"Ooch schau mal, die arme Möwe, wie hungrig die guckt!"
"Aber man soll die hier doch nicht füttern..."
"Ach komm, so ein kleines Stückchen Pommes Frites, was soll das schon schaden, und ich werde eh zu fett davon – hier!"
Wie die Show dann weitergeht, hängt davon ab, was ich mache. Und das wiederum hängt von meiner Laune ab.
Wenn ich lieb drauf bin, und außerdem ziemlich satt, dann nehme ich das fettige Stückchen wohlwollend an. Ich pose für das Selfie der Spenderin in die Handy-Kamera und schwinge mich anmutig davon. Wenn ich aber Hunger habe, oder ein bisschen mehr Action will, dann verschlinge ich rasch das Pommes – denPommes? Ich bin eine außergewöhnlich gebildete Möwe, aber diese Feinheiten sind mir manchmal doch nicht ganz klar.
Na egal, ich schnappe mir also das Teil und nehme dann die nächsthöhere Stufe in Angriff, nämlich den Backfisch oder Hering. Vor allem dann, wenn es nicht mal ein Pommes war, sondern nur ein labbriger Krümel von einem Brötchen.
Während die Krümel-Geberin noch entzückt lächelt über die putzige Möwe und dadurch abgelenkt ist, schießt mein Schnabel auf den Fisch zu und räubert ein ordentlich großes Stück.
Dann ist abrupt Schluss mit entzückt und putzig, es gibt spitze Schreie und viel Schimpfen über dieses gefiederte Monster, das ich auf einmal angeblich bin. "Undankbares Biest" und "gieriger Geier" gehören zu den Ausdrücken, die es nun hagelt.
Das mit der Dankbarkeit ist echt dämlich - ich meine, warum sollte ich denn dankbar sein, wenn sie mir nur so 'n billiges Bröckchen hinschmeißen, was sie selber gar nicht vermissen? Sobald ich dann auch ein bisschen was von den richtig guten Sachen haben will, wollen sie nix rausrücken und werden sofort giftig – also, wofür sollte ich da dankbar sein?
Das ist ein bisschen wie dieser alte Witz, den Anna gerne erzählt, wo zwei Leute einen großen und einen kleinen Fisch serviert bekommen. Einer bietet dem anderen höflich an, sich zuerst zu nehmen, und der andere wählt den großen Fisch. Der Anbieter meint steif: Das ist aber unhöflich, dass Sie sich den größeren Fisch nehmen. Und der andere fragt ihn: Welchen Fisch hätten Sie denn genommen? Na den kleineren natürlich, alles andere wäre unhöflich. Da lächelt der andere und sagt: Na, dann passt es doch, das wäre ja dann genauso ausgegangen, Sie hätten den kleinen Fisch und ich den großen. Tja, entweder man will wirklich großzügig sein, oder nur so tun. Außerdem zeigt es, wie wichtig es ist, dass man den ersten Zug macht.
Trotz des lauten Pfui-Geschreis bleibe ich nach so einer Fischräuber-Szene immer in der Nähe. Natürlich außer Griffweite – aber doch so nahe, dass ich beim voraussehbaren nächsten Schritt als erster zur Stelle bin und abräumen kann. Nämlich nach dem "Igitt, da war ja jetzt dieser grässliche Vogel dran, der ist bestimmt voller Bazillen, Vogelgrippe und sonstwas …"
Was Quatsch ist, ich bin doch keine chinesische Ente. Ich habe höchstens Reste von verwesendem Fisch am Schnabel, aber die sollen sich nicht so aufführen – asiatische Fischsauce essen sie ja auch, und das ist letztenendes auch nicht groß was anderes als vergammelter Fisch.
Aber ich will mich nicht beschweren. Diese Fehleinschätzung führt fast immer dazu, dass der ganze Rest von dem angeknabberten Fisch entweder auf dem Boden oder im Papierkorb landet, oder auf der Bank "aus Versehen" zurückgelassen wird. Die leicht angewiderte, unfreiwillige Fischspenderin zieht ab, während ihr Partner mit einem Siehstdudaskommtdavon-Grinsen folgt, je nach Machtverteilung in der Beziehung irgendwo zwischen triumphierend und heimlich.
Wenn ich die besten Stücke meiner Beute dann verzehrt habe, lasse ich den Rest für langsamere Kollegen liegen und mache mich davon.
Auch heute habe ich wieder ein saftiges Stück Backfisch ergattert. Ein älterer Herr, Typ pensionierter Biologielehrer, schüttelt vorwurfsvoll den Kopf, als er mich aus dem Papier schnabulieren sieht: "Du solltest frischen Fisch aus der Ostsee fangen, und nicht so ein ungesundes fettiges künstliches Zeug fressen!"
