„Hast du das gehört?“ Hilde stürzt zum Fenster und zieht die Gardine ein Stückchen zurück, sodass sie mit einem Auge in den Vorgarten der Nachbarn sehen kann.
„‚Ich habe ihn getötet!’, hat sie gerufen. Ich hab's genau gehört.“ Hilde öffnet das Fenster vorsichtig einen Spalt breit. Nur so weit, dass es nicht auffällt.
„Ich bin schuld. Ich hab ihn umgebracht!“, dringt die wimmernde Stimme der Nachbarstochter ins Wohnzimmer des Rentnerehepaars.
„Jetzt komm doch endlich!“, drängt Hilde ihren Mann. Aber Albin macht überhaupt keine Anstalten, seinen gemütlichen Platz vor dem Fernseher zu verlassen. Schließlich läuft ein wichtiges Bundesligaspiel. „Tor“, brüllt er und fährt begeistert hoch.
„Du immer mit deinem blöden Fußball. Vor unserer Haustüre passieren schreckliche Dinge und du hast nichts Besseres zu tun, als zuzuglotzen, wie 22 Deppen einem Ball nachlaufen. Mach die Kiste wenigstens ein bisschen leiser, damit ich mitkrieg, was da draußen los ist!“, fordert Hilde ihren Mann auf.
„Jetzt guck doch mal – wie herzzerreißend Sabrina weint. Und jetzt – sieh doch! Gerade kommt Erika nachhause. Schau doch mal, wie Sabrina ihrer Mutter in die Arme fällt. Da muss was Furchtbares passiert sein!“
„Was soll denn schon passiert sein?“, fragt Albin zurück. Noch immer starrt er wie gebannt auf den Bildschirm.
„Na, ein Mord, zum Beispiel. Sie hat doch gerufen, ‚Ich hab ihn getötet. Ich hab ihn umgebracht’. Du hast es doch auch gehört.“
„Ja“, sagt Albin gelangweilt. „Und wen soll sie umgebracht haben?“
„Woher soll ich das denn wissen? Weiß Gott, wer in diesem Haus verkehrt“, empört sich Hilde über die Frage ihres Gatten.
„Und weißt du auch, warum sie ihn umgebracht hat?“ Irgendwie fühlt sich Albin nun doch verpflichtet, ein wenig Interesse zu zeigen.
„Was weiß ich? Vielleicht hat er sie betrogen. Im Fernsehen sagen sie immer, Eifersucht ist ein starkes Motiv. Und wenn die Männer fremdgehen, dann … ratsch.“ Hilde hält sich ein imaginäres Messer an den Hals und deutet an, dass sie sich die Kehle durchschneidet.
„Woher weißt du denn, dass er fremdgegangen ist? Du kennst ihn doch überhaupt nicht.“
„Sicher bin ich mir natürlich nicht. Ich vermutet es halt. Selbstverständlich kann es auch anders gewesen sein“, sagt Hilde pikiert.
„Wie anders?“ Albin steht jetzt doch auf und schlappt zu Hilde ans Fenster.
„Na ja, möglicherweise hat er sie bedroht und sie hat sich gewehrt. So 'ne Art Selbstverteidigung eben.“ Hilde lässt den Vorhang los und geht an Albin vorbei ins Zimmer zurück. „Jetzt ist es zu spät. Gerade sind sie im Haus verschwunden …“
„Auch gut“, sagt Albin und setzt sich wieder vor den Fernseher. Trotzdem, die Sache lässt ihm keine Ruhe. „Aber warum sollte er das arme Ding denn bedroht haben? Was hätte er denn davon?“, hakt er nach.
„Also du stellst Fragen. Keine Ahnung. Vielleicht ist er über sie hergefallen, wollte sie vergewaltigen. Und dann hat sie das Messer genommen und hat es ihm in die Brust gerammt. Zack! Irgendwie musste sie sich doch wehren!“
„Also irgendwie kann ich mir das nicht so richtig vorstellen. Woher hatte sie denn so schnell das Messer?“, zweifelt Albin die Theorie seiner Frau an.
