Es wird bestimmt schnell gehen. Er wird nicht lange leiden, kaum etwas spüren. Und die Angst? Ach was, warum denn Angst? Leon freut sich doch auf das Abenteuer. „Wir sind da“, sagt er zu dem Kind auf dem Rücksitz, als er sein Auto auf dem gekiesten Parkplatz vor dem Flachbau des Feuerwehrhauses abstellt. Das Gelände wirkt verlassen. Schnell noch ein Blick auf die Fenster des noch unverputzten Gebäudes. Man kann ja nie wissen ... Manchmal verkriecht sich der ehemalige Kommandant im Gemeinschaftsraum, um in aller Ruhe ein Bierchen zu trinken.

„Siehst du, dort oben auf dem Dach ist die Sirene.“ Daniel deutet auf den grauen Betonturm neben dem Betriebsgebäude. „Die, die immer so laut heult, wenn es brennt.“ Leon legt seinen Kopf in den Nacken und schaut nach oben. Die Sonnenstrahlen, die sich durch die schwarzen Wolkenschwaden quälen, zwingen ihn, die Augen zusammenzukneifen.

„Oh, Papa, das ist aber hoch“, sagt der Junge.

„Fast dreißig Meter“, bestätigt Daniel. „Wollen wir da mal raufgehen?“

Leon nickt heftig.

Daniel schließt das mannshohe blaue Metallgitter auf, das Unbefugten den Zugang zur Außentreppe versperren soll. Er ist nicht unbefugt. Schließlich gehört er zu den Aktiven. Beim gestrigen Übungsabend der Atemschützer hat er den Schlüssel aus dem Schreibtisch des Kommandanten genommen und eingesteckt. Niemand hat es gesehen und keiner hat dumm nachgefragt, wozu er ihn denn braucht. 

„Na lauf schon, bevor das Gewitter kommt! Aber pass auf, dass du nicht runterfällst!“, sagt Daniel, obwohl er weiß, dass es Leon nicht interessiert. Aber ist es nicht seine Pflicht als Vater, das Kind vor Schaden zu bewahren? Natürlich, aber Leon macht sowieso was er will. Und genau diese Unfolgsamkeit wird ihm zum Verhängnis werden. Dafür wird er sorgen. Ein schrecklicher Unfall ...

„Ja, ja“, Papa“, verspricht Leon und stürzt los.

Daniel stapft schwer schnaufend hinter dem Jungen her. Auf jeder Etage bleibt er stehen, schöpft Atem. Seit er an Gewicht zugelegt hat, kommt er schnell außer Puste. Aber er hat es sowieso nicht eilig. Gleich ist alles vorbei. Nur noch ein paar Stufen … Niemand kann seinem Schicksal entrinnen. Ein tragisches Unglück …

Ein Blitz zuckt über den schwarz-violetten Horizont, wenige Sekunden später ein schwerer Donnerschlag. Daniel erschrickt. Ein böses Omen? Quatsch! Zufall, sonst nichts. Soweit kommt's noch, dass ich an höhere Mächte glaube wie die dummen Weiber. Was hat das Wetter denn mit ihm und seinem achtjährigen Sohn zu tun?

„Na, ganz schön tief, oder?“, keucht Daniel atemlos, als er mit einem behäbigen Schritt die letzte Stufe nimmt und durch die mannshohe Einstiegsluke steigt.

Leon antwortet nicht. Er steht an der Kante des in den Turm hineinragenden Betonpodests und starrt wie gebannt nach unten in den tiefen Schlund. Er atmet schnell.

Zufrieden stellt Daniel fest: An der kleinen Empore fehlt noch immer das Geländer. Gut so. Da ist nichts, was das Kind vor dem Absturz bewahren kann. Ein furchtbares Unglück ...

„Pass auf! Ein Schritt weiter und du ...“ Daniel hält inne. So eine Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder. Und außerdem, wie soll es denn mit dem Jungen weitergehen? Das Kind ist sich doch nur selbst im Weg. Und dann die bösen Unterstellungen – Kindesmissbrauch. Wie soll er denn mit dieser Lüge weiterleben? Da bleibt doch immer etwas hängen, oder? Und dann der viele Unterhalt. Zeitlebens wird er für das geistig zurückgebliebene Balg aufkommen müssen, und sein Gehalt wird nicht reichen für ein gutes Leben mit Petra und seinem Kind in ihrem Bauch.

 „Dort, siehst du!“, sagt Daniel. „Die langen Feuerwehrleitern braucht man, um Leute aus hohen Häusern zu retten“.

