Bökner bahnte sich mit der Laptoptasche den Weg. Ein echtes Verkehrshindernis, diese Transparentschwenker – und wie die Typen schon aussahen, langhaarige Sechziger-Zombies – schäbige Jacken, krautige Bärte, und nichts im Kopf als Sprüche über Spätkapitalismus oder so. Zum Glück gab’s nicht mehr viele von der Sorte, echte Dinosaurier waren die. Aber trotzdem irgendwie ärgerlich.
„Schau dir den Rempler da an“, einer zeigte mit dem Finger auf Bökner, „wie der Typ schon aussieht, Establishment aus'm Bilderbuch, Nadelstreifen vom Arsch bis zur Aktentasche, und nichts im Kopf als Profit – verdammter kapitalistischer Blutsauger!“ Und mit pathetischem Schütteln der Faust: „Verdammt seien alle Blutsauger!“
Die anderen lachten. Bökner ärgerte sich. Ein paar Retro-Punks hatten sich unter die Kommie-Dinosaurier gemischt und wiederholten die Worte, vermutlich ohne sie zu kapieren, aber umso lauter und begeisterter: „Verdammt seien alle Blutsauger!“
Bökner schnaubte verächtlich. Lästige Schwachköpfe.
Er eilte auf den Firmeneingang zu und schob sich durch die Drehtür. Er spürte plötzlich einen unangenehmen Druck im Oberkiefer, so ungefähr an den Eckzähnen. Erkältung im Anmarsch, dachte er ärgerlich – naja, halb so wild, eine von diesen Kapseln, und er war wieder fit.
Er schenkte dem Pförtner ein knappes Lächeln – ein Lächeln kostet nichts und bringt oft viel, war sein Motto. Der Pförtner allerdings – was hatte der Mann denn? Warum stierte der ihn so entsetzt an? Na, egal, Meißl von Public Relations wartete bestimmt schon – gottseidank, der Aufzug war da, und leer obendrein – keiner, der Bökner aufhalten konnte. Aber dieser Druck an den Eckzähnen, wirklich unangenehm.
Im Vorzimmer lief er an der Weßler vorbei – glotzte ihn an wie ein Honigkuchenpferd, die Frau.
„Bin nicht zu sprechen die nächste Viertelstunde“, Bökner hatte merkwürdige Schwierigkeiten beim Sprechen.
In Bökners Büro der wartende Meißl – zum Teufel, jetzt starrte auch der ihn an wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Was hatten die Leute bloß alle?
Meißl verzerrte die Mundwinkel zum Ansatz eines Lächelns: „Äh – ein Vorgriff auf Fasching, Ihre – äh, Zähne?“
Bökner starrte ihn ärgerlich an: „Fasching? Im September?“
Meißl fischte in seiner Jackentasche, reichte ihm stumm einen Taschenspiegel – eitler Geck, dachte Bökner verächtlich, ein Mann, der einen Taschenspiegel einstecken hat …
Er warf einen Blick in den Spiegel, schnaubte ungeduldig: „In dem Ding kann man ja gar nichts sehen.“
„Wieso?“ Meißl trat hinter ihn und sah in den Spiegel. Den beiden starrte Meißls mageres Gesicht entgegen, neben ihm sah man – nichts.
Meißl wurde ziemlich blass.
„Ich – ich glaube, das ist ernst“, flüsterte er erstickt. „Ich – Sie – Sie sind – ein richtiger – Vampir!“
Bökner befingerte verwirrt seinen Mund. Zwei harte, schmale Stäbchen rechts und links vom Kinn. „Das da sind also womöglich – äh, Vampirzähne, sozusagen?“
„Äh – sozusagen, ja.“
Bökner heulte geradezu auf. „Aber das ist – das ist doch unmöglich!“
Meißl hatte sich inzwischen wieder gefangen. „Anscheinend nicht. Ich habe sowas zwar noch nie erlebt, aber die Symptome sind wohl eindeutig … Nun, es ist nicht zu ändern. Lassen Sie mal überlegen – in einer Viertelstunde haben Sie dieses Interview, und – oh Gott, das ist dermaßen peinlich – also, das ist absolut unmöglich!“
„Sag ich ja“, Bökner war bedrückt, aber trotzig.
