Anno 1936
Dorothea drückt ihre Hände gegen ihren harten Unterleib. Der reißende Schmerz der Wehe krümmt ihr den Rücken, raubt ihr den Atem. Sie schließt die Augen und presst die Lippen aufeinander, verschluckt das Stöhnen. Eine warme Flüssigkeit tränkt die groben Wollstrümpfe unter ihrem weiten, dunkelbraunen Kleid. Die junge Frau hebt den Kopf. Die feuchte Haut ihrer Wangen glüht rot vor Anstrengung. Ihre Augen wandern hinauf über die moosbewachsenen Sandsteinstufen. Ein weiter Weg. Ein steiler Weg. Dort oben wartet die Erlösung.
Der Mann im schwarzen Anzug mit dem weißen Kollarkragen deutet auf die verfallene Holzbank neben dem Bildstock des gestürzten Jesus. „Ruh dich einen Moment aus”, sagt er, „dann gehen wir weiter. Jesus ist für uns arme Sünder gestorben."
Ja, sie hat gesündigt und muss Buße tun. Der Herr verlangt ein gerechtes Opfer.
Der Priester faltet die Hände und betet. „Herr Jesus, du bist nach dem ersten Fall unter dem Kreuz aufgestanden und hast deine Last weitergeschleppt. Ich bitte dich, gib auch ihr die Kraft, die schwere Last zu tragen.”
Die Last, die sie zu tragen hat, ist schwer. Viel zu schwer für ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Mutter werden soll, aber nicht Mutter sein darf. „Gott will es so“, haben sie ihr gesagt und sie weiß, dass es wahr ist.
„Wir haben es bald geschafft!” Der Geistliche spricht ihr Mut zu. Sie darf auf gar keinen Fall im Freien und ohne Hilfe gebären. Nicht in diesem Wald. Nicht in dieser Kälte. Mutter und Kind würden die Prozedur nicht überleben. Und dann? Sie würden Fragen stellen …
„Wir müssen weiter!“, treibt er Dorothea an, als sie wie erstarrt auf der Steintreppe stehen bleibt. „Wenn du willst, trag ich deinen Rucksack, damit du es ein bisschen leichter hast.”
Dorothea schüttelt den Kopf. „Er ist nicht schwer. Es ist nur … das Reißen wird immer schlimmer und kommt jetzt immer öfter. Es ist, als ob mir das Kind die Eingeweide aus dem Bauch schneiden will.” Sie hechelt den brennenden Schmerz der Presswehe ab. Niemand hat ihr gesagt, was sie tun muss, wenn es soweit ist, aber sie tut instinktiv das Richtige. Sie darf sich jetzt nicht gehen lassen. Nicht, solange sie mit dem Priester alleine ist. Sie muss es bis hinauf zum Kloster schaffen.
„Auch die Gottesmutter hat unter Schmerzen geboren“, hört sie ihn sagen. „Wir sollten sie um Hilfe bitten. „Gegrüßet seist du Maria voll der Gnaden. Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat”, murmelt er vor sich hin, während er langsam mit dem schwangeren Mädchen die glitschigen Stufen hinaufstapft. Der Priester keucht. Seine Kleidung ist schweißgetränkt. Schuld daran ist nicht nur die körperliche Anstrengung. Angst, Hilflosigkeit und Zweifel beschleichen ihn, je näher er und das Mädchen dem Ziel kommen. Es ist nicht das erste Mal, dass er mit einer Schwangeren diesen Weg geht.
„Dein Kind wird ein Gott gefälliges Leben führen. Seine künftigen Eltern sind gute Katholiken und werden es ganz im Sinne Gottes aufziehen”, versucht er ihr Trost zu spenden. „Der Herr wird dein Opfer annehmen und dir verzeihen!”
Sicher verzeiht er auch dir, denkt sie. Aber sie wagt es nicht, diesen Gedanken auszusprechen. Es steht ihr nicht zu, über ihn zu richten und ihm Schuld zuzuweisen. Bei allem, was er getan hat – er ist ein Mann Gottes. Ein Priester, vor dem sie sich ehrfürchtig zu verbeugen und den sie zu grüßen hat: „Gelobt sei Jesus Christus!“
Das Mädchen schaut mit tränenverschleiertem Blick nach oben. Sie weiß, sie meinen es gut mit ihr und dem Kind, das sie nicht behalten darf. „Es ist besser so, also geh weiter!”, gebietet ihr eine innere Stimme. „Die Nonnen warten schon!”
