Sie erklärten nicht viel. Bevor ich so richtig begriffen hatte, was eigentlich los war, waren sie schon wieder weg.
Polizei. Ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Mein ganzes über sechzigjähriges Leben lang noch nicht. Nicht mal wegen Falschparken oder so. Und jetzt das: Kriminalpolizei. Ladung zu einer Gegenüberstellung und DNA-Probe. Wegen Mord!
Es war dieser Fall, so viel hatten sie uns zu verstehen gegeben. Der Schlagzeilenmörder: der Neue Ripper. Ein Serienkiller, ein Wahnsinniger offensichtlich. Frauen brutal ermordet, schon fünf Opfer. In ihrer Wohnung erschlagen. Die Leichen zerstückelt, die Wohnung verwüstet, Blut und Zerstörung überall. Die Kriminalpolizei hat erste Spuren.
Ich saß verstört auf dem Sofa, versuchte, irgendeinen Sinn in das alles zu bringen, die Zusammenhänge zu verstehen, trotz der kargen Informationen, die sie preisgegeben hatten. Alle Männer, die in diesem Hochhaus wohnten. Oder in den Nachbarhäusern. Oder die hier häufig zu Besuch kamen.
Warum? Warum verdächtigte man gerade uns? Die Morde waren doch in ganz anderen Stadtteilen passiert, viele Kilometer von hier. Wie kamen sie darauf, ausgerechnet uns hier zu verdächtigen?
Ich kenne zwar kaum jemanden hier wirklich; im Hochhaus sind Nachbarn meistens nicht mehr als Namen auf Türschildern, ein paar flüchtige Anblicke im Vorübergehen. Aber irgendwie – sie gehören doch alle zu meinem ganz normalen Leben. Ich sehe sie im Aufzug oder im Treppenhaus oder unten im Waschkeller; ich höre, wenn sie die Musik laut stellen, Möbel herumrücken oder die Wasserhähne aufdrehen.
Einer von ihnen ein wahnsinniger Mörder – das konnte doch nicht wahr sein. Das musste ein Irrtum sein, irgendwie.
Möglich war es natürlich schon, theoretisch. Gerade in so einem Betonkasten, in dem keiner keinen kennt. Möglich war es schon, ja. Aber trotzdem – so unvorstellbar. Und die Morde waren doch ganz woanders passiert, weit weg.
Einen Tag später klingelte es. Ich spähte durch das Guckloch. Ein Mann stand ein paar Schritte von der Tür entfernt, sah mit müden Augen ins Leere. Nach einem Moment der Verwirrung erkannte ich ihn: Mein Nachbar von rechts, Türschild „B. Gerber“, ein paarmal hatte ich einige Worte im Aufzug mit ihm gewechselt. Ein Nachbar, von dem man ansonsten fast nie etwas hörte, ein ruhiger, kleiner Mann um die siebzig. Hinter Gerber warteten zwei Männer mit gleichgültigen Gesichtern. Ich hatte sie gestern gesehen. Kriminalpolizei, schon wieder. Was wollten sie von mir? Ich hatte doch nichts getan! Und mein Termin für die Gegenüberstellung war erst morgen.
Es klingelte nochmal. Ich fuhr zusammen, ballte die Fäuste, entspannte mich wieder. Holte tief Luft und öffnete langsam.
Die beiden Männer standen schweigend da. Gerbers Stimme war leise, angenehm. Er trug seine Bitte zügig und fest vor, aber ohne zu drängen. Er musste weg, für die nächsten paar Wochen vermutlich. Ob ich in dieser Zeit seine Katze versorgen könnte?
Ich starrte Gerber an. Automatisch stimmte ich zu, hörte wie von ferne Gerbers Stimme – „das Katzenstreu im Flur, das Futter im Küchenschrank“ …
Wortlos nahm ich den Wohnungsschlüssel, den Gerber mir entgegenhielt. Gerber bedankte sich mit förmlicher Höflichkeit. Dann führten sie ihn ab.
Ich stand in der offenen Tür und starrte auf den Schlüssel in meiner Hand. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Gerber eine Katze hatte. Ich mag Katzen. Ich sah hoch.
Gerber und die beiden Polizeibeamten verschwanden gerade im Aufzug. Wirklich ein kleiner Mann, Gerber, klein und mager. Das alles konnte nur eines bedeuten. Sie hatten Gerber als Mörder verhaftet.
Blutgieriger als Jack the Ripper. Der Killer, der seine Opfer zerfetzt. Der erbarmungslose Schlächter. Mein ruhiger Nachbar mit den müden Augen und der leisen Stimme. Es musste ein Irrtum sein, irgendwie ein gigantischer Irrtum – oder?