Meißl hörte gar nicht zu. „Nein, also – da müssen wir was machen, unbedingt. Sie gelten sowieso als – hm, als Hardliner der Firma, wenn ich das mal so sagen darf – jedenfalls, Sie als – äh, richtiger Vampir – also, die Leute würden die unglücklichsten Parallelen ziehen, Blutsauger und so, Sie verstehen – jedenfalls, das wäre absolut katastrophal.“
„Also sage ich das Interview ab.“
„Nein, nein, das geht nicht. Wir brauchen die Presse dringend. Und Sie haben jetzt schon zweimal in letzter Minute abgesagt – einmal wegen der Krisensitzung über die Alpha-Stahl, und dann, als Sie bei dem Auftrag von dem Sockenhersteller eingesprungen sind.“
Bökner tippte an seine Zähne: „Das ist doch wohl ernster als Stahl oder Socken!“
„Mag sein, mag sein, aber Sie können das Interview auf keinen Fall nochmal verschieben. Sonst heißt es, Sie – wir – hätten was zu verbergen.“
Bökner nickte unglücklich. „Aber könnten Sie denen nicht einfach den Entwurf geben, den Sie mir von dem Interview gemacht haben?“
„Unmöglich – sowas können Sie vielleicht mit einem Volontär vom Tagblatt machen, aber Schwievler und Kropke – na, Sie wissen ja selbst, kritischer Journalismus und so.“
Bökner bleckte seine Zähne: „Aber so kann ich doch nicht –!“
„Nein, da haben Sie recht. Sie brauchen irgendwas – ah, ja, so ein großes Seidentuch vielleicht.“
Meißl stürmte ins Vorzimmer und kam mit einem Ungetüm aus grüngestreifter Viskose zurück. Er band es Bökner um den Hals. „Grün ist nicht ideal, das macht einen schlechten Teint. Aber andererseits ist es eine politisch kluge Note, und außerdem hat Frau Weßler kein anderes. Sie müssen es hochziehen und um den Mund hüllen – so – und am besten setzen Sie sich ein bisschen zusammengekrümmt hin, den Kopf nach unten, damit man ihr Gesicht nicht so genau sieht, verstehen Sie.“
„Es ist so – so unwürdig“, nuschelte Bökner unter seinem Tuch hervor.
Meißl reagierte beleidigt: „Ich will Ihnen ja nur helfen. Sie wollen doch einen möglichst guten Eindruck machen, oder? Tun Sie halt so, als ob Sie eine Erkältung hätten, sich aber pflichtbewusst und tapfer trotzdem dem Interview stellen.“
Er sah Bökner streng an: „Ein bisschen was müssen Sie für Ihr Image schon tun, umsonst ist nichts im Leben. Wenn Sie nun mal ein Vampir –“
„Ich kann ja nichts dafür! Ich habe keine Ahnung, wie –“
Die Sprechanlage summte – „Herr Schwievler und Herr Kropke vom Schauglas“.
Meißl straffte die Schultern und marschierte hinaus.
Bökner zog sich einen Zettelblock heran und nahm einen Stift; wenn er so tat, als ob er Notizen machte, wirkte seine gebeugte Haltung nicht so merkwürdig. Mit der Linken schob er das Tuch wieder hoch, das ständig am Herunterrutschen war. Seine Hände zitterten. Er, der immer Gelassene, immer Kühle fing an zu schwitzen, trotz Klimaanlage. Der bloße Gedanke an das bevorstehende Interview – gleich würden sie eindringen, ihn anstarren – Ruhig Blut, Bökner, nicht hysterisch werden!
Er nickte den beiden Männern nur vom Schreibtisch aus zu.
„Äh, keine langen Formalitäten, würde ich sagen“, Meißl lächelte nervös, „angesichts des angegriffenen Gesundheitszustands von Herrn Bökner undsoweiter …“
„Okay, keine langen Formalitäten“, Schwievlers Grinsen war entschieden boshaft. „Stimmt es, Herr Bökner, dass Sie sich für den Bau weiterer Fertigungshallen im Naturschutzgebiet starkmachen, unter Umgehung der gesetzlichen –“
„Es geht um fünfhundert Arbeitsplätze“, brachte Bökner heraus. Sein Konzept lautete weiter: „Umweltschutz ist eine wichtige Sache, auch eine schöne Sache, und ich respektiere diesen Standpunkt selbstverständlich“ – aber er hatte immer schlimmere Probleme beim Sprechen, und gerade diese vielen S-Laute – der Speichel lief ihm schon übers Kinn, seine Wangenmuskeln schmerzten – er kapitulierte. Er zerrte das Tuch noch höher, senkte den Kopf noch tiefer, schwieg.