Und du solltest die Klappe halten und eine arme hungrige Möwe nicht so blöd anquatschen, denke ich mir. Ich lasse einen heiseren Schrei los, der meine Empörung ausdrückt. Der Typ fühlt sich dadurch offenbar bemüßigt nachzulegen: "Das wäre viel gesünder!"
Mag sein – na und? Ihr Menschen wisst ja auch, wie man sich gesund ernährt. Und futtert ihr nun Broccoli, Äpfel und ungesüßtes Joghurt in rauen Mengen? Pustekuchen. Stattdessen boomen die Fast-Food-Buden allerorten, und als "zuhause gekocht" gilt schon eine Salami-Pizza, die man aus dem Tiefkühler holt und in den Ofen schiebt. Also gönnt mir doch bitte meinen Backfisch.
Als die Menschen vor ein paar tausend Jahren auf die Erde gekommen sind, haben sie das Zeug auch roh gefressen, weil es da noch keine Mikrowelle gab. Jetzt machen sie das bloß noch mit Sushi – ist auch nicht schlecht, aber da ich tatsächlich durchaus eine gesundheitsbewusste Möwe bin, halte ich mich da etwas zurück, zu viel Salz. Außerdem passen die Leute auf ihr Sushi besser auf als auf ihre Fischbrötchen, weil das teurer ist, also komme ich sowieso selten ran.
Der Typ, der eben noch so aufdringlich meinen Lunch bemosert hat, stellt sich nun bei einer Eisdiele an. Eis, hah! Süß, fettig, magen-ungesund kalt und unnötig.
Konsequenz ist zwar eine ur-menschliche Idee, nur wendet sie kaum je einer an. Na ja, es ist halt wie bei den meisten Regeln: Die Menschen finden das schon richtig – für die anderen. Bei ihnen selbst ist das natürlich was anderes. Die anderen sind inkonsequent, man selber individuell.
Ein kleiner Nachtisch käme jetzt gerade recht und ich beschließe, den ernährungs-moralisierenden Typen anzuzapfen.
Also warte ich, bis er sich mit seiner Eiswaffel – drei Kugeln: Erdbeer, Zitrone und Vanille – auf eine Bank setzt. Erdbeer und Zitrone mag ich nicht so, aber Vanille ist okay.
Ich entscheide mich gegen die direkte Flugattacke, das wäre eine verschenkte Gelegenheit. Menschen können Möwen zwar nicht gut unterscheiden, aber er wird mich schon wiedererkennen, denke ich, und das setzt mich moralisch in den Vorteil.
Ich setze mich auf die Lehne seiner Bank. Schön mit Abstand, er sitzt ganz rechts, ich ganz links. Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu, widmet sich dann aber wieder seinem Eis und schaut auf das Treiben am Alten Strom.
Ich lasse mir Zeit, denn das Vanilleeis ist ganz unten in der Eiswaffel, erst soll er die Erdbeere und Zitrone obendrüber selber fressen. Ich bringe mich aber immer wieder mal ein bisschen in Erinnerung, mit einem leisen Käckern. Jedesmal schaut er dann zu mir her, mit zunehmendem Stirnrunzeln, isst aber weiter.
Der Typ verschlingt das Eis in einem echt ungesunden Tempo. Er kommt dem Vanilleeis in der Waffel rasch näher.
Ich starte die nächste Phase und hüpfe ein kleines Stückchen näher. Misstrauischer Blick, aber Weiterfuttern. Ich bin gespannt, ob er sitzenbleibt, oder aufsteht und weitergeht – je nachdem muss ich natürlich meine Strategie anpassen. Ich liebe diese Spiele, sie sind eine Herausforderung für meine enorme Intelligenz. Und es kommt auch fast immer was Nettes zum Naschen dabei raus.
Er bleibt jedenfalls sitzen, und ich hüpfe vorsichtig näher, ein winziges Stückchen nach dem anderen.
Mein Timing ist mal wieder perfekt. In dem Moment, wo die Kugeln mit Erdbeer und Zitrone fast völlig verschwunden sind, sitze ich quasi direkt neben ihm. Ich mache mich flach und klein, lege das Köpfchen schief und gebe ein leises, miauendes Geräusch von mir. Katzen sind Weltmeister im erfolgreichen Betteln, das weiß ich zum Beispiel von Tiburtius, und ich habe es auch sonst schon oft beobachtet. Katzen kriegen fast immer, was sie wollen, und behalten dabei doch voll ihre Würde. Warum soll man nicht von den Besten lernen?
Ich hüpfe nun vorsichtig ganz nah ran. Aber diesmal nehme ich mir nicht einfach was – ich meine, ich könnte ja den Schnabel vorschießen und mir ordentlich was krallen, aber das wäre zu simpel. Das würde ich bei einem unvorbelasteten Opfer machen.
Aber den hier will ich jetzt mit seinem schlechten Gewissen kriegen. Also deute ich quasi nur mit dem Schnabel zur Eiswaffel hin und wappne mich für die Predigt.