Ein paar Tage später erfuhr ich, warum man ausgerechnet die Männer in unserem Hochhaus verdächtigt hatte. Wegen der Liste. Eine Liste mit den Namen und Adressen der getöteten Frauen, dazu weitere Namen und Adressen. Potentielle zukünftige Opfer, vermutlich. Man hatte die Liste in einer unserer Mülltonnen gefunden.
Eine ältere Dame, die das zusammengeknüllte Papier oben in einer von den Mülltonnen liegen sah, fischte es heraus. Nicht, weil es verdächtig aussah, sondern weil sie es gewissenhaft in den Altpapierbehälter tun wollte. Dabei strich sie es glatt und wunderte sich, erinnerte sich halb …
Und dann war da der Nachbar der letzten getöteten Frau. Einige Stunden vor der Tatzeit hatte er einen Mann gesehen, der die Frau besuchte. Er hatte den Mann deutlich gesehen, er würde ihn wiedererkennen.
Er hatte Gerber sofort eindeutig identifiziert. Und Gerber hatte nicht versucht, zu leugnen oder zu argumentieren. Er hatte nur gebeten, noch einmal kurz in seine Wohnung zu dürfen, um sich ein paar Sachen zu holen, die Versorgung seiner Katze zu regeln. Dann war er sanft und still ins Gefängnis gegangen. Zu den Mordvorwürfen äußerte er sich nicht. Er sagte einfach – nichts. Das alles erzählte mir sein Anwalt. Er hatte mich wegen eines möglichen Alibis kontaktiert, aber da konnte ich ihm nicht helfen. Wann Gerber zuhause gewesen war oder nicht – keine Ahnung. Man hörte ja nie etwas.
Ich versorgte gewissenhaft seine Katze. Es war eine schöne Katze, silbergrau getigert, mit goldenen Augen. Sie beschnüffelte vorsichtig meine Hosenbeine, strich dann um mich herum, schnurrte leise. Ich fütterte sie und goss die Blumen auf dem Fensterbrett. Die Katze eines Mörders, die Blumen eines Mörders, schoss es mir durch den Kopf. Idiotisch.
Die Wohnung war ordentlich aufgeräumt und sauber, geschmackvoll aber ein bisschen langweilig möbliert. Ich hatte keine Probleme, mich darin zurechtzufinden. Unsere Wohnungen sind ja genau gleich geschnitten. Eine wie die andere.
Nur dass Gerber jetzt im Gefängnis wohnte.
Warum hatte er es getan? Ich sah mich in der hellen Wohnung um und konnte es nicht verstehen. Aber vermutlich kann man sowas nie verstehen.
Es war ziemlich kalt. Ich schauderte kurz und verließ die Wohnung eilig wieder.
Ich besuchte Gerber hin und wieder im Gefängnis. Wir sprachen über unwichtige Dinge – verschiedene Sorten Katzenstreu, das Wetter. Er bot mir Geld für weiteres Katzenfutter an, aber ich lehnte es ab. Die schöne silbergrau getigerte Katze wohnte inzwischen in meiner Wohnung. Sicher gab es dafür vernünftige Gründe. Es war nicht so kalt wie in der anderen Wohnung, und nicht so leer. Die Katze hatte Gesellschaft, und für mich war es einfacher. Aber trotzdem kam ich mir irgendwie wie ein Verräter vor.
Ich zögerte kurz. „Ich würde gerne wissen – die Katze – wie heißt sie eigentlich?“
„Sie wollen wissen, wie die Katze heißt?“ Es war das erste Mal, dass ich ihn lächeln sah. Ein ganz flüchtiges Lächeln, nur ein kurzes Aufblitzen, aber dennoch eindeutig ein Lächeln, fremd um seine Mundwinkel: „Zuerst habe ich geglaubt, sie wäre ein 'Er'. Deshalb heißt sie – Parzival.“
Ich verstand es falsch. Ich dachte, er hätte über den unpassenden Namen gelächelt, die übliche alberne Sache. Mehr nicht.
Aber in der Nacht danach wachte ich plötzlich auf, und da verstand ich es. So wie man oft tagsüber redet, hört und handelt – und erst nachts versteht man, was wirklich los war, was wirklich los ist. Wenn die Welt ganz dunkel, still und leer ist, nichts mehr zum Verstecken da.
Es war ja ganz klar. Er hatte nicht gelächelt, weil der Name unpassend war – ganz im Gegenteil, weil er so passend war, der Name. In dieser Situation jetzt.