55 Jahre später
Das Gesicht der Greisin ist kreidebleich. Fast so weiß wie das Leinenhäubchen, das sie jetzt anstelle des schwarzen Schleiers trägt. Schwester Regintrautis liegt reglos zwischen dem hellblauen Bettzeug ihres Pflegebetts. Ihr Mund steht weit offen. Ihr Atem geht flach und schnell. Sie ist nicht mehr von dieser Welt, denkt Dorothea und hofft, dass es nicht zu spät ist.
„Wo ist meine Tochter?“
Die Alte zuckt zusammen und reißt die Augen auf. Sie ist blind, denkt Dorothea, als sie den suchenden, milchig trüben Blick der alten Nonne sieht. Aber immerhin, sie kann noch hören.
„Was … was willst du?“, fragt Regintrautis mit schwacher Stimme.
„Meine Tochter - wo ist sie?“
„Wer … wer bist du …?“ Die Alte hüstelt. Das Reden scheint sie anzustrengen.
„Dorothea. Das Küchenmädchen. Erinnerst du dich? Ihr habt mir meine Tochter gestohlen. 55 Jahre ist das jetzt her, und jetzt will ich wissen, wo sie ist.“
Die Greisin schließt die Augen.
„Nicht einschlafen! Antworte mir!“, schreit Dorothea und schüttelt die wehrlose Frau. „Hier, siehst du, dein Leben liegt in meinen Händen! Sie drückt der Ordensfrau ihre Daumen auf die Kehle, als wollte sie sie würgen. „Sag’s so lange du noch kannst!“
„Warte …“ Schwester Regintraudis atmet schwer gegen Druck an. Sie schnappt nach Luft und winkt ihre Peinigerin mit dem Zeigefinger zu sich heran.
„Rede!“, sagt Dorothea und nimmt die Hände vom Hals ihres Opfers. „Du musst lauter sprechen! Ich versteh dich nicht.“ Der Körper der alten Nonne beginnt zu zittern. Er bäumt sich auf, als wolle er das letzte bisschen Kraft mobilisieren, das noch in ihm steckt. Es ist nur ein kaum vernehmbares Flüstern, ein Hauchen, das in Dorotheas Ohr dringt, dann fällt der Kopf der Greisin erschöpft zurück aufs Kopfkissen.
„Was hast du gesagt – Bernadette?“ Dorothea steht wie hypnotisiert vor dem Bett der Oberin. Bernadette, die Leiterin der Seniorenstifts, in dem sie seit fast einem Jahr lebt, ist das Kind, das man ihr vor 55 Jahren weggenommen hat. Wie kann es sein, dass sie es nie gemerkt hat? Sie hätte es doch spüren müssen – irgendwie. Und doch, wenn sie es so recht bedenkt, ganz tief in ihrem Inneren schlummerte eine leise Ahnung, die sie verdrängt hatte, bevor sie ins Bewusstsein gelangen konnte. Jetzt wird ihr klar, sie kennt dieses Gesicht. Es gehörte einem kleinen Mädchen, und es ist sehr lange her, dass sie es gesehen hat.
„Warum? Warum habt ihr mir das angetan?“, kreischt Dorothea zornig, als sie sich wieder gefasst hat. Sie antwortet sich selbst: „Weil Gott es so wollte? War es so? Wollte Gott, dass mich Pater Benedikt schwängert und ich mein Kind hergeben muss? Das einzige Wesen, das mir je in meinem Leben wichtig gewesen wäre? Dorothea ahnt, dass die Greisin ihr nicht mehr antworten wird. „Ich kann dir nicht verzeihen, was du mir angetan hast“, redet sie auf Schwester Regintrautis ein und schlägt wütend mit der Faust auf die Bettdecke. „Das musst du ganz allein mit deinem Herrgott ausmachen! Ich werde dafür sorgen, dass du bald Gelegenheit dazu bekommst!“
„Unterblutungen auf der Netzhaut. Sieht nach Erstickungstod aus“. Dr. Bodo Backerl leuchtet mit der Taschenlampe in die Augen der toten Nonne, die mit einem cremefarbenen Häubchen unschuldig wie ein schlafendes Kleinkind im Bett liegt. „Sie muss auf jeden Fall obduziert werden.“ Schwester Bernadette nickt. „Ich glaube, ich weiß, wer es war.“
„Schwester Bernadette, können Sie sich vorstellen, warum Frau Nonnenmacher das gemacht hat?“ Kai Bacher, Kriminaloberkommissar des Dezernats für Verbrechen gegen Leib und Leben schaut die Nonne, die ihm gegenüber an ihrem Schreibtisch sitzt, fragend an. Sie trägt noch den traditionellen Habit, schwarze Kleider mit einem langen Schleier, der nur wenig von ihrem Gesicht freigibt. Anfang, höchstens Mitte fünfzig, schätzt er ihr Alter.
