1. März 2031
Mein Kopf explodiert.
Wird zerfetzt. In kleine scharfe Stücke.
Grelle Lichtblitze wie Peitschenhiebe.
Qualvolle Zuckungen - überall um mich herum, tief innen in mir - innen - außen, ein riesiger gleißender Schmerz -
Ich stöhne auf.
Dann merke ich, dass das Schmerzgewitter nachlässt. Instinktiv habe ich die Augen wieder zugemacht.
Während der Schmerz seinen Griff lockert, kann ich langsam wieder anfangen zu denken.
Doch nun: schwarze Verzweiflung.
Das Experiment ist gründlich schiefgegangen.
Dabei hatte ich es hundertfach, tausendfach ausprobiert. Und die Simulation war perfekt. Dachte ich.
War sie aber wohl nicht.
Sind es die neuen Verdrahtungen in meinem Gehirn? Oder ist es vielleicht einfach nur die Software, die mir beim Verarbeiten der neuen Sinneseindrücke helfen soll? Aber ohne sie hätte ich von vorneherein sowieso nie eine Chance, die Informationen der kleinen, aber feinen Facettenaugen zu verarbeiten, die nun rund um meinen Kopf angeordnet sind, 16 Stück mit je 1024 winzigen Einzelaugen. Und bei den virtuellen Versuchen hat es schließlich auch gut geklappt. Naja, es war nicht jeder Punkt im Rundum-Visionsfeld perfekt, aber sowas wie das jetzt -
Versuchsweise öffne ich nochmal die Augen - und schließe sie gleich wieder, das Höllengewitter tobt zu unerträglich.
Ich muss die Augen wohl geschlossen lassen. Denn das ertrage ich nicht. Keine zwei Sekunden.
Einen Moment lang denke ich an den Notfallknopf in meiner Hand. Der den Operations-Nanoroboter wieder in Gang setzen würde, um das Ganze zurückzubauen. Um mein Gehirn wieder in den alten Stand zu versetzen.
Nein, verdammt, das will ich nicht!
Ich denke an Dr. Simmons. Er ist der einzige, der von meinem Experiment weiß, und er hat gewettet, dass es nicht funktioniert. "Rundum-Facettenaugen? Sie sind doch keine Fliege. Der Mensch ist für sowas nicht geschaffen", hat er gesagt - so ein Blödsinn. Der Mensch ist auch nicht geschaffen für Autos oder Handys, und trotzdem kann er sie nach ein bisschen Lernen ganz wunderbar für sich nutzen. Sowas nennt man Fortschritt, habe ich ihm gesagt, aber er ist halt einer dieser Bremser und Bedenkenträger. Wenn alle wären wie er, würden wir immer noch in Pferdekutschen daherzuckeln. Wenn überhaupt. Wahrscheinlich ist er neidisch auf meine Idee. Er wird sie sicher niemand anderem verraten, denn er ist eben so ein Ethik-Typ. Altmodisch.
Es wäre eine ganz unerträgliche Niederlage, wenn ich ihm nun sagen müsste: Ich habe mich geirrt, Sie hatten recht.
Und es ist ja vielleicht nur - ein Anfangsproblem.Vielleicht braucht es einfach nur Zeit.
Ich werde die Augen - hmm, sagen wir mal 24 Stunden lang einfach zu lassen und abwarten. Damit die bioelektronischen Schaltkreise sich auf jeden Fall stabilisieren können.
Ich muss nur aufpassen, dass ich die Augen nicht aus Versehen aufmache. Zum Beispiel, wenn ich eingenickt bin. Denn dann beim Aufwachen mache ich automatisch die Augen auf und - arghh! Das ist dann sozusagen ein umgekehrter Albtraum - da gerate ich nicht hinein, wenn ich einschlafe, sondern wenn ich aufwache.
Also Devise: Augen zu!
2. März 2031
Es ist irgendwie blöd, wenn man hellwach ist, aber weiß, dass man die Augen nicht aufmachen darf. Der Drang, die Augen zu öffnen, jetzt sofort! - der macht mich verrückt, es wird immer schlimmer, ich könnte schreien...
Und wach dazusitzen, aber nichts zu sehen, das fühlt sich an, als ob ich - blind wäre. Und dabei will ich ja meine Sehfähigkeit im Gegenteil enorm verbessern - Rundumsicht, mit insgesamt 16384 Augen-Einheiten, das wäre eine echte Sensation. Es würde die Dimension des menschlichen Sehens verändern.
Ich muss mich der Sache einfach stellen. Anders kann es nicht weitergehen.
Die Pioniere des medizinischen Selbstversuchs haben auch leiden müssen. Und ich weiß ja eigentlich, dass es kein echter Schmerz ist, den ich da fühle, das ist bloß eine Sinnestäuschung, es sind ja nur wilde Dinge, die meine Augen sehen, es ist nur mein Gehirn, das - spinnt. Nicht mitkommt. Sich sinnlos aufbäumt.