Der Junge macht den Hals lang und beugt sich nach vorne, um sehen zu können, was der Vater ihm zeigen will. Plötzlich überkommt Leon dieses komische Gefühl wieder. Genau wie damals beim Ausflug mit dem Schiff, wo es ihm so schlecht wurde … Er hebt den Fuß, möchte einen Schritt nach hinten gehen, um wegzukommen von dem dunklen Loch, das sich vor ihm auftut und ihn zu verschlucken droht. Aber es gelingt ihm nicht. Sein Vater steht wie eine Barriere dicht hinter ihm und versperrt ihm den Weg.

„Papa, mir ist ganz komisch.“ Leon verdreht die Augen.

„Na, du bist ja immer noch ein kleiner Angsthase“, sagt Daniel und lächelt gequält. „Und ich hab schon gedacht, du bist jetzt ein richtiger Kerl.“ Wenn er wenigstens nicht so ein Schisser wäre und man könnte stolz auf ihn sein, denkt Daniel – so wie andere Väter, die bei jeder Gelegenheit mit ihren Söhnen prahlen.

„Dort oben werden die Schläuche zum Trocknen aufgehängt.“

Leons Augen folgen der Hand des Vaters hin zu den Rollen, die an einem quer liegenden Dachbalken montiert sind.

„Aber wo sind sie denn?“, fragt Leon enttäuscht, als er statt der Schläuche nur Seile herunterhängen sieht.

„Wahrscheinlich sind sie schon wieder trocken und aufgerollt. Die Seile braucht man, um sie nach oben zu ziehen.“

Noch immer steht Leon wie festgefroren da. Nur wenige Zentimeter vor ihm klafft der Abgrund. Das Betonpodest unter ihm beginnt zu schwanken. Leon wagt es kaum zu atmen, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Das Kind dreht den Kopf ein wenig zur Seite, sucht auf dem Betonboden einen festen Halt für sein Auge, damit der Schwindel aus seinem Kopf weicht. Aus den Augenwinkeln sieht Leon die beigen Turnschuhe des Vaters dicht neben seinen Füßen stehen. Zu dicht ...

„Manchmal üben unsere Jungs hier, wie man sich abseilt“, erklärt ihm der Vater und deutet wieder auf die Leinen. „Die hängen sich richtig da dran. So wie damals im Klettergarten. Weißt du noch?“

„Das ist ja cool, Papa“, sagt Leon und vergisst für einen kurzen Moment seine Angst.

„Feuerwehrleute müssen mutig sein, sonst können sie ihren Job nicht richtig machen“, erklärt ihm Daniel.

Ein heftiger Windstoß bahnt sich pfeifend den Weg von der Tiefe des Schachts hinauf bis unters Dach und entweicht schnaubend durch die Einstiegsluke ins Freie. Wie hypnotisiert stiert Leon auf die dicken Seile, die jetzt verführerisch vor ihm hin und und her tanzen, wie Schlangen vor dem Fakir. „Los, greif zu!“, scheinen sie ihm zuzurufen. „Wir schwingen mit dir durch die Luft wie Tarzan durch den Dschungel.“ Gleich greifen die Kinderhände danach … Nur noch ein winziger Schritt nach vorne, die Länge eines Kinderfußes ...

„Du willst doch auch mal Feuerwehrmann werden, oder?“ Unvermittelt holt Daniel seinen Sohn in die Wirklichkeit zurück.

Leon zuckt zusammen. „Ja, Papa“, sagt er benommen.

„Da musst du aber beweisen, dass du mutig bist. Soll ich dir das Seil mal herholen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, streckt Daniel die Hand aus und winkt es mit den Fingern zu sich heran, als wollte er es locken. Nur noch wenige Zentimeter. Schon stoßen die Fingerspitzen dagegen. Blitzschnell öffnet Daniel die Hand, um den Strick zu packen. Zu schnell. Schon pendelt er wieder von ihm weg. „Warum bin ich nur so ungeschickt? Ausgerechnet jetzt.

Andererseits, wieso mache ich mir eigentlich den ganzen Stress? Ich könnte die Sache hier sehr schnell beenden. Ein kleiner Stoß – ein Kinderspiel. Ein furchtbares Unglück!

Ein gemeiner, heimtückischer Mord? Nein. Das wird niemand vermuten.