„Nein. Ich habe keine Ahnung. Es ist so fruchtbar. So etwas … ist hier noch nie passiert …“, stammelt sie.
„Dass jemand gestorben ist?“ Der Polizist schaut sie ungläubig an.
„So hab ich das nicht gemeint. Wir sind ja eine Senioreneinrichtung und da kommt es natürlich vor, dass jemand stirbt – aber doch nicht so …“
„Sie haben doch sicher öfter schwierige Insassen hier – Leute mit Wahnvorstellungen oder ähnlichen Symptomen“, erkundigt sich Bacher.
„Erstens handelt es sich bei unseren Bewohnern nicht um Insassen. Wir sind nämlich kein Gefängnis“, weist Bernadette den Kommissar zurecht. „Und zweitens: Ja, wir haben Gäste, die unter Demenz leiden, aber sie sind nicht gefährlich. Wir arbeiten sehr eng mit der gerontologischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses zusammen. Die Leute werden dort gut eingestellt und kommen erst nach einer erfolgreichen Therapie zu uns zurück.“
„Aha. Haben Sie bei Frau Nonnenmacher denn irgendwelche Auffälligkeiten bemerkt? Hatten Sie das Gefühl, dass sie aggressiv oder unberechenbar ist?“
Schwester Bernadette schüttelt den Kopf: „Keineswegs. Sicher, sie war etwas merkwürdig … Aber so etwas … Ich kann das alles gar nicht fassen …“
„Und Sie haben gesehen, wie Frau Nonnenmacher der Schwester Oberin das Kissen aufs Gesicht gedrückt hat? Aber Sie sagten ja bereits, sie wissen nicht warum.“
„Ich hatte den Eindruck, sie haben sich irgendwie von früher gekannt …“ Bernadette streicht sich nachdenklich übers Kinn. „Ich glaube, sie hat gesagt: Ich kann dir nicht verzeihen, oder so ähnlich …“
„Sie meinen, die Schwester Oberin und Frau Nonnenmacher hatten Streit? Um was könnten sich denn eine fast hundertjährige bettlägerige Ordensfrau und eine 70-jährige Rentnerin streiten?“
Bernadette zuckt mit den Schultern. „Hm, dazu kann ich Ihnen beim besten Willen nichts sagen. Ich habe nichts von einem Streit mitbekommen. Ich wusste ja nicht einmal, dass sie sich gekannt haben.“ Bernadettes Blick verliert sich in der Leere des Raums, als suchte sie dort nach einer Erklärung. „Vielleicht kann ja Dorothea, also Frau Nonnenmacher, mehr dazu sagen.“
„Sie haben recht“, bestätigt der Kommissar. „Wir müssen sie vernehmen. Am besten hier. Ich möchte die alte Dame erst mal nicht mit aufs Kommissariat mitnehmen. Gibt es irgendwo einen Raum, wo wir ungestört sind?“
Dorothea sitzt aufrecht auf einem der sechs hellblau gepolsterten Stühle am ovalen Holztisch des Besucherzimmers. Sie hat die Hände auf den Tisch gelegt, die Finger verschränkt.
„Ich bin Polizeioberkommissar Kai Bacher“, stellt sich der Beamte vor, der ihr gegenüber sitzt. „Ich möchte mit Ihnen über den Vorfall heute Vormittag sprechen und über das, was mit Schwester Regintrautis passiert ist. Aber zuerst brauche ich ein paar persönliche Daten von Ihnen.“ Bacher drückt auf den Aufnahmeknopf des Diktiergeräts, das vor Dorothea auf dem Tisch liegt.