Parzival. Der schüchterne Ritter, der den kranken König nicht nach seiner Krankheit fragte. Der die entscheidende Frage nicht stellen wollte oder konnte. Die Frage nach den Leiden des anderen. Aus Feigheit und Dummheit. Aus Angst vor der Antwort.
Wie ich. Und ich war nicht nur dumm und feige, sondern vor allem gleichgültig.
Nein, nicht gleichgültig, versuchte ich mich zu wehren, ich habe mich doch um ihn gekümmert. Hätte auch nicht jeder gemacht. In der Situation, für – einen Mörder. Seine Katze gefüttert, seine Blumen gegossen, ihn im Gefängnis besucht. Oh ja, so wie es sich gehört, und mehr als das. Aber letzten Endes doch genau bis dorthin und nicht weiter. Damit du mit dir zufrieden sein kannst. Und es gibt so viele gute Gründe, keine Fragen zu stellen, die Frage nicht zu stellen. Und wahrscheinlich hätte er ja sowieso nicht geantwortet.
Aber wenn es deine ganz eigene Frage gewesen wäre, zu deinem persönlichen Leben und Tod – dann hättest du gefragt. Wenn du ein unheilbar Kranker gewesen wärst und er der einzige Arzt auf der Welt, der vielleicht ein Heilmittel kennt – du hättest ihn Tag und Nacht bestürmt und nicht lockergelassen...
Ich hatte geahnt, dass ich ihn fragen sollte, dass ich ihn fragen musste. Hätte müssen sollen. In der Dunkelheit der Nacht konnte ich es sehen. Er hatte es mir sagen wollen, die ganze Zeit schon. Aber ich hatte es lieber nicht getan. Um auf der sicheren Seite zu bleiben. Dass er auf der anderen Seite war, der stürmischen – nun, das war sein Pech. Und jetzt stand ich an dem Abgrund zwischen uns und merkte, dass dieser Abgrund zu meinen Füßen genauso lag wie zu seinen.
Ich musste ihn fragen.
Aber noch während ich das beschloss, begannen sich schon die Ausreden in meinem Kopf zu formen. Letzten Endes war und blieb es eine unverschämte Einmischung. Bloß weil ich mich um drei Uhr nachts als verhinderter Gralskönig fühlte – vielleicht hatte ich das fremde Lächeln ja missverstanden. Wenn er mir etwas hätte sagen wollen, dann hätte er es doch sagen können. Nach allem, was ich getan hatte, wusste er doch, dass ich ihm Verständnis entgegenbringen würde.
Würde ich das? Wusste er das?
Zweifel. Angst. Angst, dass meine Frage empört abgelehnt werden würde – höflich, vielleicht, wie es seine Art war, aber letzten Endes – eiskalt abgewiesen. Lächerlich vielleicht zu glauben, dass er mir eine Antwort auf so eine Frage geben würde, sogar geben wollte. Verachtung in seinen müden Augen für meine Taktlosigkeit, und krampfhafte Munterkeit auf meiner Seite, um ihn nicht sehen zu lassen, dass ich mich verletzt fühlte. Abgewiesen werden. Wie überaus peinlich und erniedrigend. Für mich.
Und dann die Angst, dass er mir die tiefste Zerrissenheit einer kranken Seele offenbaren könnte, mir als Mitwisser, Mitträger sein ganzes intimes Chaos aufbürden würde – Qualen, Aggressionen, Leidenschaften, Hass, Verzweiflung. Entblößung. Wie überaus peinlich und erniedrigend für ihn – und für mich. Vor allem wieder für mich. Angst. Angst vor der Antwort.
Aber ich musste ihn fragen. Ich konnte vor mir selber nicht mehr zurück. Jetzt nicht mehr. Vielleicht hatte ich ihn tatsächlich missverstanden. Vielleicht hatte ich alles völlig falsch verstanden, ja. Aber jetzt musste ich die Frage stellen. Alles andere wäre feiges Kneifen gewesen.
Ich tat es wie ein miserabler Schauspieler bei einer Laienaufführung. Ich stieß die Frage wie einen Ball von mir, ängstlich und verkrampft, begierig, sie loszuwerden: „Warum – warum haben Sie es getan?“ Ich atmete hörbar aus.