„Bleib stehen! Warte auf mich!“, hat er verzweifelt hinter Leon her geschrien. Aber es war zu spät. Noch bevor er oben ankam, hörte er den Schrei. Ein Schrei, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Den schrillen hohen Schrei eines Kindes, der von den nackten Betonwänden widerhallte, als Leon in den Abgrund stürzte. Dann der dumpfe Aufschlag auf dem steinharten Boden, als ob tausend Knochen brechen. Für alle Ewigkeit wird sich der Todesschrei seines Kindes in sein Hirn einbrennen. Aber wie hätte er denn wissen sollen, dass das verdammte Schutzgeländer noch immer fehlte? Ein furchtbares Unglück …

Ja, genau so war es und genau so wird er es der Polizei erzählen. In Gedanken schlägt Daniel die Hände vors Gesicht und schüttelt verzweifelt den Kopf, als wollte er sich selbst von der eigenen Version der Geschichte überzeugen. Sicher, ein bisschen tut ihm Leon ja auch leid. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte – bitte sehr – nichts lieber als das.

Aber was ist, wenn Leon den Absturz überlebt? Haben Kinder nicht einen Schutzengel?

Daniel schiebt den Gedanken weg. Er wird seinen Sohn richten – wie Gott. Das ist sein gutes Recht als Vater.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wenn Leon seine Arme nach dem Seil ausstreckt, … er muss nur den richtigen Moment abwarten. Für den Bruchteil einer Sekunde erschaudert Daniel über seinen mörderischen Plan.

Leon weicht von der Kante zurück. „Papa, du zuerst!“, schreit er und und stößt mit beiden Händen kräftig gegen das Gesäß des Vaters. Unvermittelt macht Daniel einen Schritt nach vorne, taumelt, fängt den Stoß in letzter Sekunde ab. „Spinnst du?“, brüllt er und hangelt auf den Zehenspitzen stehend nach dem Seil, das nun wie von Geisterhand gelenkt, auf ihn zuschwebt.

 „Super!“, schreit Leon, als er sieht, dass Daniel das Seil zu fassen bekommt. Er macht einen Hüpfer auf seinen Vater zu: „Wart! Ich helf dir, Papa!“

Daniel erschrickt. “Lass das!“, brüllt er und schaut unwillkürlich zu Leon. Ein Fehler. Er schwankt, verliert das Gleichgewicht. Seine Hand krampft sich verzweifelt um den Strick. Seine Füße gleiten vom Podest. Die Schwerkraft zieht ihn nach unten. Mit einer rudernden Bewegung reißt er den freien Arm nach oben. Wenn die Hand nicht bald Halt findet, dann...Die Finger tasten nach dem Seil. Vergeblich. Es kommt ihm so vor, als würde der Strang vor seiner Hand zurückweichen, wie von Geisterhand gezogen. Ein scharfer Schmerz fährt ihm in die Schulter. Der Arm wird ihn nicht mehr lange tragen. Die Füße? Die Beine? Vielleicht kann er das Seil damit umschlingen? Er zieht die Knie hoch und lässt sein Fußgelenk kreisen. So wie er es im Sportunterricht gelernt hat. Aber das Tau lässt sich nicht einfangen. Windet sich wie ein Aal an der Angelschnur. Hilflos baumelt Daniel über dem schwarzen Nichts.

„Hilf mir!“, fleht Daniel seinen Sohn an, der verzweifelt am Rande des Podests hin und her läuft wie ein gefangenes Raubtier hinter Gitterstäben. Ein dunkler Fleck bildet sich vorne auf Leons hellblauer Jeans, und ein warmes Rinnsal läuft dem Kind in die Schuhe.

Wenn der Vater jetzt abstürzt, dann – ein verlockender Gedanke schleicht sich in das Hirn das Kindes – wird er ihm nie mehr wehtun können ...

„Los! Gib mir deine Hand! Mach schon!“, kreischt Daniel.

„Ja, Papa“, sagt Leon, legt sich auf den Betonboden und streckt dem Vater seine Hand entgegen.

„Guuut!“ Daniels freie Hand schießt nach oben und schnappt das Handgelenk seines Sohns. Wie eine reife Frucht pflückt er das Kind vom Podest.

Zuerst langsam, dann immer schneller gleitet Daniel mit seinem Sohn am Seil hinunter. Wie ein Brenneisen versengen die glatten harten Kunststoffschnüre die Haut seiner Handinnenflächen. Unwillkürlich lässt er los ...

Ein greller Blitz züngelt durch den Schacht. Ein dumpfer Donnerschlag hallt im Turm wider und verschluckt die gellenden Schreie der fallenden Körper.

 

***

„Was für ein schrecklicher Unfall!“ Schwester Sabine betrachtet das Kind, das vor ihr im Krankenbett liegt und schüttelt ungläubig den Kopf. „Da hatte der Schutzengel aber gewaltig seine Hände im Spiel.“

„Ja“, sagt Dr. Petrus. „Ein paar Knochenbrüche. Der Junge ist wirklich glimpflich davongekommen.“

 

Lydia Gröbner, Juli 2014
Lektorat: Astrid Rösel

Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Geschehnissen ist rein zufällig.