„Nonnenmacher. Dorothea Nonnenmacher, geboren am 15. März 1921 in Bischofsstetten. Zum ersten Mal gestorben am 13. November 1936 hinter den hohen Mauern eines abgelegenen Klosters, eine Tagesreise von hier entfernt“, sprudelt es aus Dorotheas Mund, als hätte sie den Text auswendig gelernt. „Aber bevor ich weiterspreche – Ich habe eine Bitte“, unterbricht sie ihren Vortrag. „Ich möchte, dass Schwester Bernadette bei dem Gespräch dabei ist. Vielleicht kann sie dann besser verstehen, was hier geschehen ist.“
Der Polizist nickt. „Wie Sie wollen“, sagt er und steht auf, um die Heimleiterin zu holen.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ Der Polizist und die Nonne auf der anderen Tischseite hören ihr aufmerksam zu. „Ich war jung – kaum 14 Jahre alt und verliebt. Pater Benedikt war der einzige Mann im Kloster, und er interessierte sich ausgerechnet für mich. Ein schüchternes Mädchen vom Lande. Wissen Sie wie gut das tut, wenn dich einer anlächelt und dir zärtlich über den Kopf streichelt und flüstert: ‘Du hast schönes Haar!’ Das ist doch nicht verboten. Das darf er doch, dachte ich damals. Und eines Tages lud er mich in seine Zelle ein. ‘Wir können zusammen etwas spielen oder beten’, schlug er vor. Ich habe nicht eine Sekunde gezögert. Natürlich wollte ich mit Pater Benedikt beten und spielen … Warum auch nicht? Hauptsache ich war ihm nahe. Ausgerechnet mich hatte er auserwählt. Was für eine Ehre. Nicht eine von den arroganten höheren Töchtern, die dort im Internat der Klosterschule wohnten. Für die war ich doch sowieso nur ein dummes Küchenmädchen, eine Putze. Mehr nicht. Pater Benedikt war anders. Er verachtete mich nicht wegen meiner einfachen Herkunft. Im Gegenteil, ich schien ihm zu gefallen.“ Dorothea lächelt gedankenversunken.
„’Hier nimm!’, hat er gesagt und auf die Plätzchen auf dem vornehmen Kristallteller gedeutet. ‘Die hat Schwester Adelgund gebacken.‘ Schwester Adelgund – eine wunderbare Köchin und eine gute Bäckerin. Sie holte mich in die Klosterküche, nachdem mich meine Eltern im Stift abgeliefert hatten. Mit Dreizehn! ‘Bei mir in der Küche musst du nicht hungern, Kindchen‘, hat sie gesagt. ‘Außerdem, wenn du mal einen anständigen Mann bekommen willst, dann musst du gut kochen können!‘“
Dorotheas Mund verformt sich zu einem bitteren Lächeln: „Einen anständigen Mann … Eigentlich sollte ich doch Nonne werden. So jedenfalls wollten es meine Eltern und natürlich auch ich. Wie man sieht, hatte der Herr andere Pläne mit mir. Aber der Reihe nach. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich sein Spiel durchschaute, denn Pater Benedikt war keineswegs so fromm, wie er tat. Doch als ich es bemerkte, war es zu spät. Natürlich zweifelte ich manchmal, ob es richtig ist, was er mit mir machte. Schließlich wusste ich, dass es unkeusch ist. Aber es war schön, wenn er mich küsste und mich anfasste. Noch nie war mir jemand so nahe. Ich war wie betört. Ein dummes Kind, das man zu nichts zwingen musste. Auch später, als er sich zu mir aufs Bett legte. Ich wehrte mich nicht. Er kennt doch die Gebote. Er weiß doch, was Sünde ist, habe ich mir eingeredet. Dennoch schämte ich mich schrecklich. So sehr, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Wer hätte mir denn geglaubt? Später erfuhr ich, dass ich nicht seine einzige Sünde war. Vor mir und nach mir sind wohl auch andere Mädchen mit ihm auf Pilgerreise gegangen. Genau wie meine Tochter wurden die neugeborenen Kinder dieser ledigen Mütter an zahlungskräftige adoptionswillige Katholiken verkauft. Ein gutes Geschäft für die beiden Klöster."
