Weiterführung einer Idee von Romy Knechtel
Der vierundzwanzigste Dezember. Heiliger Abend. Endlich.
Alle Vorbereitungen waren erledigt. Mark hatte den Staubsauger schon weggebracht. Aus der Küche duftete es verführerisch. Der Tisch im Wohnzimmer war bereits gedeckt mit dem guten Geschirr.
Jetzt hatte Sylvie Zeit, sich den Baum anzusehen. Es lagen schon ein paar Geschenke darunter. Größere Päckchen. Nicht ungewöhnlich, schließlich erwarteten sie die Schwiegereltern und die beiden Teenager.
Sylvie suchte nach einem etwas kleineren Päckchen, in Juweliergröße, konnte aber keines entdecken.
Das hing sicher am Baum. So klein wie es war, konnte man es gut an einen der Äste hängen. Dort war es nicht so leicht zu entdecken, denn Mark hatte wieder üppig Strohsterne aufgehängt wie immer.
Der Küchenwecker klingelte. Jetzt hatte sie keine Zeit mehr, sich weiter um den Baum zu kümmern.
Mark war ja auch noch nicht ganz fertig mit den Vorbereitungen. Das kleine Päckchen würde bestimmt noch seinen Platz bekommen.
Jetzt musste sie sich der Küche widmen. Das Essen forderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Außerdem musste sie dann noch ihre eigenen Geschenke holen und unter den Weihnachtsbaum legen. Umziehen musste sie sich auch noch.
Es klingelte. Im Hausgang wurde es lebhaft, die Schwiegereltern mit den beiden Teenies kamen.
Der Junge – ziemlich wortkarg und muffig – war sechzehn und seine Schwester mit ihren vierzehn Jahren schnippisch und oft vorlaut. Beide waren Anhängsel von Marks Stiefmutter.
Doch was soll`s, es würde schon alles gut gehen.
Jetzt musste sie jedenfalls den Herd ausschalten, ehe sie nach draußen konnte, um die Gäste zu begrüßen.
Das übliche Durcheinander. Päckchen wurden unter den Christbaum gelegt, mehr oder weniger groß. Sylvie hatte keine Zeit, genauer zu schauen. Sie musste zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her pendeln, sich um den Service kümmern, wie immer an solchen Abenden.
Hektik pur, bis sich alle hingesetzt und das Essen vor sich stehen hatten.
Die Schwiegermutter brauchte unbedingt noch ein Glas Leitungswasser für ihre Tabletten.
Mark holte es aus dem Bad, weil es da am frischesten aus der Leitung kam. Neue Aufregung: Eine der drei Pillen landete auf dem Teppich und verschwand im Persermuster. Trotz hektischer Suche konnte die Tablette nicht mehr gefunden werden.
Alle beteiligten sich an der aufgeregten Suche, bis auf die beiden Teenies.
Sven, der sechzehnjährige, zog sein Handy aus der Hosentasche und fing an zu tippen.
Janina, seine Schwester beobachtete das Treiben mit verächtlich-versteinerter Mine.
Der Abend konnte ja heiter werden. Sylvie seufze. „Wenn wir nicht anfangen, wird das Essen kalt“, meinte sie zurückhaltend.
„Dann nimmst du eben die Tablette morgen früh, Mutter. Daran wirst Du nicht gleich sterben. Fangen wir an, ehe das Essen kalt wird“. Mark war leicht genervt. Außer ihm durfte keiner so mit seiner Mutter umspringen.
Mama schluckte, setzte sich auf ihren Platz, das Essen konnte beginnen.
Die Klippe war überwunden. Sylvie atmete auf und fing an vorzulegen.
Beim Essen konnte sie unauffällig hinauf zum Bücherregal schauen. Doch die beiden Bücher, hinter denen Mark das kleine Päckchen vor zwei Wochen versteckt hatte, standen ordentlich im obersten Regalfach wie immer. Sylvie konnte sich genau an die Titel erinnern: „Brehms Tierleben“ und „Die verborgene Wirklichkeit“ von Brian Greene. Beides dicke Bücher, hinter denen man schon so ein kleines, flaches Juwelierpäckchen verbergen konnte.
Am Christbaum konnte sie heute aber außer den vielen Strohsternen kein kleines Päckchen erkennen. Eine harte Geduldsprobe.
Endlich, das Festmahl war vorbei. Das Geschirr kam in die Küche. Später konnte man spülen und aufräumen.