Er nickte nur kurz und sagte dann ruhig: „Ich habe es gar nicht getan.“
Ich starrte ihn an. Unglauben, Enttäuschung, Verwirrung, müde Bitterkeit. Sicher, es war zu verstehen; so unwiderstehlich, einfach zu leugnen. Nein, Mama, ich hab‘s nicht getan – auch wenn man genau weiß, dass alles herauskommt. Aber man will es nicht gewesen sein; „Nein, ich bin es nicht gewesen.“ Aber nach den Zweifeln, den Kämpfen, unter denen ich mich zu der Frage durchgerungen hatte – ich war maßlos enttäuscht. Ich hatte ihm die Chance zur Wahrheit angeboten, um unser beider willen, und er log mich an. Log mich einfach an, platt und sinnlos. Was konnte ich noch tun?
„Warum sagen Sie das?“, fragte ich hilflos.
„Weil es stimmt“, seine Stimme war ausdruckslos.
„Aber – die Indizien! Die Liste – und der Nachbar, der Sie identifiziert hat –“
„Es sind eben – Indizien. Sie können auf alles mögliche hinweisen.“
„Aber – wenn Sie es nicht gewesen sind – warum tun Sie dann nichts?“
„Was sollte ich denn tun?“
„Na ja – erklären. Erklären, was das alles bedeutet. Sogar Ihr Anwalt ist doch ganz verzweifelt, weil er nicht weiß –"
Es war das erste Mal, dass ich ihn ärgerlich sah, fast verächtlich. „Mein Anwalt? Verzweifelt? Was für ein Unsinn. Er hofft, dass die Indizien gegen mich nicht zu einer Verurteilung ausreichen werden – sie haben keinerlei DNA-Material von mir bei den toten Frauen gefunden. Mein Anwalt hat also auf jeden Fall einen spektakulären Fall in den Händen, und es besteht immerhin eine kleine Chance, dass er ihn gewinnen kann. Mehr interessiert ihn letzten Endes nicht – vielleicht ist er ein bisschen neugierig, aber das reicht nicht weiter als bis zu ein paar wohlformulierten Ermahnungen, dass ich ihm gegenüber doch bitteschön offen sein sollte.“ Er hatte die Mundwinkel in bitterem Spott nach unten gezogen, die Nasenflügel leicht gebläht.
Lassen wir es dabei, schrie es in mir. Irgendwas Ablenkendes jetzt, etwas Belangloses, Unverfängliches...
Aber ich hielt es aus. Sah ihn schweigend an.
„Es interessiert nicht einen einzigen von ihnen wirklich“, sagte er leise, „nicht einen einzigen. Der Psychiater, der Pfarrer – sie wollen alle etwas von mir, und sie wollen mir vielleicht sogar etwas geben. Aber sie sind – überarbeitet, abgestumpft. Sie haben kein Interesse mehr übrig, an mir als Mensch. Und dann – möchte ich es nicht preisgeben. Nein – es interessiert keinen Menschen wirklich.“
Ich protestierte schwach: „Das ist nicht wahr.“ Dann erklärte ich verlegen: „Und wenn es nur aus – Neugier ist – aber jeder wüsste gerne, was wirklich passiert ist.“
Er schnaubte ärgerlich. „Soll ich diesen Bluthunden etwas hinwerfen? Damit sie sich darauf stürzen können, darüber geifern?“
„Nein“, ich schüttelte verlegen den Kopf, kam mir immer dümmer vor, „nicht so, so – meine ich das nicht. Aber ich – ich meine, es interessiert mich wirklich. Würden – würden Sie es mir sagen?“
Er starrte mich lange prüfend an. Dann nickte er langsam.
Nach einer Weile nickte er wieder: „Ich werde es Ihnen erzählen. Von Anfang an.“
„Meine Ehe war nicht glücklich“, fing Gerber mit sanfter, trauriger Stimme an. Ich machte unwillkürlich eine Bewegung, und er sah mich fragend an.
Ich zuckte verlegen die Achseln: „Es ist nur – dass Sie verheiratet sind. Irgendwie – ach, ich weiß, es ist natürlich idiotisch, aber Sie sehen so – so unverheiratet aus.“
Er schüttelte leicht den Kopf. „Meine Frau ist tot. Und meine beiden Kinder sind auch tot. Es ist niemand mehr – übriggeblieben. Nur ich.“
„Das – das tut mir leid“, ich sah ihn hilflos an.
Er fuhr sich über die Stirn und sagte dann: „Aber – es ist noch nicht vorbei. Es ist wohl nie vorbei. Das ist die Hoffnung – das ist der Fluch … Anne, die Zwillinge ...
