Nacht in der Galerie.
Der riesige Raum liegt still und dunkel da.
Bis blasses, weißes Licht von außen hineinströmt. Der Mond ist aufgegangen.
Und plötzlich fängt der Raum an sich mit Schwingungen zu füllen. Stimmen entfalten sich, klingen durch die Galerie.
Ein zarter Klang vom Aquarell einer Rose: "Wenn uns das pure silberne Mondlicht küsst, dann erwachen unsere Stimmen..."
"Diese Laien-Aquarelle sind immer so kitschig", brummelt das riesige düstere Ölgemälde.
Die japanische Kalligraphie singt vor sich hin: "Es ist das Ende der Welt, sagte die Raupe – es ist der Anfang, sagte der Schmetterling..."
"Der gibt immer so komische Sachen von sich", schmollt die Comic-Blondine auf dem riesigen Pop-Art-Plakat.
"Das ist eine asiatische Weisheit", tuschelt die akkurate kleine Federzeichnung.
"Naa, dös is a bairische Weisheit", raunzt die Bleistiftzeichnung der Dorfkirche, "dös hat der Lehrer schon immer derzählt, halt net so g'schwoll'n."
Keiner antwortet.
Die Dorfkirche ruft es nun laut und aggressiv in den Raum hinaus: "Das ist eine bay-e-rische Weisheit, habt ihrs g'hört!"
"Es ist eine menschliche Weisheit", meint die Rose sanft.
"Wieso menschlich, es geht doch um eine Raupe und einen Schmetterling", nörgelt das Ölgemälde.
"Wir haben nicht viel Zeit", erhebt der kleine alte Taschenrechner nun seine Stimme, der am Eingang liegt.
"Was, der?" tönt es durch den Raum, "den hat das Mondlicht auch erweckt? Na sowas – der ist doch keine Kunst! Das ist doch bloß – ein Stück trockene Technik, was hat der überhaupt in der Galerie zu suchen..."
"Auf mir rechnen sie manchmal schnell was nach", erklärt der Taschenrechner und fügt etwas schüchtern an: "Ich bin fast vierzig Jahre alt, also eigentlich schon echt museumsreif – solche wie mich, die auch noch funktionieren, gibt es nicht mehr viele..."
"Technogerümpel!" zischelt es boshaft.
"Wir haben nicht viel Zeit", wiederholt der Rechner. "Sonnen- oder Kunstlicht zerstören den magischen Effekt des Mondlichts. Und diese Mondlicht-Magie wirkt ja nur ganz selten – immer dann, wenn die Omega-Achse des Beta-Raums von Alpha Centauri innerhalb von sieben Grad –"
"Wie auch immer – hier und jetzt sind unsere Stimmen lebendig, lasst uns die Zeit nutzen, die wir haben!", übertönt ihn Blondies Stimme ungeduldig.
Und rasch füllt sich der Raum mit Ausstellungsgesprächen.
"Der Typ mit den Cordhosen und dem krautigen Bart, der ist fast eine Viertelstunde vor mir stehengeblieben und hat jedes Detail studiert!"
"Naja, wenn man solche Typen mag ..."
"Immer noch besser als diese aufgemotzten Tussis, die einen mit Prosecco vollprusten, wenn sie kichern – die haben ja eine Vorliebe für dich."
"Ich bin eben – attraktiv!"
"Man kann auch oberflächlich sagen..."
"Ich bin zugänglich – nicht so arrogant wie gewisse sogenannte Kunstwerke, bei denen man erst mal zwei Stunden lang mit vielen komplizierten Wörtern erklären muss, was man denn da überhaupt sieht, außer Farbschmutzer auf der Leinwand ..."
"Immer noch besser als – Kunsthandwerk, billige Gebrauchsware ..."
"Was heißt hier billig – ich werde für ne Menge mehr Geld weggehen als du. Wenn dich überhaupt jemand will."