Schwievler starrte ihn prüfend an. „Ist eigentlich etwas mit Ihrem Mund?“
„Erkältet“, stieß Bökner dumpf hervor.
Schwievler schüttelte ungläubig den Kopf. Wenn er bloß nichts merkt, flehte Bökner irgendeine höhere Macht an – sie dürfen einfach nichts merken, das wäre das Ende. Schweiß lief Bökner in die Augen, brannte scheußlich – aber er wagte es nicht, ihn wegzuwischen.
Schwievler zuckte die Achseln, stürzte sich voll hinein. Er hatte die Schwäche des Feindes gewittert, stieß erbarmungslos zu. Munitionsabteilung und Araber – Blitzlicht – Schmiergeldverdacht beim U-Bahn-Auftrag – Blitzlicht – Chemieunfall im Zweigwerk – Blitzlicht. Bökner schloss verzweifelt die Augen – dritter Grad war das, jawohl, und er ein wehrloses Opfer – aber das war denen egal, wenn sie nur ihren Stoff kriegten, diese Bluthunde …
Er öffnete die Augen wieder, starrte verkniffen auf Schwievler – diese respektslosen Schmierer, nicht mal einen Schlips hatte dieser unzivilisierte Kerl für nötig gehalten, sein Hemd stand am Kragen unbekümmert offen. Er hatte einen langen Hals, dieser Schwievler, einen langen, weißen Hals... Bökner spürte plötzlich Hunger aufsteigen, das Frühstück war lange her –
Er stöhnte beinahe auf vor Entsetzen. Das hieß doch nicht etwa – er würde doch nicht – Bökner versuchte verzweifelt, an ein leckeres Käsebrot zu denken, oder Kartoffelsalat, oder Schokolade – hoffnungslos. Nichts davon reizte ihn – aber da war Schwievlers Hals, lang und weiß, und darin pulste das Blut, warmes rotes Blut... Bökners Finger krampften sich um den Stift, mit der Linken versuchte er verzweifelt, das Tuch oben zu halten, aber seine Hand zitterte so wild –
„He – so sagen Sie doch was, Herr Bökner. Hören Sie mir überhaupt zu?“ Schwievlers aggressive Stimme drang an sein Ohr. Wie durch einen Schleier sah Bökner Meißls alarmiertes Gesicht, Kropkes Blitzlicht schlug grell in seine Augen – eine heiße Welle packte ihn, das Tuch rutschte ab, alles war auf einmal gleißend rot –
Bökner blinzelte verwirrt. Er stand vor seinem Schreibtisch, hielt Schwievler am Kragen, Meißl und Kropke starrten ihn entsetzt an – und durch seine Kehle rann etwas Köstliches. Er fühlte sich erfrischt und plötzlich sehr stark.
Er stieß den schlaffen Körper Schwievlers in den Stuhl zurück. „So, meine Herren“, er grinste Kropke und Meißl breit und offen an, „jetzt wollen wir mal klare Verhältnisse schaffen.“
Bökner zog aus einem Papierstapel Meißls Entwurf des Interviews hervor. Er drückte ihn dem entgeisterten Kropke in die Hand: „Hier – drucken Sie das. Sie werden sich doch sicher nicht Ihren Ruf als seriöser Journalist verderben wollen?“ Bökner wischte sich energisch den Speichel vom Kinn – war es Speichel? Oder was Rotes? – und fuhr vergnügt fort: „Wenn Sie zum Beispiel eine absurde Räuberpistole schreiben wollten, über einen leitenden Angestellten einer bekannten Firma, der buchstäblich zum Vampir geworden ist – der Menschen beißt und Blut aussaugt undsoweiter – also, das würden Sie ja gar nicht erst trauen zum Druck anzubieten, oder? So dämlich werden Sie ja wohl nicht sein.“
„Ich – ich habe die Fotos“, Kropke starrte ihn bleich, aber trotzig an, „als Sie ihn – gebissen haben, da habe ich fotografiert.“
„Jämmerliche Fotomontagen – dass die echt sind, nimmt Ihnen kein Mensch ab – wirklich ein geschmackloser Versuch, sensationsgeile Leser anzulocken. Im Übrigen – soweit ich weiß, kann man Vampire nicht fotografieren, genauso, wie man sie nicht in Spiegeln sehen kann. Vermutlich ist auf Ihren Bildern nur der Journalist Schwievler zu sehen, wie er entgeistert ins Leere glotzt – nicht sehr aufregend für Ihre Leser, oder“
Siegesgewiss bleckte Bökner die Zähne.