Die Bescherung konnte beginnen.
Zuerst kamen natürlich die beiden Teenies, die sich eifrig daran machten, ihre Päckchen zu öffnen.
Dann natürlich die Schwiegermutter. Sie heuchelte Freude und war sehr überrascht.
Der Schwiegervater nahm sein Geschenk dankbar und gelassen entgegen.
Jetzt wurde Sylvie erst von Mark und dann auch noch von ihren Schwiegereltern beschenkt.
Befremdet nahm sie Marks Päckchen entgegen. Es war viel zu groß; wo war das Kkeine, das Mark vor zwei Wochen da oben im Bücherregal versteckt hatte?
Das Geschenk der Schwiegereltern nahm sie höflich entgegen.
Fast hätte sie vergessen, ihrem Mann ihr Geschenk zu überreichen.
Ihre Enttäuschung wurde nicht bemerkt von den anderen. Viel zu sehr waren die mit dem Auspacken beschäftigt. Die Papierberge wurden immer größer.
Sylvie fing an, das Papier zusammen zu legen und auf einen ordentlichen Haufen zu schichten. Sie musste sich beschäftigen, zu enttäuscht war sie noch.
Was war das nur? Wo war das kleine Päckchen? Sie hatte doch vor zwei Wochen genau gesehen, dass Mark dieses Päckchen hinter den beiden Büchern versteckt hatte. Unerklärlich. Fragen konnte sie ja auch nicht, ohne sich zu verraten. Ihre Laune sank, doch sie durfte sich nichts anmerken lassen. Vielleicht bekam sie das Päckchen noch später, wenn die anderen gegangen und sie beide allein sein würden. Sie lächelte, eine Überraschung nur für sie. Schön. Eine Weihnachtsüberraschung.
Der Abend nahm seinen Gang so wie jedes Jahr. Es wurde viel geredet, auch getrunken, keiner bemerkte, wie ruhig Sylvie geworden war. Jeder war nur mit sich selbst beschäftigt.
Die Teenager tippten und waren sowieso verloren für die Welt, hatten auch wie stets kein Interesse, sich an den Gesprächen zu beteiligen.
Als es Zeit wurde, zur Christmette zu gehen, zogen sie sich an und gingen gemeinsam in die nahe gelegene Kirche.
Nach dem Gottesdienst fuhren die Eltern mit den Kindern wieder zurück in die Schwedenstraße.
Jetzt war das junge Ehepaar alleine, endlich.
Mark gähnte: „So das wäre geschafft, jetzt bin ich rechtschaffen müde, ich geh ins Bett, kommst Du mit?“
„Die Küche“, wandte Sylvie ein, „das Geschirr muss wenigstens in die Spülmaschine geräumt werden, alles andere kann ich morgen früh machen.“
„Na gut, vielleicht bin ich ja noch wach, wenn du kommst“, Mark gähnte und ging ins Bad.
Silvie beeilte sich, die schlimmsten Spuren des Festmahls in der Küche zu beseitigen, spürte aber auch, die Strapazen des Abends. Morgen war auch noch ein Tag.
Endlich war das Schlimmste geschafft. Mit einem Aufatmen ging sie ins Bad, um sich bettfertig zu machen. Zähneputzen, waschen und, fast hätte sie das vergessen, ein paar Spritzer Parfum. Jetzt konnte sie zu Mark ins Schlafzimmer.
Leise öffnete sie die Tür, kein Licht, nur die nahe Straßenlaterne sorgte für etwas Beleuchtung.
Sylvie ging zu Mark`s Bett, „da bin ich, die Küche ist gemacht“. Sie beugte sich zu ihm und wollte ihm einen Kuss geben. Mark brummelte etwas Unverständliches und drehte sich weg. Er schlief schon. Damit hatte sie nicht gerechnet. Verletzt ging Sylvie zur anderen Seite und kroch unter ihre Decke. Mark schnarchte leise. Doch sie fand so schnell keinen Schlaf.
Es wurde eine wenig erholsame Nacht für Sylvie.
Die beiden Weihnachtstage waren angefüllt mit Besuchen und Gegenbesuchen verschiedener Freunde und auch Verwandten. Es blieb wenig Zeit und schon gar nicht für Aussprachen. Wie auch? Er wusste nicht, dass sie beobachtet hatte, wie er zwei Wochen vor Weihnachten das ominöse Päckchen hinter den beiden Büchern im oberen Regalfach versteckt hatte und sie konnte es auch nicht vor ihm zugeben. Inzwischen hatte Sylvie auch schon nachgesehen, ob dieses Päckchen überhaupt noch hinter den Büchern steckte. Es war weg. Sie wusste genau, dass das Päckchen hinter „Brehms Tierleben“ und dem dicken Wälzer „Die verborgene Wirklichkeit“ von Brian Greene versteckt gewesen war.