„Ich erinnere mich. Der Skandal wurde erst Mitte der siebziger Jahre aufgedeckt“, bestätigt Bacher. „Es geschah wohl in der schlechten Zeit vor und während des Krieges. Damals fiel es nicht auf, weil es viele Frauen gab, die ihre Babys anonym in den Klöstern abgegeben haben …“
„Niemand hat sich dafür interessiert, woher die Säuglinge wirklich kommen.“ Dorothea atmet tief durch, als würde ihr mit jedem Wort, das sie ausspricht, eine schwere Last von der Seele fallen.
„Sehe ich das richtig: Das Seniorenheim hier war früher ein Kloster und die Tote war die Chefin?“, setzt der Kommissar die Befragung fort.
„Schwester Regintrautis war die Oberin des Klosters und die Rektorin der Mädchenbildungsanstalt, die sich bis 1978 in unserem Haus befand“, bestätigt Bernadette. „Sie war noch sehr jung. Kaum dreißig Jahre alt, als sie in ihr Amt berufen wurde.“
„Ja. Und sie duldete die Machenschaften von Pater Benedikt. Sie wusste, wer der Vater meines Kindes ist. Als ich hörte, dass man die Klosterschule in ein Altenheim umgebaut hatte und es im alten Gebäudetrakt eine Stadtion für pflegebedürftige Ordensleute gibt, schöpfte ich Hoffnung, dass sie noch leben könnte. Also fasste ich den Entschluss, ins Seniorenstift zu ziehen. Es war meine letzte Chance, zu erfahren, was aus meiner Tochter geworden ist. Als ich erfuhr, dass auch Pater Benedikt noch im Kloster lebt ...“
„Sie haben alles geplant?“ Der Polizist zieht die Augenbrauen hoch. „Aber warum haben Sie denn so lange gewartet? Die Oberin hätte doch sterben könnte?“
„Es war nicht so leicht, herauszufinden, ob sie noch lebt und wo sie untergebracht ist. Als Heimbewohnerin kann man nicht einfach in den alten Klostertrakt spazieren und dort Leute besuchen.“
Schwester Bernadette nickt zustimmend. „Die Pflegestation befindet sich in dem Trakt, wo auch die Klosterschwestern ihre Zellen haben. Eigentlich haben nur nahe Angehörige Zutritt und der Arzt natürlich.“
„Wie haben Sie es denn geschafft, sich Zutritt zu verschaffen?“, bohrt der Polizist nach.
„Das ist eine komplizierte Geschichte. Bevor ich sie erzähle, möchte ich zuerst zurückgehen, in die Zeit, wo alles begann. Dorotheas Gesichtszüge entspannen sich. Dennoch wirkt sie konzentriert. Sie holt tief Luft. ‘Das ist die Strafe für die Todsünde’, die du begangen hast, dachte ich damals, als mein Bauch dicker und dicker wurde und mir Schwester Adelgund erklärte: ‘Du bekommst ein Kind. Wir müssen mit der Mutter Oberin sprechen.’“
Dorothea zuckt mit den Schultern. „Was hätte ich denn tun sollen? Zurückgehen zu meinen Eltern aufs Land? Undenkbar in diesem Zustand!” Die Seniorin schaut gedankenverloren aus dem Fenster, als könnte sie dort die Bilder ihres verkorksten Lebens vorbeiziehen sehen. „Als wir aufbrachen, war mir klar, dass ich das Kind in der abgelegenen Waldabtei zur Welt bringen soll. Im Kloster hier wäre es nicht möglich gewesen. Und ich wusste, dass ich es nicht behalten kann. Eigentlich konnte ich ja froh sein, das Kind auf diese Weise loszuwerden. Wie hätte ich es denn großziehen sollen – ohne Vater und Geld? Aber wissen Sie was das Schlimmste war?” Für einen Moment hält Dorothea inne, so als wagte sie es kaum, den Gedanken auszusprechen. „Das Schlimmste war, dass ich mein Kind nie sehen, es nie in den Armen halten durfte. ‘Es ist ein Mädchen’, hatte die Hebamme gesagt und war mit dem Säugling aus dem Zimmer gegangen. Ich war zu schwach, um mich zu wehren.” Dorothea seufzt. „Ein Mädchen, geboren am 13. November 1936. Das ist dein Geburtstag, Bernadette, nicht wahr?” Die Klosterschwester schaut die Alte verwirrt an. „Soll das heißen, dass ... dass Sie meine Mutter sind? Das glaub ich nie und nimmer!” Aus Bernadettes Blick funkelt das blanke Entsetzen. „Lieber Gott im Himmel, wie ist das möglich?”
