Eine zauberhafte Kindergeschichte zum Lesen und Vorlesen

Zauberer Oberon von Auranien stapelte seine sieben Sachen samt seiner wertvollen Bücher in Kartons. Das heißt, er tat es natürlich nicht selbst, sondern griff zu einem seiner vielen genialen Zaubertricks. „Ene, mene, miste – ab jetzt in die Kiste“, befahl er den Büchern und schon schwebten sie -„Hui, hui, hui“ – eins nach dem anderen in den Karton und legten sich artig nebeneinander, so dass möglichst viele von ihnen hineinpassten. Zugegeben, es war es bisschen eng und besonders die dicken alten Schinken japsten arg nach Luft. Aber, da man sie ja schon bald aus dieser unkomfortable Situation befreien würde, entschlossen sich einige von ihnen, die langweilige Zeit für ein Nickerchen zu nutzen. Deshalb hörte man es aus den Kartons leise rascheln und grispeln, so wie es sich halt anhört, wenn Bücher schnarchen.
Die Umzugsfirma hatte Karl, einen jungen Kerl, geschickt, der die Kisten zum Transporter tragen sollte. Der aber hatte wenig Lust, die schweren Kartons zu schleppen. Zornig trat er gegen einen Karton, der bis zum Rand mit Büchern gefüllt war, so dass sich der Deckel mächtig nach außen wölbte.
„Aua, das tut weh! Warum trittst du uns denn?“, hörte er es aus der Kiste kreischen. So unsanft waren die Bücher noch nie geweckt worden.
Karl fiel vor Schreck die Zigarette aus dem Mund. Was war das denn? Als er erneut, diesmal etwas vorsichtiger, gegen den Karton trat, sprang der Deckel wie von Geisterhand bewegt auf und die Bücher flogen heraus. Und nicht nur, dass all die kostbaren Werke jetzt auf dem Boden verstreut im Flur herumlagen, es kam noch schlimmer. Eines der Bücher klappte plötzlich seine Deckel auf und fing an wie wild mit den Seiten auf und ab zu schlagen, so als hätte es Flügel. Dann erhob es sich in die Luft, schwebte direkt auf Karls Gesicht zu und blieb, schwirrend wie ein Kolibri, direkt vor Karls Nase stehen. Karl traute seinen Augen nicht. Und zu allem Überfluss fing das doofe Buch auch noch an zu sprechen.
„Warum schätzt du denn unsere schönen Geschichten nicht?“, fragte es und hätte dabei beinahe Karls Nase erwischt.
„Weil … weil ich nicht lesen kann“, stammelte Karl, der noch immer nicht begriff, was da vor sich ging.
„Hihi, er kann nicht lesen“, kicherten die anderen Bücher und klapperten heftig mit den Buchdeckeln.
„Da wird es aber allerhöchste Zeit, dass du das lernst“, sagte das Buch vor seiner Nase im strengen Ton. „Vielleicht begreifst du dann, dass man so etwas Wertvolles wie uns nicht mit Füßen tritt.“
„Ja, ja und wenn er's nicht kapiert, dann werden wir's ihm schon zeigen“, schrien die anderen Bücher im Chor. „Man kann uns nämlich nicht nur aufschlagen – nein, wir können auch ... zuschlagen.“ Diesmal klapperten sie noch lauter als zuvor mit ihren Buchdeckeln, so dass es sich anhörte wie ein ohrenbetäubender Trommelwirbel.
Karl begriff, dass es sinnlos war, sich mit den Büchern anzulegen und schwor bei allem, was ihm lieb und heilig war, sich gleich am nächsten Tag nach einem Lesekurs zu erkundigen.
Als Zauberer Oberon von Auranien die Bescherung sah, wurde er sehr ärgerlich und gebot den Büchern, sofort wieder zurück in die Kartons zu springen. „Und du mein Freundchen“, sagte er zu Karl, „nimmst jetzt gefälligst die Beine in die Hand und beförderst das ganze Zeug nach unten. Sonst muss ich andere Maßnahmen ergreifen.“
Da wurde es Karl ganz komisch und er packte einen Karton nach dem anderen und rannte so schnell er konnte mit ihnen die Treppe hinunter. Uijuijui, dachte er, als er alle Kisten im Transporter verstaut hatte. Da hab ich ja nochmal Glück gehabt. Beinahe hätte mich der alte Zauberer in ein schreckliches Monster oder sonst was verwandelt und dann …? Karl mochte sich gar nicht ausmalen, was ihm alles hätte passieren können. Nichts wie weg, dachte er und trat heftig aufs Gaspedal, um seine merkwürdige Fracht möglichst schnell wieder loszuwerden.
Die Tage vergingen und Karl hatte die Geschichte mit den Büchern schon längst vergessen. Doch eines nachts erschien ihm das fliegende Buch im Traum: “Du hast geschworen, dass du lesen lernst. Erinnerst du dich?“
Und weil man Versprechen hält, belegte Karl tatsächlich einen Volkshochschulkurs und lernte lesen. Als er sein erstes Buch mit dem Titel „Leselaub“ las, kam er sich vor wie ein Zauberer. Aus den Buchstaben wurden Worte, aus den Worten formten sich Sätze und diese verwandelten sich in viele spannende Geschichten. Nun konnte er nicht mehr verstehen, warum er jemals Bücher mit Füßen getreten hatte.

Jürgen Herbert
Neustadt am Main im November 2016