Tja, liebe Lohrer,

da habt ihr's nun: Euer Schneewittchen – und keiner will's. Oder jedenfalls fast keiner. Es soll ja Leute geben, die sich für das Kunstwerk begeistern können. Wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, um der öffentlichen Steinigung in den Medien zu entgehen. 

Irgendjemand hat mal gesagt: Es muss Kunst gewesen sein, wir haben nicht alles verstanden. Tja, liebe Lohrer, ich glaube, ihr versteht euer Schneewittchen nicht, und wahrscheinlich fühlt sich euer Schneewittchen auch von euch ziemlich unverstanden. Dabei ist es doch gar nicht so schwer. Schaut euch doch mal um. Wie sehen denn die Bäume im Spessart aus? Klein? Zierlich? Kitschig wie in Disneyland? Nein! Im Spessart wachsen trotzige Eichen (siehe Spessartlied) und knorrige Buchen und auch sonst ist die Landschaft eher für ihr raues Klima bekannt. Und die Menschen? Man sagt den Spessartern nach, sie seien fleißig und „haebüchen“, also hart im Nehmen. Ein rauer Menschenschlag eben. So und jetzt schaut doch mal euer Schneewittchen an? Und? Was seht ihr? Genau! Nix Liebliches, nix Kitschiges, nix was zum gängigen Schneewittchen-Klischee passt. Vor euch steht ein freches Gör mit Ecken und Kanten, mit einem Körper wie der Stamm einer trotzigen Eiche und einer Frisur wie die zerzausten Äste einer alten Buche, die kein Sturm umwerfen kann. Alle Mordanschläge (Erstechen, Ersticken, Vergiften) hat euer Mädli überlebt. Glaubt ihr denn, es lässt sich von pinkelnden Hunden und von bösen Lästermäulern umbringen?  

Ihr solltet dem Künstler dankbar sein, denn er hat euch eine ganz spezielle Schönheit gezeigt, die es nur hier gibt und die vielleicht auch nur hier verstanden wird. Aber das kann euch egal sein. Wer sagt denn, dass Kunst schön sein muss? Außerdem – Schönheit liegt, wie wir wissen, im Auge des Betrachters. Und Kunst und Kitsch liegen bekanntermaßen eng beieinander. 

Wisst ihr was? Ihr solltet zu eurem Schneewittchen stehen, denn es ist eine Figur, an der man sich reiben kann – ein echter Hingucker und ein Aufreger sowieso. Gut so! Ihr wisst doch, Sorgenkinder wachsen einem immer ganz besonders eng ans Herz. Ich sage euch jetzt schon, es kommt die Zeit, da werdet ihr stolz sein auf euer verzauseltes und knorriges Schneewittchen und ihr werdet es lieben und gegen böse Zungen verteidigen (mit einem Schmunzeln), wie es eine Tochter eurer Stadt verdient hat. Denkt dran: Euer Schneewittchen ist einmalig in der Welt. Ihr solltet es achten und ehren, bis der … Naja, den Rest kennt ihr ja. Gebt ihm einen würdigen Platz, denn es wird noch da stehen, wenn ihr längst gestorben seid. 

Lydia Gröbner, am 29. September 2014 erschienen als Leserbrief im Main-Echo