Aber ich will von vorne anfangen. Gertie, meine Frau, war fast fünfzehn Jahre jünger als ich. Und – ach, es war ganz die übliche Geschichte, aber deswegen ist sie nicht weniger schlimm. Gertie war jung, hübsch und lebenslustig, und die – die Faszination, die sie wohl am Anfang für mich empfunden hatte, hielt nicht beliebig lange an. Nach wenigen Jahren war unsere Ehe eigentlich am Ende.
Aber da waren die Kinder, Michael und Julia. Und wir machten ihnen zuliebe weiter, irgendwie. Bis es eines Tages einfach nicht mehr ging und wir uns dann doch scheiden ließen. Die Kinder kamen, wie es halt üblich ist, zur Mutter. Michael war damals fünfzehn, Julia zwölf.“
Gerber senkte den Kopf und schwieg eine Weile. Dann sagte er langsam: „Ich habe meine Kinder wirklich geliebt, aber – es war schwierig. Gertie hatte nach der Scheidung eine Menge – Freunde. Männer. Manchmal jede Nacht einen anderen. Nicht für Geld, sondern um – um irgendwie alles das nachzuholen, vermutlich, was sie in der Ehe mit mir verpasst hatte – verpasst zu haben glaubte. Und sie trank zuviel; das hatte sie schon in der letzten Zeit unserer Ehe getan, und es wurde immer schlimmer.
Ich – ich hätte ihr helfen müssen, irgendwie, aber ich – ich wusste nicht wie, und eigentlich – eigentlich wollte ich auch gar nicht. Ich war wütend auf sie, in meiner Eitelkeit gekränkt, angewidert, was weiß ich – jedenfalls wollte ich mich so weit aus der ganzen Sache heraushalten wie nur irgendwie möglich.
Und damit habe ich auch meine Kinder im Stich gelassen. So, wie Gertie lebte, war es natürlich nicht der richtige Haushalt für ein zwölfjähriges Mädchen und einen fünfzehnjährigen Jungen. Michael ist immer wieder zu mir gekommen, wütend auf seine Mutter, verächtlich, hilflos, vorwurfsvoll – hat mich bestürmt, ihnen zu helfen, etwas zu tun. Ich sollte ihn und Julia da wegholen.
Aber – ich hatte eine andere Frau kennengelernt, mich noch einmal verliebt. Sie war – wie eine Fee, eine zierliche, silberblonde Fee. Eine Antiquitätenhändlerin, Hobbycellistin, Lyrikfreundin – ein bisschen wie ein Wesen von einem anderen Stern. Kinder hatten in ihrem Leben keinen Platz. Wenn ich mit Silke zusammenleben wollte, konnte ich die Kinder nicht zu mir nehmen. Und ich wollte mit Silke zusammenleben; wegen der Kinder habe ich einfach immer wieder mein Gewissen mit Geld beruhigt. Ich habe ihnen jede Menge Geld zugesteckt und ihnen gesagt, leistet euch dafür dies oder das. Natürlich war das alles ganz falsch, schrecklich falsch – aber damals – konnte ich einfach nicht anders. Und ich habe mir dauernd eingeredet, es würde letzten Endes schon gut gehen, irgendwie..."
Er schwieg. Sein Gesicht wurde ausdruckslos. Seine Stimme war ganz flach: „Dann hat eines Nachts einer von Gerties Männern Julia vergewaltigt und umgebracht. Sie war gerade vierzehn.
Während Gertie auf ihrem Bett lag und ihren Rausch ausschlief, hat er Julia vergewaltigt, und dann in Panik erwürgt. Als er versucht hat, die Leiche im Wald zu verscharren, hat ihn jemand gesehen und die Polizei benachrichtigt.“
Er schwieg kurz. „Er hatte einen guten Anwalt, der hat geschickt genutzt, dass sein Mandant viel Alkohol und Drogen im Blut hatte. Sie haben ihn zu fünfzehn Jahren verurteilt. Nach neun Jahren ist er rausgekommen, wegen guter Führung oder sowas. Ich war damals ganz bitter deswegen – wir waren alle nie über Julias Tod hinweggekommen, und der Mörder lief wieder frei herum. Aber das war – nicht richtig von uns. Er war letzten Endes auch nur jemand, der durchgedreht hatte. Mit schrecklichen Folgen – auch für ihn selbst.
