„Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ steht auf dem Formular, das ihr der Mann am Tisch gegenüber zuschiebt. Kerstin schüttelt den Kopf. „Ich hab ja schon viel erlebt in den letzten Wochen: fehlendes Geburtsdatum, falsches Einreisedatum, aber … Hier Linda, schau dir das mal an! Kannst du mit dem was anfangen?“
Linda, die an einem Holzschreibtisch aus den 50er Jahren sitzt und Daten in einem Computer eingibt, dreht sich mit einem gequälten Ächzen um und nimmt den Mann in Augenschein. „Keine Ahnung, wo die den aufgegabelt haben“, sagt sie eher desinteressiert und widmet sich wieder ihrer Arbeit. Schließlich hat sie noch viel zu tun und jeden Tag kommen neue Menschen, die erfasst und versorgt werden müssen. Ohne die ehrenamtlichen Helfer wie Kerstin und Linda würde in der Notunterkunft der kleinen Stadt nichts gehen. Davon sind die beiden Frauen überzeugt.
Linda steht nun doch auf, geht zu dem kleinen Besprechungstisch und nimmt den Zettel. „Taha – ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?“
Der Gefragte lächelt und nickt.
„Also was jetzt? Taha – first name or family name?“ Linda spricht jetzt sehr laut, damit der Mann sie besser verstehen kann.
Der Fremde lächelt unbeirrt weiter und nickt höflich.
„Nochmal: T a h a – Firstname?“, wiederholt Linda Buchstabe für Buchstabe auf deutsch. „Oder family name?“
Der Fremde nickt erneut und lächelt freundlich.
Linda seufzt.
„Siehste, das ist sinnlos mit dem. Der versteht gar nix!“ Kerstin schnappt sich den Zettel und schiebt ihn dem Fremden mit einer unwirschen Bewegung zurück. „Ich wette, das ist auch einer von den vielen Analphabeten, die uns hier beehren!“
Der Fremde lächelt noch immer.
„Weißt du was? So langsam geht mir dem sein Grinsen gewaltig auf den Seiher!“, echauffiert sich Linda. „Was machen wir jetzt mit ihm? Ich kann doch den Erfassungsbogen im PC nicht ausfüllen, wenn ich nicht mal seinen Namen hab. Wo kommt denn der überhaupt her?“

„Na, wo schon? Auf der BüMa steht Herkunftsland Afghanistan“, stellt Kerstin fest, die inzwischen den Zettel wieder an sich genommen hat. Vielleicht kommen wir mit Farsi oder Dari oder Pashtu weiter. Was meinst du, sollen wir den Amigo rufen? Vielleicht kommt der mit ihm klar und kann ins Englische übersetzen?“
Linda schüttelt den Kopf. „Der Amigo ist ein guter Dolmetscher. Aber mit dem kommt der auch nicht weiter. Das hat er mir vorhin auf dem Gang gesagt, als ich ihn bat, mit zum Aufnahmegespräch zu kommen. Ich sag doch, mit dem stimmt was nicht. Irgendwie …? Schau dir doch mal seine Augen an – seit wann haben Afghanen denn Schlitzaugen?“
„Na ja, also wegen den Augen … in Afghanistan gibt’s sehr wohl Geschlitzte“, klärt Kerstin ihre Kollegin auf. „Hab ich bei Wiki gelesen. Die Hazara, zum Beispiel, die stammen von den Mongolen ab …“
„Was du wieder alles weißt. Und wie sollen diese Hasendingsda hierher kommen? Mit nem Kamel durch die Wüste Gobi oder was?“ Linda grinst böse.
Der Fremde lächelt.

„Vielleicht isser ja mit dem Flieger gekommen? Der hat nämlich nen Rollkoffer und da sind noch die Gepäckaufkleber vom Flughafen dran“, klärt Kerstin ihre Kollegin auf.
„Ach was? Du meinst First-Class-Direktflug von Kabul ins Notaufnahmelager nach Deutschland? Gibt's das jetzt auch schon zu buchen als Katastrophentourismus oder Abenteuerreise?“, feixt Linda.
Kerstin zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, woher er den Rolli hat, vielleicht hat er ihn ja irgendwo ...“
„Du meinst geklaut?“ Linda schüttelt den Kopf: „Glaub ich nicht. So sieht der mir nicht aus. Nee, echt jetzt. Kriminell ist der nicht. Nur ein bisschen merkwürdig. Passt halt so gar nicht zu dem anderen Volk hier.“
„Weißt du was? Schreib Herkunftsland Afghanistan. Geburtsort unbekannt. Irgendwie müssen wir ja mal weiterkommen“, fordert Kerstin ihre Kollegin auf. „Hast du ihn schon fürs Röntgen und zum Impftermin angemeldet?“
Linda nickt. „Hab ihn grad eingetragen. Der fährt morgen früh zusammen mit den anderen Neuen erst mal zum Krätzetest ins Gesundheitsamt. Und wenn er zurückkommt, marschiert er in die Kleiderkammer, damit er sich seine Erstausstattung holen kann.“
„Wieso denn das, der is doch recht adrett gekleidet? Guck dir doch mal seine Schuhe an!“, sagt Kerstin.
Der Fremde zieht die Füße verschämt unter den Stuhl zurück und lächelt verlegen.
Linda beugt sich ein Stück nach vorne, um die Schuhe des Mannes näher betrachten zu können. „Stimmt. Lederschuhe vom Feinsten. Woher er die bloß hat?“
„Na in dem Rolli, den er mitgehen hat lassen. Hab ich doch gleich gesagt.“ Kerstin wendet sich dem Fremden zu: „Also Mr. Taha Unknown – tomorrow 8 o'clock you go to the bus in front of the house. He brings you to the Gesundheitsamt and the doctor givs you an injection. An injection for your health. You understand? Kerstin sticht sich symbolisch eine Spritze in den Oberarm.“
Der Mann lächelt und nickt kaum merklich.
„Was sprichste denn englisch mit dem. Der kapiert ja doch nix“, mischt sich Linda jetzt ein. „Das macht man so: Linda baut sich vor den Mann auf: „Also Mr. Taha – morgen früh Bus – Doktor macht Check! Kapiert? So und jetzt fertig – tschüs!“ Sie geht zur Tür, öffnet sie und zeigt mit der Hand nach draußen. „Bitte gehen. Fertig!“
Der Mann steht auf, legt seine rechte Hand auf die Brust, verbeugt sich tief, geht ein paar Schritte rückwärts und bleibt in der geöffneten Tür stehen.
„Uijujui. Haste das gesehen? Wie ein Japaner“, feixt Kerstin und verbeugt sich ihrerseits demonstrativ.
„Siehste, jetzt wissen wir's. Wir hätten besser Japanisch mit ihm reden sollen, spottet Linda: „Sayonara, Mr. Grinsemann. Dürfen wir morgen bei der Essensausgabe Sushi für Sie bestellen?“
„Sushi!“ Ich lach mich schief. Linda grinst breit. „Na, da möcht ich mal die anderen sehen ...“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber nicht nötig“, sagt der Mann jetzt in akzentfreiem Deutsch und lächelt. „Das mit dem Sushi wäre dann doch etwas übertrieben. Wissen Sie, ich arbeite für eine große deutsche Tageszeitung und wollte mal wissen, wie es den Asylsuchenden in den Unterkünften so ergeht. Bei Ihnen hab ich mir exzellenten Eindruck verschaffen können. Selbstverständlich werde ich Ihre Bemühungen in meinem Bericht in besonderer Weise hervorheben.“