„Es tut mir leid, Bernadette, dass ich dir das antun muss. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich geschwiegen hätte. Ich habe es selbst erst vorhin erfahren, kurz bevor die Schwester Oberin … gestorben ist. Wenn ich es früher gewusst hätte, dann …”
„Was dann?”, unterbricht Bernadette harsch die Frau, die ihre Mutter sein will und eine Mörderin ist. „Was wäre denn anders gewesen? Hätten Sie sie dann nicht umgebracht? Hätten Sie ihr dann verziehen? Und Pater Benedikt? Hatten Sie da etwa auch Ihre Hände im Spiel? Gütiger Gott, was für ein mörderisches Spiel!”
Dorothea nickt. „Er hatte es nicht besser verdient.”
„Warum ist es niemandem aufgefallen, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist?", erkundigt sich Kai Bacher.
„Als sie mich ließen, habe ich ihn jeden Tag besucht. Er wohnte immer noch in seinem alten Dachzimmer. Alles war noch wie früher. Der kleine runde Holztisch mit dem geklöppelten Deckchen. Das Bett, überzogen mit blau kariertem Bettzeug. Er saß da in seinem Lehnstuhl und stierte vor sich hin. Die Demenz hat ihm das Hirn durchlöchert, dachte ich damals. Natürlich hat er mich nicht erkannt. Wie auch? Es war ja so lange her. Die Hostie, die ich ihm jeden Tag verabreicht habe, war präpariert. Bleiweiß – ein langsam wirkendes Gift – geruch- und geschmacklos. Ich tauchte sie in Joghurt, damit er sie besser schlucken kann.” Dorothea lächelt. „Es dauerte ein paar Wochen, bis die Wirkung einsetzte und sich die ersten Symptome zeigten. Schüttelkrämpfe, Inkontinenz. Jeden Tag ging es ihm ein bisschen schlechter. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ich ihn vergifte. Es war mir eine Genugtuung, ihn leiden zu sehen. Schließlich war er schuld daran, dass ich nie mehr ein gottgefälliges Leben führen konnte.”
Dorothea senkt beschämt den Blick, um ihrer Tochter nicht in die Augen sehen zu müssen. „Es ist viel passiert seit jenem kalten Tag im November 1936, Bernadette. Hier! Ich habe alles aufgeschrieben.” Sie holt einen großen hellbraunen Umschlag aus ihrer Handtasche. Für meine unbekannte Tochter und meinen Sohn Kornelius, steht in schwarzen Druckbuchstaben darauf geschrieben. „Ja, du hast recht, Bernadette. Ich bin eine böse, verbitterte alte Frau und ich habe viel Unrecht getan. In diesem Leben kann ich es nicht mehr gutmachen. Aber vielleicht vergibt mir ja der da oben meine Schuld. Der, in dessen Namen mir so viel Unrecht widerfahren ist. Dorothea faltet die Hände zum Gebet. Ihr Kopf hebt sich wie in Zeitlupe. Ihr flehender Blick durchbohrt die Zimmerdecke, als wollte sie direkt in den Himmel schauen. „Herr, es ist Zeit. Wir müssen reden”, murmelt sie.
Ende
Lieber Leser,
Dorothea hat ihren Weg zu Gott gefunden. Was aber steht in dem Buch, das sie ihrer Tochter Bernadette übergeben hat? Was hat es mit Kornelius, ihrem Sohn auf sich? Wer war das Mädchen, das Dorothea vor 50 Jahren gesehen hat? Und wie hat sie es angestellt, in den alten Klostertrakt zu gelangen? Viele Fragen müssen offen bleiben. Vorläufig!