Also Devise: Augen auf!
November 2031
Ich habe mich schließlich daran gewöhnt. Mein Gehirn hat sich angepasst. Ich habe nun 360 Grad voll scharfe Rundumsicht. Das Experiment war also doch erfolgreich. Rundum ein Triumph, sozusagen.
Ich möchte es allerdings noch nicht veröffentlichen. Ich weiß nicht, ob die Menschen bereit wären, sich diese qualvollen Monate anzutun, bis es soweit ist. Sogar ich hatte manchmal - Selbstmordgedanken. Aber der Ehrgeiz hat mich weitergetrieben. Ehrgeiz wird oft so negativ gesehen, aber er kann ein echter Lebensretter sein.
Nur Simmons weiß davon, wegen unserer Wette. Ihm habe ich nichts von den Qualen erzählt, muss er ja nicht wissen. Ich habe ihm meine neuen Seh-Fähigkeiten demonstriert, wie ich wirklich alles rundum sehen kann. Er war auch ganz schön beeindruckt.
Aber Schwarzseher wie er ist, kam er auf einmal mit dem alten Horrorfilm an: "Sie wissen doch, der mit der Fliege: Wo einer bei einem Teleportationsversuch sich versehentlich mit einer Fliege kreuzt, und dann wird er zum Monster, halb Fliege, halb Mensch. Fühlen Sie sich jetzt nicht ein bisschen so?"
"Es war nicht versehentlich, und es ist auch keine Kreuzung, sondern nur eine biotechnische Optimierung", erinnerte ich ihn ärgerlich. Und ich bin ja wohl kein Monster - eher war es umgekehrt, in der Gewöhnungsphase, da kam alles um mich herum mir monströs vor...
Aber jetzt nicht mehr. Ich bin wieder der Mensch, der ich vorher war, mit ein paar unangenehmen Erinnerungen vielleicht, aber auf jeden Fall mit sagenhaften Seh-Fähigkeiten.
Wobei ich das ja noch nicht preisgeben will, und das wird manchmal schon schwierig. Die Leute wundern sich, wieviel ich auf einmal erfasse: "Haben Sie Augen im Hinterkopf?" fragen sie manchmal verblüfft. Und ich grinse und sage geheimnisvoll, "na klar." Und natürlich glauben sie es dann nicht.
Aber ansonsten passe ich schon dauernd auf, dass ich mich nicht verrate. Das ist anstrengend, und in gewisser Weise hat es mich meine Ehe gekostet. "Du bist irgendwie so - misstrauisch geworden", hat Anne mir vorgeworfen. Dabei war ich ja nicht unbedingt "misstrauisch", aber bei ihr hätte ich es ruhig sein können: Weil sie nicht wusste, wieviel ich jetzt sehe, bin ich ziemlich schnell darüber gestolpert, dass sie einen Liebhaber hat. Angeblich erst, seit ich "so komisch" geworden bin, behauptet sie - aber naja, die Scheidung läuft jedenfalls.
Jan und Lena sind bei mir geblieben, allerdings nicht lange. Sie haben mir vorgeworfen, dass ich sie "dauernd überwache". Das stimmt überhaupt nicht, ich würde meinen Kindern nie nachspionieren oder so, und sie sind ja beide schon volljährig. Aber ich kriege halt doch automatisch mehr mit als früher, und manchmal kann ich es mir einfach nicht verkneifen, ihnen - wenn schon keinen guten Rat dazu zu geben, dann wenigstens, sie vom Schlimmsten abzuhalten. Das stört sie wohl leider, und sie sind in kurzer Zeit beide ausgezogen.
Meine Freunde haben zwar nichts gesagt, aber irgendwie bleiben auch sie weg. Vielleicht fühlen sie sich auch - überwacht? Ich versuche ja sehr, mich zu beherrschen, aber es ist echt schwierig, überhaupt nichts zu sagen oder sonstwie zu reagieren, wenn man etwas gesehen hat, das man sonst nicht sehen würde...
Naja, ist vielleicht auch gut so. Der Stress, nichts zu verraten, wird weniger. Und wenn ich alleine bin, habe ich auch mehr Zeit zum Üben. Ich arbeite ständig an meinem Sehen, da lässt sich immer noch mehr rausholen, es ist faszinierend. Ich überlege auch, ob ich nach einer gewissen Stabilisierungsphase weiter aufstocken soll, nochmehr Augen, und die dann gezielt gruppieren, da könnte man unvorstellbare Dimensionen dazugewinnen...
Tja, der Mensch lebt und lernt. Es ist so viel möglich...