„Erschossen hat sie ihn jedenfalls nicht. Oder hast du etwa einen Schuss gehört?“, fragt Hilde trotzig zurück.
Albin schüttelt den Kopf: „Nein. Kein Schuss. Aber wenn sie ihn erstochen hat, dann … dann müsste sie doch voller Blut gewesen sein. Hast du diesbezüglich was gesehen?“
„Nein. Aber vorhin ist schwarzer Rauch aus dem Kamin gekommen.“
„Du meinst, sie hat die Leiche verbrannt?“, fragt Albin ungläubig.
„Nicht die Leiche. Die blutigen Klamotten halt.“
„Aber die Polizei wird die Blutspuren doch finden, nicht wahr?“
„Sicher“, bestätigt Hilde.“ Aber wenn sie ihn vergiftet hat, dann nicht.“
„Jetzt soll sie ihn plötzlich vergiftet haben? Mit was denn um Himmels Willen?“
„Mit was man jemanden halt so vergiftet. Was weiß ich? Mit Arsen oder Zyankali, zum Beispiel.“
„Mit Zyankali? Riecht man das denn nicht?“, erkundigt sich Albin.
„Es riecht nach Bittermandelöl.“
„So wie die Weihnachtsplätzchen im vergangenen Jahr?“
„Das waren Marzipantaler und da gehören ein paar Tropfen Bittermandelöl hinein. Sonst schmecken sie nach nichts“, klärt Hilde ihren Mann auf.
„Wie du dich auskennst …“ Albin wirft ihr einen verschreckten Blick zu. „Und wenn ich mal wieder was von dir will … Du weißt schon was – vergiftest du mich dann auch mit Bittermandelöl?“
„Mit Zyankali“, korrigiert ihn Hilde. „Selbstverständlich mache ich das. Also sieh dich vor …“
„Und was machen die Nachbarn jetzt mit dem Toten?“, fragt sich Albin, noch immer verstört von der versteckten Morddrohung seiner Gattin.
„Na, den Alten wird da schon was einfallen. Ich bin jedenfalls gespannt“, sagt Hilde.
Vor dem Haus quietschen Autoreifen. Hilde springt wieder zum Fenster und schaut hinaus. „Jetzt kommt Manfred. Der Papa wird’s schon richten“, kichert sie. „Und der unverschämte Kerl parkt schon wieder vor unserer Garage!“
„Also bei so einem dringenden Notfall braucht man nicht so pingelig zu sein. Außerdem, wir müssen doch jetzt gar nicht wegfahren“, verteidigt Albin seinen Nachbarn.
„Was heißt hier dringender Notfall? Da ist doch sowieso nichts mehr zu machen. Mi-ma- mausetot ist der Kerl. Wozu also die Eile?“
„Woher weißt du das?“
„Woher weiß ich was?“
„Na, dass er tot ist.“
„Aber sie hat es doch selbst geschrien. ‚Ich hab ihn umgebracht!’“
„Und wenn er nur bewusstlos ist oder im Koma liegt?“, gibt Albin zu bedenken, der noch immer nicht so recht an die Mordtheorie glauben will.
„Wieso sollte er denn bewusstlos sein oder im Koma liegen? Dafür gibt’s doch gar keine Hinweise. Sie hat gesagt, er ist tot und damit basta!“
„Und wenn es ein Unfall war?“ Albin lässt nicht locker.
„Du meinst, sie hat ihn zurückgestoßen, als er sie bedrängt hat und er ist mit dem Kopf gegen die Tischkante geknallt. Hm … Jetzt wo du es sagst … So könnte es gewesen sein …“, muss Hilde einräumen. „Und jetzt denkt sie, er ist tot. Dabei … Was meinst du, sollen wir den Notarzt rufen?“
„Von mir aus. Ich geh jetzt erst mal pinkeln“, sagt Albin und verlässt das Zimmer.
