Zwei junge Burschen liefen durch die finsteren Straßen ihres kleinen Dorfes. Straßenlaternen, wie man sie heute kennt, gab es noch nicht. Hier und da schimmerte fahles Licht
durch die zugezogenen Vorhänge, so dass die beiden sich trotz der Dunkelheit zurechtfanden. Sie waren keine Fremden hier, kannten jeden Stock und Stein und jedes noch so verwinkelte Häusereck. An diesem Abend hatten sie ein Ziel: Bei Einbruch der Nacht, jedoch nicht viel später, sollten sie vor zwei Kin- dern den Nikolaus und Knecht Ruprecht geben. Die Großmut- ter, die mit ihren Enkelkindern und deren Eltern in einem klei- nen Haus zusammenwohnte, hatte sie bestellt, schließlich war Nikolaustag!
Gern taten die beiden jungen Männer, was man ihnen auf- getragen hatte. Der Heilige Bischof Nikolaus trug einen weißen Umhang, eine selbst gefertigte Mitra und einen langen Stock, an dessen oberem Ende ein Kreuz befestigt war. In der anderen Hand hielt er ein dickes Buch. Sein Gesicht versteckte er hinter einem schneeweißen Baumwollbart. Der andere, unverkennbar Knecht Ruprecht, hatte im rußgeschwärzten Gesicht einen zerz- austen Flachsbart, und auf dem Kopf trug er einen alten Schlapp- hut. In seinem abgetragenen Soldatenmantel und den schwer beschlagenen, schwarzen Lederstiefeln sah er zum Fürchten aus. Außer der Eisenkette, die er um seine Hüfte geschlungen hatte, trug er noch einen alten Kartoffelsack über der Schulter, gefüllt mit kleinen Geschenken für die Kinder.
Am Haus der Familie angekommen, stampfte der Knecht Ruprecht mit seinen Stiefeln auf und ließ unter Kettenrasseln so manch schauriges »Uh!«, »Ah!« und »Ho-ho!« in die Nacht ertönen. Der heute Abend zum ruppigen Gesellen gewordene junge Mann war ein lustiger Bursche, dem diese Rolle wie auf den Leib geschrieben war. Der Nikolaus, ruhiger und besonn- ener als sein Kollege, klopfte mit dem Stab an ein Fenster und, als sich niemand rührte, an die Haustüre. Als nichts geschah, klopfte er nochmals und sprach: »Hier ist der Nikolaus mit sei- nem Knecht. Wir haben gehört, hier wohnen zwei Kinder. Wir wollen Euch besuchen!«
Schließlich ging der Vater der Kinder zur Tür, begrüßte die beiden Besucher und führte sie in die gute Stube. In dem wohlig warm eingeheizten Zimmer saßen die beiden Kinder hinter dem Tisch, ein Bub von sechs und seine kleine Schwester mit drei Jahren. Die Kleinen machten große Augen, und ihre Backen glühten von der Wärme und der Aufregung. Die Mutter stand in der Tür zur Küche und wollte aufpassen, dass der »Heilige mit seinem Gesellen« es nicht zu toll trieb. Schließlich kannte sie die beiden Burschen, die sich von der Oma hatten anheuern lassen.
Der Nikolaus wandte sich den Kindern zu und fragte sie: »Seid ihr denn auch schön brav gewesen?« – was natürlich mit einem zweifachen, wenn auch etwas zaghaften »Ja« beantwor- tet wurde. Auch las der Nikolaus noch einiges aus dem »großen Buch« vor. Die Kinder waren sichtlich überrascht davon, was der Heilige Nikolaus so alles über sie wusste. Gar so schlimm war es dann aber doch nicht, und mit einem kleinen, gemeinsam gesungenen Lied waren die winzigen Vergehen gleich wieder gesühnt. Währenddessen gelang es der Mutter, einige Versuche des Knechts, den Kindern noch mehr Angst einzuflößen, recht- zeitig zu unterbinden.
Dann kam die große Bescherung: selbst gesammelte Nüsse, Äpfel, etwas Schokolade und ein paar Süßigkeiten. Das Mäd- chen bekam für seine Puppe noch ein neues, von der Mutter selbst genähtes Kleidchen. Der Junge erhielt ein Buch, denn er ging ja bereits in die Schule. Dass das Buch gebraucht war, störte ihn nicht, zumal es mit einigen schönen Bildern versehen war. Bruder und Schwester waren zufrieden mit ihren Geschenken und fanden, sie seien doch glimpflich davongekommen.
Nun aber, wo seine Mission beendet war, war Knecht Rup- recht nicht mehr zu halten, jetzt drehte er auf. Mit seinen schwe- ren Stiefeln ging er laut stampfend durchs Zimmer und rasselte mit der Eisenkette. »Wo ist die Oma?« rief er drohend. Sie müsse nun in die Kette beißen, eher gäbe es keine Ruhe! Doch die alte Frau war nicht zu finden. Die ganze Zeit über hatte es niemand bemerkt, alle Aufmerksamkeit war auf die Kinder gerichtet gewesen. Nun suchte der finstere Geselle im ganzen Haus nach der Großmutter, doch sie blieb verschwunden. Etwas enttäuscht, aber doch zufrieden mit der getanen Arbeit verab- schiedeten sich die beiden Schauspieler. Der Vater gab jedem eine Flasche Most und trank mit ihnen unter der Haustür noch einen Schnaps zum wohlverdienten Lohn.
Nun kehrte wieder Ruhe ins Haus ein. Die Mutter brachte die aufgeregten Kinder zu Bett, und der Vater fragte: »Wo ist denn nun eigentlich die Oma? Ich habe gar nicht bemerkt, wie sie das Haus verlassen hat.« Kaum hatte er es ausgesprochen, kam die alte Dame aus ihrer Kammer heraus – recht munter, wie es schien. Der Vater rang nach Worten. Hatte denn die Oma die beiden Burschen nicht selbst bestellt und ihnen eigenhän- dig die Geschenke für die Kinder übergeben? »Was soll denn das jetzt gewesen sein!?«, stieß er schließlich hervor. »Ganz ein- fach, mein Sohn«, sagte sie, »als die beiden klopften, bin ich in die Kammer gegangen und unters Bett gekrochen. Ich kenne die beiden ja – und trotzdem fürchte ich mich vor dem Nikolaus und seinem Knecht, je älter ich werde, desto mehr. Und«, fügte sie entschlossen hinzu, »im nächsten Jahr verstecke ich mich wieder!«