Die Sau rauslassen – knallwörtlich, jawohl.
Er war lässig durch das imposante Hotelfoyer geschlendert, ganz der Teuer-Coole, von den eleganten Lederschuhen übers Edelsakko bis zum Seidenschal.
Das meiste geliehen, aber das musste sein. Sonst hätten die ihn so schief angeschaut wie damals.
Damals. Hier. Es war wie ein ganz schlimmer Zahn, an den man nicht mit der Zunge stoßen durfte. Er konnte nur so flüchtig dran vorbeidenken, das tat schon weh genug, wenn die Bilder durchhuschten: die verachtungstriefende Miene des Befrackten an der Rezeption, weil seine Kreditkarte nichts mehr hergab, Marinas geschocktes Gesicht. Sein schamvolles Stottern, dass er sich Bargeld besorgen würde, irgendwie – was ihn aber nicht mal selber überzeugte und sowieso nichts nützte, weil der Befrackte in der Hochsaison nicht verhandeln wollte und das Zimmer wohl schon per Mausklick wieder vergeben hatte, an einen zahlungskräftigeren Gast. Dann sein eigenes gedemütigtes Davonschleichen, der miese Rest des Wochenendes, Marinas Abschied, endgültig …
Es würde immer schmerzen, auch in hundert Jahren noch.
Aber vielleicht nicht mehr ganz so sehr, nach heute Nacht. Rache versüßt bittere Erinnerungen.
Millionäre schlenderten ja heutzutage auch in Jeans und Turnschuhen durch Hotelhallen. Aber irgendwie hatten die Typen an der Rezeption wohl einen besonderen Blick, einen Laserstrahl, mit dem sie Jeansträger wie Hologramme abtasten konnten. Und die Millionäre hatten wahrscheinlich sowas wie eingewebte Dollarzeichen, und solche wie er selber hatten als eingewebtes Muster – naja, abgenagte Gräten vermutlich …
Aber in diesem Aufzug, im teuren Anzug, konnte er seelenruhig zum Lift schlendern, keiner stellte ihn. In Frage.
Das Einhacken ins Reservierungssystem hatte ihm ein ideal geeignetes freies Zimmer gezeigt. Ebenerdig im abgelegenen Nebenflügel, und die Zimmer links und rechts nicht nur leer, sondern auf "defekt" – Licht, Klo, Heizung, was auch immer. Jedenfalls heute Nacht keiner drin.
Keine Schlüssel, sondern Karten, und er hatte seine höchsteigene Karte hergestellt. Hatte den Magnetstreifen gefüttert mit dem datentechnischen Äquivalent zu der Wurst, mit der ein Einbrecher früher den Hofhund bestochen hatte …
Aber er war kein Einbrecher. Er würde nichts mitgehen lassen. Nicht mal ein Hotelhandtuch. Nein, ganz im Gegenteil …
Er hantierte kurz mit der Karte, die Tür sprang auf. Er sah sich nur flüchtig im Zimmer um, nickte zufrieden und steckte die Karte wieder ein. Dann machte er es sich mit einem Buch im Sessel am Fenster bequem. Abwarten war jetzt angesagt, bis ungefähr drei Uhr morgens, die richtig tote Zeit, in der selbst in diesem teuren, aber doch eher ländlich gelegenen Hotel am Empfang nur ein Telefon mit Durchwahl zu einer Rufbereitschaft grüßte.
Auf dem Weg zum Hotelparkplatz runzelte er die Stirn. Auch wenn er für das Zimmer nichts zahlen musste – es war nicht so, dass diese Nacht ihn nichts kostete. Da waren der neue Reifen und das Benzin für den Transporter, und die drei Flaschen feinster Wodka für den Schorschi vom Bio-Hof. Die erste der Flaschen war hoffentlich schon voll in Action; der Schorschi hatte zwar zögernd zugestimmt, aber man wusste ja nie, ob er im letzten Moment nicht doch noch kalte Füße bekam. Dagegen war der Wodka das beste Mittel. Auch ein grüner Typ würde blau alles rosa sehen.
Wie gesagt, kein ganz billiger Spaß. Aber man gönnte sich ja sonst nichts...