Ein Geburtstagsgeschenk für sie konnte es auch nicht sein, denn Sylvie`s Geburtstag war Ende November. Längst vorbei und der nächste Geburtstag noch viel zu fern, solange vorher kaufte keiner ein Geschenk.
Die Tage zwischen den Jahren waren bereits verplant. Mark machte da mit zwei Freunden seine jährliche Schitour und Sylvie hatte Kliententermine in ihrem Steuerberatungsbüro.
Mark und seine beiden Studienfreunde fuhren jedes Jahr zum Schifahren in die Schweiz. Die drei Frauen machten das Beste daraus, sie hatten sich an die freien Tage gewöhnt.
Am nächsten Morgen schlief Sylvie noch, als Mark losfuhr. Das war nicht ungewöhnlich, denn er musste noch Stefan und Phil abholen, die beide im Nachbarort wohnten. Auf ihrem Nachttisch fand sie einen Zettel: „Mach`s gut, ich wollte dich nicht wecken. Ich melde mich, wenn wir angekommen sind“.
Die Termine hielten Sylvie den ganzen Tag vom Grübeln ab. Nur am Abend, als sie so allein in der Wohnung vor dem Fernseher saß, kamen die Gedanken.
Mark hätte längst anrufen müssen.
Was soll`s, jetzt rufe ich bei Karin an, ich muss mit jemanden sprechen, dachte sie. Trotzdem wälzte sie den Gedanken an einen Anruf bei ihrer Freundin hin und her.
Es war schon fast zu spät, zum Telefonieren, doch Karin war ihre beste Freundin und würde ihr das nicht krumm nehmen. Sie griff sie zum Telefon.
„Hallo“, das war Phil, wieso war der zu Hause?
„Phil, wo ist Karin, wieso bist du dran, bist du nicht mit Mark unterwegs, ist was passiert“? stotterte Sylvie.
„Mark hat doch abgesagt. Wir sind nicht gefahren, weil er mit der Umstrukturierung der Bank so viel zu tun hat. Das musst du doch auch wissen. Ist er noch nicht zu Hause?“
„Ach, dann kommt er bestimmt bald. Ihr seid also nicht in die Schweiz gefahren?“ „Nein, willst du noch mit Karin sprechen“?
„Wenn ich euch nicht störe.“ „I wo, warum denn“?
Als sich Karin dann meldete, konnte Sylvie nur noch wenig sagen. „Hi Karin, hast du vielleicht morgen Zeit“?
„Tut mir leid, wir wollen morgen mal nach Würzburg fahren, das Weihnachtsgeld der Eltern auf den Kopf hauen. Jetzt, da die Männer zu Hause geblieben sind und frei haben, geht das ja“.
Geknickt legte Sylvie den Hörer auf die Gabel. Sie sind also gar nicht gefahren. Warum weiß ich davon nichts?
Das Handy, Marks Handy, wie war doch gleich die Nummer? Sie würde ihn anrufen. Jetzt, sofort. Diese langen Handynummern, nervig. Zweimal verwählte sie sich, beim dritten Mal klappte es. Der Ruf ging ab. Ein Mal, Zwei Mal, beim fünften Läuten hatte sie den Eindruck, das Klingeln zu hören und zwar ganz nahe.
Das konnte doch nicht sein. Sie stand auf, ging in den Flur, der Klingelton wurde stärker, so als käme er aus dem Schlafzimmer. Sie öffnete die Tür, es läutete lauter im Schlafzimmer. Das Bett unberührt und leer. Der Ton kam vom Nachtisch. Nichts zu sehen, in der oberen Schublade war das Telefon ebenfalls nicht. Das Läuten war noch stärker geworden, jetzt schaltete sich die Mailbox ein.
In der unteren Schublade, verborgen unter einer Lage Papiertaschentücher fand sie das Handy. Es wirkte, als wäre es dort versteckt worden.
In dieser Nacht fand Sylvie wenig Schlaf. Gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen von Träumen vergifteten Schlaf, aus dem sie schweißgebadet aufwachte.
© Inge Frankenberger