Kropke ging hastig die Fotos auf seinem Display durch, wurde noch bleicher, biss sich auf die Lippen, überlegte fieberhaft. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er zeigte auf Schwievler, der bewusstlos in seinem Stuhl hing. „Was ist mit ihm?“
„Wir werden selbstverständlich alles wiedergutmachen“, versicherte Meißl rasch, „wir bringen ihn in die Krankenstation, da haben wir Blutkonserven für Notfälle – er wird bald wieder auf den Beinen sein, hoffe ich.“
Kropke starrte Bökner an und schüttelte dann verwirrt und bekümmert den Kopf: „Das wäre absolut die Story – was man da rausholen könnte – aber Sie haben gottverdammt recht, kein Schwein würde mir das jemals abnehmen. Scheiße.“ Mit einem beklommenen Seitenblick auf Schwievler verschwand er.
Erleichtert grinste Meißl Bökner zu: „Sieh einer an, die Sache hat vielleicht sogar irgendwo ihre Vorteile. Da kann man womöglich nicht schlecht Kapital draus schlagen, wenn man es geschickt macht. Wir müssen nur –"
„Ich weiß nicht“, Bökner wischte sich nochmal ernüchtert übers Kinn, „irgendwie ist es aber auch verdammt unangenehm.“
„Ändern können Sie es sowieso nicht. Und solange es anhält, muss man das Beste daraus machen, oder?“
„Ich könnte Sie ja auch beißen“, schlug Bökner boshaft vor.
Meißl wich erschrocken zurück: „Wenn Sie – äh, Hunger haben – dann lassen wir eine Blutkonserve aus der Krankenstation kommen, ja? Ich muss sowieso anrufen, wegen Schwievler.“
„War nur ein Scherz“, Bökner winkte müde ab.
Seufzend legte Bökner einen Papierstapel beiseite. Er sah auf die Uhr – 23 Uhr 58. Meißl hatte ihn davor gewarnt, sich tagsüber nach draußen zu wagen – hier in der Firma schützten ihn die getönten Scheiben, die alles mögliche herausfilterten. Aber draußen, im vollen Sonnenlicht – man konnte ja nicht wissen – Vampire und Tageslicht … Und die Leute auf der Straße …
Doch nun war es schon lange dunkel, sicher konnte er jetzt ungefährdet heimgehen.
Seine Digitaluhr piepste zwölfmal. Mitternacht.
Irgendwas fühlte sich plötzlich anders an – Bökner griff sich verwirrt ans Kinn. Verschwunden – die Vampirzähne waren verschwunden! Er stürmte aus dem Büro, in den Waschraum. Aus dem Spiegel starrte ihm sein Gesicht entgegen, blass, aber ansonsten ganz normal. Keine Vampirzähne. Und er konnte sich wieder im Spiegel sehen. Er lachte laut auf vor Erleichterung – jetzt war alles wieder gut.
Er trat aus dem Waschraum. Mitternachtsstille hing über Büros und Gängen, heruntergefahrene Beleuchtung.
Doch – halt – da näherten sich Schritte. Einer von den Security-Typen?
Bökner drehte sich um; er erkannte die Gestalt in dem schwachen Licht jedoch erst, als sie schon ziemlich nah herangekommen war: „Ach, Sie sind's Schwievler! Tut mir leid wegen meinem – äh, Übergriff auf Sie – aber jetzt ist der ganze Spuk zum Glück ja wohl vorbei. Sie müssen noch einen Verband tragen, wie ich sehe? Aber wieso eigentlich bis zum Gesicht hoch? Sie -- oh Gott! Hören Sie, Sie werden doch nicht rachsüchtig sein – seien Sie doch vernünftig, das bringt doch nichts – wir haben jede Menge Blut auf der Krankenstation, das können Sie alles haben – aber Sie werden doch ni-“