Es war natürlich nicht nur ein Schwein. Das wäre einfach zu milde gewesen. Es waren ein Schwein und fünf Ferkel – schon wegen des Tierschutzes, die Kleinen sollten doch nicht von Mama getrennt werden, von ihrer gefühlt scheunengroßen, zentnerschweren Mama, deren warmrosa Haut unter einer sanft stinkenden Schicht Dreck durchschimmerte.
Er hatte auch kurz darüber nachgedacht, den Papa mitzunehmen, einen gescheckten, preisgekrönten Super-Bio-Eber. Aber er hatte die unangenehme Erfahrung machen müssen, dass auch Bio-Schweine sich nicht politisch korrekt verhalten. Wenn ein Fremder irgendwo in Sichtweite seiner gemeinen Schweinsäuglein geriet, rammte der Bio-Papa-Eber einfach als ordinäres, reaktionäres Macho-Schwein seinen stinkenden Betonschädel in Richtung Mitgeschöpf. Also hatte er Papa Schwein doch lieber im sicheren Verschlag gelassen. Dieser Bio-Rambo wäre ja bestimmt sehr wirksam gewesen, so im Nahkampf mit dem Hotelpersonal, sozusagen die Wasserstoffbombe dieses Privatkriegs – naja, mehr Schwefelwasserstoffbombe … Jedenfalls hatte er von dem Eber dann doch lieber Abstand genommen und sich an Mama Schwein und den quiekigen Rest der Familie gehalten. Schon die unberechenbaren Zentner der Mama hatten ihn bange Augenblicke, ein paar blaue Flecke (Überreaktion …) und generell ziemlich Nerven gekostet.
Und es war nicht nur ein Schwein. Kurz hatte er über Rinder nachgedacht, der Schorschi hielt Highland-Rinder mit imposant langen Hörnern. Aber das war ihm dann doch eine Nummer zu groß – das Transportproblem … Dafür hatte er sich dann noch ein halbes Dutzend Hühner dazugepackt, und ein paar stattliche Kaninchen – Belgische Riesen oder wie die hießen. Das eine Kaninchen hatte ihn heftig in den Finger gebissen; erstaunlich, was diese Nager-Quetschzähne anrichten konnten. Aber man musste halt Opfer bringen, und Rache war eben ein blutiges Geschäft.
Er hätte die Tiere natürlich auch einfach gleich in die Gänge setzen können. Aber das wäre zu früh gewesen für den richtigen Knalleffekt. Er musste eine Zündschnur von exakt der richtigen Länge legen, sozusagen. Und dazu musste er die Viecher erst mal in das Zimmer bringen.
Um drei Uhr morgens war das tatsächlich möglich. Er hatte es sich schwieriger vorgestellt; es ging erstaunlich glatt.
Nur einmal lief ihnen eine Spätheimkehrerin über den Weg. Er war gerade dabei, Mama-Schwein von der Hintertür am Parkplatz durch den Korridor zu treiben. Wie angewurzelt blieb er stehen, als er jemanden kommen sah. Aber Mama-Schwein marschierte mit dem ganzen Selbstbewusstsein ihrer stinkenden Zentner auf die Dame zu und beschnüffelte sie.
Die Frau murmelte unsicher etwas – wasn das fürn Riesenhund?! und wankte dann mit einem dezenten Rülpser davon. Gottseidank, die war offensichtlich zugetankt bis unter die Kiemen.
Er lachte erleichtert auf und sagte mit einer schwungvollen kleinen Verbeugung zu Mama-Schwein: "Ich muss mich für das Verhalten der anderen Gäste entschuldigen!"
Vielleicht war es die altmodische Höflichkeitsgeste, jedenfalls ließ Mama-Schwein sich brav und nur ganz leise grunzend ins Hotelzimmer befördern. Die kleinen Quieker trug er im Wäschekorb hinterher, und holte dann die Kaninchen, ebenfalls im Wäschekorb. Die Hühner veranstalteten ein aufgeregtes Geflatter im Korb, aber schließlich war auch dieser Gefahrentransport glücklich erledigt.
