes.
Heimlich, still und leise. So dass es keiner mitkriegt.
Strategie eben wieder.
Und dann ganz unschuldig von außen beobachten, wie es weitergeht:
Ob sie es gar nicht merken, und dann die leere Hülle des Supermarkts weiter belagern, belauern – Tage, Wochen, Monate ... Oder ob sie den Markt stürmen, angespannt nach mir suchen, jedes Tütenknistern niederballern – und dann blöd dastehen, ganz, ganz blöd, in einem gähnend leeren Markt – nichts ist lächerlicher als volles Draufgängertum, wenn doch gar nichts zum Draufgehen da ist ...
Als ich gerade meine Nase in eine Tüte Müsli stecke, muss ich niesen.
Verdammt.
Daran hatte ich nicht gedacht.
Der menschliche Faktor.
Vielleicht werde ich krank, Lungenentzündung, und sterbe.
Sterbe meinem Darmkrebs weg. Sterbe jetzt schon, hier drinnen. –
– aber hey, dann sterbe ich eben.
Dann gibt es den Experiment-Strang Nr. 4.
Was wird mir meinem Körper dann passieren? Wie schnell wird er verwesen? Gehen Maden aus Haferflocken auf die Leichen von Pennern, oder besser in die Leichen von Pennern? Wann werden sie mich finden? Wer wird mich finden? Wie wird – das Verwesende dann aussehen?
Was werden sie dann tun? Mit mir? Mit dem Supermarkt? Und überhaupt?
Das Experiment geht weiter.
Erschienen in einer Anthologie des Eichenspinnerverlags