Hilde steht nachdenklich am Fenster. „Ich weiß nicht“, sagt sie zu sich selbst. „Ich traue dem lieben Frieden nicht. Möglicherweise möchten die uns nur verarschen, weil wir so neugierig sind? Meinst du wirklich, wir sollen den Arzt rufen?“, wendet sich Hilde an Albin, der jetzt ins Wohnzimmer zurückkommt.
„Ich glaub, das können wir uns sparen. Komm doch mal mit!“ Albin zieht Hilde mit in die Toilette und deutet auf das Fenster. „Da hinten im Garten … Wenn mich nicht alles täuscht, hebt der Manfred dort grad ein Loch aus.“
„Was sagst du da?“ Hilde drängt sich an Albin vorbei zum Fenster. „Ich fass es nicht!“ Sie schlägt sich die Hände vor Gesicht. „Die wollen die Leiche tatsächlich verbuddeln?“
„Sieht so aus. Die Grube dürfte mindestens schon einen Meter tief sein …“, stellt Albin fachkundig fest.
„Und jetzt?“ Hilde schaut ihn entgeistert an.
„Vielleicht sollten wir die Polizei rufen, bevor sie ihn ganz verscharrt haben.“
„Ja. So wie ich unsere Nachbarn kenne, schrecken die vor nichts zurück. Ich wette, sie pflanzen einen Baum auf dem Grab und lassen den armen Kerl elendig unter der Erde zu Kompost verrotten. Den findet so schnell keiner mehr …“
„Das können wir nicht zulassen“, beschließt Hilde und wählt die 110.
„Sie müssen schnell kommen“, raunt sie ins Telefon. „Die Tochter unserer Nachbarin hat ihren Freund ermordet und jetzt wollen sie ihn im Garten vergraben …“
„Wo? Ach so ja: Kitzinger Straße 15. Schnieder heißen die Leute. Sie müssen sich beeilen!“
Hilde legt den Telefonhörer auf. Ihre Hände zittern. Kalter Schweiß steht ihr auf der Stirn. Dass ausgerechnet ihr so etwas passieren muss – und das auf ihre alten Tage …
„Tatütata“, kreischt das Signal des Martinshorns ins Wohnzimmer der Rentner. „Da sind sie ja endlich“, sagt Hilde zufrieden und geht zum Fenster. Die uniformierten Männer stürzen aus dem Polizeifahrzeug und rennen zum Nachbarhaus. Hilde hört die Türglocke schrillen. Jetzt scheint jemand die Tür zu öffnen.
„Ist was passiert?“, hört sie Erika fragen.
„Wir würden uns gerne mal in ihrem Garten umsehen“, gibt der Polizist zu verstehen und stürmt ins Haus. Sein Kollege folgt ihm. Wenige Sekunden später tauchen die Beamten zusammen mit Sabrina und Erika im Garten auf. Manfred schaut die Besucher erstaunt an. „Und – was soll das jetzt werden?“, fragt er und rammt den Spaten erneut in die Erde.
„Das würden wir gerne von Ihnen wissen“, gibt der Polizist zu verstehen und deutet auf das Loch.
„Das da?“ Manfred grinst. „Sie glauben doch nicht etwa, dass …“
„Wir glauben gar nichts“, unterbricht ihn der Polizeibeamte harsch. „Wir haben gehört, hier soll ein Mord geschehen sein. Angeblich hat jemand geschrien: Ich habe ihn umgebracht! Also – wo ist die Leiche?“
„Die Leiche?“ Sabrina und Erika prusten vor Lachen.
„Die Leiche ist ein toter Hase, mein über alles geliebter Muckel“, klärt Sabrina die verdutzt schauenden Beamten auf. „Er ist mir gestern ausgebüxt, weil ich leichtsinniger Weise vergessen hatte, den Stall zu schließen, und dann ist das arme Tierchen auf die Straße gelaufen, und ein Auto hat ihn überfahren. Eine traurige Geschichte, nicht wahr …?“