Er hat sich ein Jahr später dann umgebracht. Und da ist mir klargeworden, dass man menschliche Qual nicht gegeneinander aufrechnen kann. Den Kummer über die eine gegen den Hass auf den anderen. Das ist keine Rechnung, die man machen kann, machen darf. Ich dachte, mein Schmerz würde schwächer werden, wenn ich ihn leiden sah, dafür leiden, dass er meine geliebte Tochter umgebracht hatte. Aber – irgendwann ist es dann umgekippt, und ich hatte nur noch Mitleid. Julia hatte gelitten, und nichts auf der Welt konnte das rückgängig machen. Es ging nur noch um meinen persönlichen Schmerz – und den ausgleichen zu wollen, indem ich mich an den Schmerzen eines anderen weidete – nein, das war der ganz falsche Weg.“
Er hielt wieder kurz inne. Dann seufzte er tief. „Aber – Michael. Es war schrecklich. Er hatte Julia abgöttisch geliebt. Seine kleine Schwester, die zu ihm aufschaute, die ihn bewunderte, die er beschützen konnte – der einzige Mensch, der ihm in dem ganzen familiären Chaos noch wirklich nahestand. Und dieser Mann, dieser Freund von Gertie, hatte sie gequält, beschmutzt, umgebracht. Michael war wie wahnsinnig. Er wollte den Mann umbringen, seine Mutter umbringen, mich umbringen. Irgendjemanden töten, verletzen. Dafür, dass seine Julia sterben musste. Sein Hass war maßlos.“
Wieder seufzte Gerber, hob leicht die Schultern. „Wie kann man einem Jugendlichen, der gerade siebzehn ist, beibringen, was 'Verzeihen' heißt – nach so einer schrecklichen Sache – wenn nicht einmal die Erwachsenen in der Lage sind, ihren blinden Hass, ihre wilden Rachegefühle zu beherrschen? Wenn sie es vielleicht gar nicht einmal wollen?
Michael kam dann eine Weile in ein Heim, und schließlich hatte er sich wieder beruhigt. Äußerlich. Er war still und verschlossen geworden, aber er schien ansonsten ziemlich – normal. Er hat das Abitur gemacht, studiert, hat früh geheiratet, Zwillinge bekommen. Eigentlich war alles ganz in Ordnung. Anne ist eine wundervolle Frau, warmherzig und fröhlich, und die Zwillinge sind – einfach bezaubernd.“
Bei dem Gedanken an seine Enkelkinder trat ein Lächeln auf sein Gesicht. Doch dann verdüsterte sich seine Miene wieder. „Dann habe ich vor einigen Monaten Anne und die Zwillinge besucht. Michael war gerade verreist. Und – na ja, Sie wissen vielleicht, wie sowas ist – der Opa lässt alles mit sich machen, und Kinder haben die verrücktesten Ideen. Sie wollten, dass ich einen Papierkorb aufsetze, als lustigen Riesenhut. Also habe ich den Papierkorb in Michaels Arbeitszimmer ausgeräumt. Und dabei – ist sie mir dann in die Hände gefallen.“
Er sah plötzlich sehr alt aus. „Die Liste. Ich sah die Namen und Adressen der Frauen, und erst verstand ich nicht. Ich dachte – ach, ich weiß auch nicht so genau, was ich dachte, vielleicht, dass er Anne betrog. Aber dann erinnerten mich die Namen irgendwie an etwas, und plötzlich wusste ich die Wahrheit. Und ich wusste auch – warum.“
„Warum?“ fragte ich verständnislos.
„Ja, warum – er es tat. Ich hatte Fotos der toten Frauen gesehen – sie haben sie ja immerzu überall gezeigt, in den Zeitungen, im Fernsehen …“
Gerber schwieg.
„Und?“
„Sie sahen alle aus – wie Gertie. Ganz ähnlich wie Gertie – klein, rundlich, rötliche Locken. Gertie ist wenige Monate nach Julias Tod gestorben, an Leberkrebs. Michael konnte seinen Hass nicht mehr an ihr auslassen. Und deswegen –“
Es war ganz still im Raum.
„Also Michael war der Mörder“, sagte ich leise.
Gerber nickte schwer. „Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, dass sie ihn in ihre Wohnung gelassen haben – ob er sich mit ihnen angefreundet hat, oder ob er sich als Vertreter oder so ausgegeben hat. Ich habe auch keine Ahnung, wie er sich seine – seine Opfer ausgesucht hat. Ob er sie auf der Straße gesehen hat und ihnen dann gefolgt ist oder ober er sie über das Internet und Social Media ausgekundschaftet hat. Wahrscheinlich hat er deswegen die Liste gemacht – und wohl immer wieder ausgedruckt. Total riskant und eigentlich völlig unnötig, er hatte die Liste sicher auch auf seinem Handy. Über die Liste bei uns im Müllcontainer haben sie ja die Spur aufgenommen, und über den Ausdruck in seinem Papierkorb bin ich darauf gestoßen. Vielleicht – wollte er, dass man ihn ertappt, irgendwie.“
„Und was haben Sie getan, als Sie die Liste gefunden haben?“
„Ich habe versucht, die nächste Frau auf der Liste zu warnen“, sagte Gerber bedrückt.