Die kommt auch prompt: "Also, Eis und Waffel, das ist auch nicht gerade gesund –", er hält inne und ihm wird nun wohl bewusst, dass das auch für ihn selber gilt.
Ich unterstütze diesen inneren Prozess durch eine Art ermutigendes Gurren – kein Laut, den eine Möwe von Natur aus drauf hat, ich habe mir das während meiner komplexen sozio-psychologischen Entwicklung gezielt antrainiert.
Es wirkt. Er sucht noch nach einem Anlass – und den findet er in der Tatsache, dass das Eis nun langsam zu tropfen beginnt. "Ach was soll's", sagt er jetzt, und ich triumphiere innerlich.
Geziert hüpfe ich wieder ein kleines Stückchen weg – ich bin doch nicht aufdringlich, ich doch nicht – aber wenn er mir natürlich von sich aus was anbietet …
Nochmal Köpfchen schief, klägliches Miau-Geräusch, und ich habe ihn.
"Schmilzt ja eh schon, also kannst du es haben, von mir aus."
Etwas zögernd streckt er mir die Waffel mit dem Vanilleeis entgegen. Neugierig schaut er, ob ich es ihm auch aus der Hand fresse – na klar, da hab ich keine falschen Hemmungen, so ein Typ, der tut mir ja nix.
Artig turne ich wieder näher, nicke einen kurzen Dank, fange an zu picken, schaue nochmal höflich fragend, und haue dann rein.
Natürlich passe ich auf, dass dabei mein Schnabel seiner Hand nicht zu nahe kommt. Die Hand, die einen füttert, sollte man frühestens beißen, wenn man satt ist, und wenn ansonsten eh nix mehr kommt.
Irgendwann bröckelt ihm dann der Rest von der Eiswaffel durch die Finger und matscht auf die Bank – eine schöne Sauerei, aber was soll's. Die Leute sollten hier sowieso besser aufpassen, wo sie ihre sauber behosten oder berockten Hintern hinsetzen. Der Vanilleeis-Waffelbrei riecht immerhin sehr viel angenehmer als Möwenschiet.
Ich hüpfe von der Bank, gönne dem Typen nochmal ein freundliches Nicken, tripple höflich etwas beiseite und schwinge mich dann in die Luft.
Er starrt mir fasziniert hinterher. Falls er jetzt öfters hierherkommt, könnte ich ihn mir eventuell erziehen. Einem wie dem ist es wahrscheinlich peinlich, wenn er gesehen wird, wie er so etwas Verbotenes wie Möwenfüttern tut. Aber er ist selbstgerecht genug, ich könnte ihn sicher dahin bringen, dass er sich einbildet, dass er in diesem speziellen Fall genau das Richtige tut, wenn er mir gewisse Happen zukommen lässt.
Auch wenn die kleinen Fisch- und Eisszenen immer wieder lustig und lecker sind – jetzt reicht es mir erst mal wieder mit der ganzen Action und meinem möwigen Menschen-Manipulieren.
Also schwirre ich ab – ein paar hundert Meter die Küste entlang ist es meistens schon viel ruhiger. Vor allem da, wo kein Auto-Parkplatz in der Nähe ist, da dünnt das Menschengewimmel dann schon beruhigend aus.
Ich steige auf, lege mich auf den Wind und segele zwischen Himmel und Meer dahin. Wenn es so richtig stürmisch ist, geht das am besten. Die Menschen kommentieren das dann oft ziemlich dämlich: "Ach, die arme Möwe, jetzt muss sie sich durch den Sturm kämpfen, das ist doch total anstrengend …"
Dabei stimmt das überhaupt nicht, der Wind trägt mich ja schließlich. Im Gegenteil, richtig anstrengend wird es, wenn kein Wind weht, da muss ich die ganze Zeit flappen und flappen, um vorwärtszukommen.
Aber so ein richtig straffer Wind, das ist wie ein fliegender Teppich, ich muss mich nur drauflegen und kann schier ewig segeln, gleiten...
Ach ja, was wissen die Menschen schon vom Fliegen. Mit viel Lärm, oder mindestens mit jeder Menge Kunststoffzeugs, können manche von ihnen was zum Fliegen bringen, und dann setzen sie sich da rein, stellen sich drauf oder hängen sich dran. Aber wirklich fliegen, das ist etwas ganz anderes …
Was soll's, heute weht eine wunderbare steife Brise, und ich genieße die Sonne, den Wind, das Glitzern auf dem Meer, hier und da ein Schaumkrönchen.
Während ich die Küste entlanggleite, schweifen meine Gedanken zu Sternina, ich fange an zu träumen, von ihrer anmutige Silhouette, oder wie entzückend sie ihr Köpfchen schiefhält …
Den vollständigen Text kann man hier bestellen.