Lisa war seit zwei Wochen Trainee im naheliegenden Industriewerk. Die kleine Mansarde in der Lohrer Hauptstraße war ihre erste eigene Wohnung. Fünf Minuten Fußweg zur Arbeit, mitten in der Stadt, was wollte sie mehr?
Sie hatte den Mietvertrag unterschrieben, ohne lang zu überlegen. Im Erdgeschoss gab es ein Geschäft, das um neunzehn Uhr Feierabend machte. Dass die beiden anderen Wohnungen leer standen, bemerkte Lisa erst später. Das Haus stöhnte und knarrte. Kein Wunder, schließlich war es über vierhundert Jahre alt und hatte schon einiges über sich ergehen lassen müssen. Dennoch – ein mulmiges Gefühl, so ganz allein in der Nacht, in der fremden Stadt, in einem fast leeren Haus.
»Ja, in Lohr werd mersch gewohr«, sagte die Kollegin, etwas älter schon und ansonsten recht redselig. »Un außer- dem«, fuhr sie fort, als sie Lisas Adresse erfuhr, »spukt‘s dort.« »Quatsch!«, wehrte sich Lisa und lachte. »Doch, dort läfft nachts enner rüm«, behauptete die Frau vielsagend. Ratschmichls Kätt wurde sie genannt.
Lisa ließ sich nicht beirren und dachte bei sich: »Ich bin eine moderne junge Frau mit abgeschlossenem Ingenieurstudium. Ich komme aus Düsseldorf und ich glaube nicht an Gespenster. Ich habe keine Angst!«
Doch dann in der Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte und ihr bewusst wurde, wie allein sie war in dem großen, fremden Haus, ging ihr das Gespräch mit der älteren Kollegin im Kopf herum.
Inzwischen war schon das letzte Oktoberwochenende. Die Zeitumstellung. Die Uhr sollte in der Nacht um eine Stunde angehalten werden. Galt das auch für die Kirchturmuhr, von der Lisa immer aufwachte? Hoffentlich.
Der nächtliche Glockenschlag der benachbarten Kirche störte Lisa auch an diesem Samstag sehr beim Einschlafen. Ungewohnt eben. Zusammen mit den Geräuschen des alten Hauses nervte das in der nächtlichen Stille. Je verzweifelter Lisa einzuschlafen versuchte, desto mehr rotierten die Gedanken; sie wurde wacher und wacher.
Das kleine Bad mit der Toilette befand sich am Ende des notdürftig beleuchteten Ganges, außerhalb ihrer Mansarde. Dort musste sie hin, unbedingt. Jetzt! Lisa rannte los, Herzklopfen hin und zurück. Endlich geschafft. Ins Bett, Decke über die Ohren, Augen zu.
Einschlafen, Phantasie ausschalten, endlich einschlafen …
Lisas Gedanken verwirrten sich, zogen sie fort in die Erlebnisse des vergangenen Tages. Sie war in der Gießerei. Der Hammer schlug, Nachtschicht. Wilde Feuer brannten. Es dröhnte und dröhnte. Lisa wachte auf, hörte den Glockenschlag. Pene- trant. Zwölf Schläge. Mitternacht. Geisterstunde.
»Quatsch, es gibt keine Geister!«
Endlich, das Geläut war vorbei.
»Hoffentlich kann ich jetzt einschlafen!« Doch ihre Gedan-
ken blieben hellwach und schlugen Purzelbäume. Und die Glocke sagte ihr unbeirrt, was die Stunde geschlagen hatte, viertelstündlich.
»Es gibt keine Gespenster. Nicht in Düsseldorf und nirgends sonst auf der Welt!«
Aber in Bayern – konnte man es wissen?