„Deswegen waren Sie vor der Tat dort? Als der Nachbar Sie gesehen hat?“
Gerber nickte. „Ich – ach, ich weiß auch, dass es verrückt war. Hirnverbrannt. Ich hätte sofort zur Polizei gehen müssen. Aber ich war – wie betäubt. Nicht mehr fähig, klar zu denken. Der einzige vernünftige Gedanke, der noch durchkam, war der, dass ich diese Frau beschützen musste. Deswegen ging ich zu ihr.“
„Und was haben Sie ihr erzählt?“
„Lauter Unsinn, fürchte ich. Ich wollte sie zwar warnen, aber andererseits nicht Michaels Geheimnis preisgeben. Und ich war auch nicht unbedingt in der Verfassung, vernünftig und überzeugend zu reden. Ich habe ja schon gesagt, ich war völlig durcheinander. Ich nehme an, sie hielt mich für einen alten Spinner mit einer merkwürdigen Sorte von Verfolgungswahn. Oder vielleicht hat sie sich auch bedroht gefühlt – von mir, meine ich, und meinem Geschwafel über Gefahr und so. Jedenfalls hat sie mich energisch rausgeworfen.“
„Und dann?“
„Dann bin ich nachhause gegangen, um in Ruhe über alles nachzudenken. Ich glaubte, die Sache hätte noch Zeit, weil Michael ja verreist war. Zuhause rief ich Anne an und bat sie dringend, mir sofort Bescheid zu sagen, wenn Michael von seiner Reise zurückkam. Aber – gerade diese Reise war es wohl, die er als Vorwand benutzte. Ansonsten wusste Anne ja praktisch über jeden seiner Schritte Bescheid. Naiv, wie ich war, habe ich das nicht begriffen. Und dann war es zu spät.
Ich hörte es in den Lokalnachrichten. Die Nachricht über den Mord an der Frau. Ich war – völlig verwirrt. Wenn man sich etwas einmal fest eingebildet hat, klammert man sich ewig daran, biegt sich notfalls die ganze Welt völlig schief, nur um sie seiner Einbildung anzupassen. Ich war überzeugt, Michael wäre auf einer Geschäftsreise. Also, folgerte ich für eine Weile, konnte Michael zumindest diesmal nicht der Mörder gewesen sein.
Ich fing schon an, mich zu freuen, dass ich mich geirrt hätte. Aber dann – ahnte ich die Wahrheit. Ich rief bei Anne an, und sie erzählte mir freudig, Michael hätte gerade angerufen. In ein, zwei Stunden würde er heimkommen. Da wusste ich wieder, dass ich recht hatte.
Ich fuhr zur Straße, in der Michael wohnt. Als er kam, fing ich ihn an der Ecke ab. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, was ich herausgefunden hatte."
„Hat er – es geleugnet?“
„Nein. Nein, er hat nichts geleugnet. Er hat auch nicht getan, als ob er mich nicht versteht oder so. Er ist in seinem Auto gesessen und hat genickt. Er hat überhaupt nicht versucht, sich zu verteidigen, oder mir – Gründe zu nennen... Und er war auch nicht böse auf mich, oder verzweifelt. Er saß nur da und nickte, mit einem freundlich-nachdenklichen Gesicht. So, als ob er überlegte, was er den Kindern mitbringen sollte. Saß da, ganz freundlich, nur ein kleines bisschen traurig.“
Gerber vergrub plötzlich sein Gesicht in den Händen. Er ließ jedoch gleich wieder die Hände sinken; seine Miene war starr. „Ich – ich habe ihm gesagt, er muss in psychiatrische Behandlung, sofort. Und dass es so nicht weitergehen kann. Er hat wieder genickt und ganz ruhig gesagt, ‘Ja, du hast recht. So kann es nicht weitergehen.'
Dann hat er mich gebeten, bis zum nächsten Morgen zu warten. Wegen Anne und den Kindern. Er würde dann zu mir kommen, am nächsten Morgen, und mit mir zu einem Arzt gehen, sich in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen. Und ich – habe zugestimmt. Ich – ich wusste ja nicht, was er vorhatte. Und ich – wollte es auch gar nicht wissen.“
„Ist er – nicht gekommen?“
„Nein. Er hat sich umgebracht. Ein Schlauch vom Auspuff ins Wageninnere, in der geschlossenen Garage.“
„Aber – weiß seine Frau – ?“
„Nein. Anne weiß nichts. Auf einen Zettel hat er eine Abschiedsnotiz geschrieben: 'Meine Krankheit ist unheilbar. Lebt wohl.'