Er schloss die Tür hinter sich und dem Getier und atmete tief ein. Dann holte er sein Handy heraus.
Er musste es ziemlich lange klingeln lassen. Um diese Tages-, oder genauer Nachtzeit, schlief die Dame natürlich. Als Reporterin bei einer auflagenstarken Zeitung – manche sagten: regionales Revolverblatt – hatte sie einen harten Arbeitstag.
Aber schließlich meldete sie sich.
Er zischte in das Telefon: "Los, ziehen Sie sich was über, schnappen Sie die Kamera und halten Sie sich bereit – in spätestens fünf Minuten wird hier der Teufel los sein."
Die atemlose Gegenfrage: "Und – die – die prominente Persönlichkeit, wie Sie versprochen haben, die wird dabei sein?"
"Zimmer sieben. Und nicht vergessen, den Link reinzutun", erinnerte er sie noch.
Er hoffte, sie würde ordentlich arbeiten, so dass das Ganze auch auf den klassischen Kanälen groß rauskam. Er selber würde sein Video ins Internet stellen, aber er hatte nicht viele Follower und war angewiesen darauf, dass die Zeitungsleser querklickten.
Die Musikanlage im Hotelzimmer war solide Qualität, das musste man ihnen lassen. Auf Vollstoff gedreht, würde sie vermutlich auch noch die Typen im dritten Stock aus den Betten hauen.
Die Ferkel quiekten leise, die Hühner gackerten vor sich hin, die Kaninchen hoppelten unruhig herum. Er öffnete die Tür, schubste und scheuchte seine Mannschaft – nein, Tierschaft – in Richtung Gang.
Dann zog er die Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Er selber rauchte nicht, aber Schorschi, der seine bio-gefütterte Lunge gerne mal teerte, hatte ihm großzügig eine überlassen.
Er drehte die Anlage auf. Voll auf. Vintage Heavy Metal mit gefühlten tausend Gigawatt.
Das würde die Leute aus den Betten blasen – die Gäste dieses „diskret-eleganten“ Hotels - einschließlich eines gewissen Promis, der glaubte, hier eine ruhige Nacht mit seiner heimlichen Affäre verbringen zu können. Dass er zufällig davon erfahren hatte, war sein großer Glücksfall gewesen, Trigger für den Racheplan.
Grinsend hielt er die Zigarette unter den Rauchmelder. Selbst der Promi und sein Girl mussten bei Feueralarm aus dem Zimmer kommen.
Chaos hoch zwei, medial dokumentiert. Marketing-Super-GAU für das Hotel. Süße, schweinische Rache.
Die Tiere rannten nun, von der höllischen Musik und dem gellenden Alarm aufgescheucht, vor ihm den Gang entlang, an den Zimmern vorbei, in die Hotelhalle, wo der Sammelpunkt bei Feueralarm war.
Die ersten Leute tauchten an den Zimmertüren auf, erst verschlafen blinzelnd, dann mit weit aufgerissenen Augen.
Er drückte sich in eine Ecke der Hotelhalle und begann mit seinem Handy zu filmen. In dem allgemeinen Durcheinander fiel er erst mal nicht auf, und nach einer Weile würde er sich verdrücken.
Er hatte mit der Reporterin ausgemacht, dass sie ihn anrufen würde, wenn sich die Aufregung etwas gelegt hatte. Er würde sich dann als ein ihr bekannter Bauer ausgeben, der helfen wollte. Sie hatte achselzuckend gemeint, dass sie selber sich da schon rausreden würde, sie verließ sich auf „Quellenschutz“ und ihre langjährig geübte Unverfrorenheit.
Doch für ihn und Schorschi war das der kritischste Teil seines ganzen Plans: Wenn das Hotel sich querstellte und die Tiere quasi als Beweismittel behalten wollte, wurde es schwierig. Er setzte allerdings darauf, dass sie ihre tierischen Gäste erst mal so schnell wie möglich wieder loswerden wollten, bevor sie auf den teuren Teppichen des Hotels größere Mengen an Bio-Abfall produzierten …
Und im allerschlimmsten Fall musste er Schorschi halt eine Menge Schweinebraten bezahlen.
Aber das war es ihm wert.