"Okay, solche – Massenware, die kauft das Volk begeistert – aber dafür wirst du niemals Kunst sein, echte Kunst. Warte nur, bis sie meine wahre Größe erkennen und ich dann 'in' bin – dann kommen da dermaßen viele Nullen an den Preis, das kannst du dir kaum vorstellen."
"Und dann kaufen das auch Nullen – nicht als Kunst, sondern als Investition, weil sie hoffen, dass andere Nullen ihnen das später mit noch viel mehr Nullen dran abnehmen ..."
"Neid, nix als schnöder Neid..."
Eine empörte Stimme erhebt sich über die anderen: "Also, das ist doch ein Skandal! Tatsächlich mit einem Filzstift?"
"Ja, ein knallroter Filzstift! Er hat ihn aus der Tasche gezogen und sich dann umgeschaut, dass kein anderer guckt – und dann hat er mir links unten in die Ecke so ein kleines Ding reingekritzelt, das juckt total unangenehm. Bis jetzt hat es noch niemand bemerkt, aber es ist schon eine echte Sauerei!"
"Genau, Vandalismus! Aber da tut die Polizei ja nichts..."
Bestätigendes empörtes Geraune ringsum.
Die Rose erhebt zart die Stimme: "Seht doch, das pure Mondlicht, wie zauberhaft es durch den Raum strömt und alles in mattes Silber verwandelt –"
Keiner beachtet sie.
"– und bevor die ein Selfie mit mir gemacht hat, da hat sie sich erst mal so geschminkt, dass sie zu meinem Farbschema passte, die hatte ein Dutzend Lippenstifte in der Handtasche, und die hat sie dann prüfend neben dieses intensive Pink in meinem Zentrum gehalten, und dabei hat sie versucht, sich in der Glasplatte auf meiner Oberfläche zu spiegeln, dazu hat sie so das Gesicht verzogen, sah echt drollig aus –"
"Was du alles siehst ..."
"Man muss halt genau hinschauen, dann kann man so viel entdecken. Ich finde das echt faszinierend, was für Typen da alles an uns vorbeikommen, und was die so machen, wenn sie dann vor mir stehen, diese Menschen –"
Die blecherne Stimme des Taschenrechners tönt durch den Raum: "Noch fünf Minuten bis zum Sonnenaufgang."
"Wann ist denn dann das nächste Mal?", will Blondie wissen.
"Das habe ich vorhin doch gesagt: Wenn die Omega-Achse des Beta-Raums von Alpha Centauri innerhalb von sieben Grad –"
"Und wann ist das?"
"Das kann man sich leicht ausrechnen."
"Du vielleicht ..."
Die anderen schnattern aufgeregt durcheinander: "Kannst du es uns sagen?", "Ja, es ist doch so selten!", "Wann wird das nächste Mal sein?"
Nur die japanische Kalligraphie philosophiert sanft in den Raum: "Vielleicht sind wir ja nur Menschen, die Bilder sind, die träumen, dass sie Menschen sind, die Bilder sind ...."
"Komm, sag uns, wann unsere Stimmen wieder lebendig werden – wann ist das, sag's uns bitte!", "Ja, bitte!"
Im Mondlicht glüht der Taschenrechner förmlich auf: Ich werde es ihnen sagen, sie werden mich bewundern – ich weiß es ja schon längst, war eine schnelle kleine Rechnung, aber ich sage es ihnen noch nicht gleich, es sind ja noch ein paar Minuten, ich werde noch ein bisschen warten, ich werde sie zappeln lassen, sie sollen noch eine Weile betteln, bis ich –
"Hallo, ist da jemand?" Der Hausmeister öffnet die Tür, das Neonlicht aus dem Foyer fällt ein –
Starre – Totenstille.
Der Hausmeister zuckt die Achseln, gähnt und schlurft davon.
Stumm und regungslos liegt der Taschenrechner da, still hängen die Bilder an den Wänden.
Bis – wer weiß...