Sie glauben, er hätte sich eine Krebskrankheit eingebildet. Es gibt ja solche Menschen, die sich einbilden, sie wären unheilbar krank, und sich deswegen umbringen, auch wenn sie kerngesund sind. Aber ich – ich wusste natürlich, welche Krankheit er gemeint hat …“
„Glauben Sie, dass er recht hatte? Dass es – unheilbar war?“
Gerber zuckte die Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Ich bin kein Psychiater. Aber jetzt ist es sowieso zu spät.“
„Hätten – hätten Sie ihn gerettet, wenn Sie ihn rechtzeitig gefunden hätten?“
Gerber sah mich beinahe entrüstet an. „Natürlich! Der Tod ist nie ein Ausweg. Nicht wirklich.“
„Aber – gerade da – ich meine, in gewissem Sinne war es doch tatsächlich ein Ausweg für Ihren Sohn, oder? Wenn er weitergelebt hätte – ich weiß nicht –"
Gerber schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Es war kein Ausweg. Es hat doch nichts – gelöst …“
„Sie müssen der Polizei die Wahrheit sagen!“ drängte ich ihn.
Er seufzte und schüttelte schwer den Kopf. „Es ist scheußlich hier, ja. Aber es wäre auf jeden Fall für die Zwillinge schlimmer, wenn sie erfahren würden, dass ihr Vater ein Mörder war, nicht ihr alter Großvater – und Anne – und Michaels Freunde und Kollegen, die ihn geachtet und gemocht haben – Nein, es ist besser so. Schlimm – aber besser so.“
„Und Ihre Freunde und Bekannten? Und diese – Silke?“
Gerber schüttelte müde die Schultern. „Wir haben uns nach Julias Tod getrennt, und auch ansonsten habe ich kaum noch Kontakte. Und – letzten Endes bin ich ja schuld an dem Ganzen. Wenn ich Julia und Michael damals weggeholt hätte –“
„Das ist doch Unsinn. Sie sind nicht allein an all dem schuld, das ist nicht wahr. Da sind so viele Dinge zusammengekommen, so viele Leute haben da eine Mitschuld –“
Gerber schüttelte leicht den Kopf. „Das ändert aber nichts an meiner Schuld. Michaels – Andenken – das zu retten, das ist das einzige, was ich noch tun kann, um diese Schuld abzutragen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Aber Sie haben vorher selber gesagt, dass man solche Dinge nicht gegeneinander aufrechnen kann. Mit Schuld geht das genauso wenig wie mit Leiden.“
Plötzlich wurde ich richtiggehend wütend. „Und verdammt nochmal, Sie können sich doch nicht als Mörder verurteilen lassen, obwohl Sie es gar nicht waren! Das ist irgendwie – nicht richtig!“
„Wissen Sie, was richtig ist?“
Er sagte es sanft und nachdenklich, ohne jeden Vorwurf, ohne Spott. Es war eine echte Frage.
„Naja“, ich zögerte, „natürlich auch nicht, aber –“
„Wissen Sie es? Was richtig ist? Was ich tun sollte?“ Sein Blick war auf einmal flehend.
Ich erschrak. Den letzten Teil von Gerbers Bericht hatte ich mir angehört. Was für eine Sache! Seine Sache. Hatte ich mir dazu gedacht.
Und jetzt sollte ich entscheiden. Und – ja, es war auch meine Entscheidung. Nun war es auch meine eigene Entscheidung, nicht nur Gerbers.
Selbst wenn er stur blieb – ich konnte selber zur Polizei gehen und aussagen. Sicherlich konnten sie Michaels Schuld irgendwie nachweisen, wenn sie erst einmal auf dieser Spur waren.
Ja, es war jetzt auch meine Entscheidung.
Sollte ich, durfte ich etwas sagen? Sollte ich, durfte ich, musste ich schweigen?
Gerber sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick. Hob die Achseln.
„Ich weiß es nicht.“, sagte ich leise.
Er nickte. Wiederholte sanft: „Ich weiß es nicht.“
Nachts kann ich nicht schlafen. Ich stehe auf und laufe in der Wohnung herum. Parzival streicht um meine Beine. Im Hochhaus gegenüber brennt in manchen Fenstern Licht.