Ich nenne sie Maria, weil ich finde, der Name passt zu ihr. Wie sie tatsächlich heißt, weiß ich bis heute nicht und hat im Nachhinein auch keine Bedeutung. Bei einem aber bin ich mir ziemlich sicher: Maria ist Italienerin, vermutlich sogar Sizilianerin, denn Maria ist das Abbild einer in die Jahre gekommenen italienischen Nonna. Irgendwann, vermutlich Mitte der 60er Jahre, ist sie nach Deutschland gekommen. Sie hat wohl drei Kindern das Leben geschenkt. Sohn Stefano, der Älteste, war noch in Sizilien zur Welt gekommen, in dem Bergdorf, aus dem Maria stammt. Die beiden Töchter Francesca und Antonella wurden bereits in Deutschland geboren und kennen die Heimat ihrer Eltern nur von den seltenen Urlauben. Inzwischen ist Maria Großmutter von sechs Enkelkindern. Zwei Jungen und vier Mädchen – eine etwas zu klein geratene Großfamilie, wie sie findet. Sohn Stefano wohnte noch lange zu Hause und ließ sich von Mama Maria versorgen, auch als er schon längst erwachsen war und sein eigenes Geld verdiente. Er blieb, bis er eine Frau fand, eine Deutsche vermutlich, in deren Wohnung er mit einziehen konnte und die ihn in derselben mütterlichen Weise umsorgte, wie es Mama Maria getan hatte. Stefano und seine deutsche Frau haben einen Sohn, Paolo. Er und seine Cousins und Cousinen kennen das spartanische Leben ihrer Großeltern nur von Nonna Marias Erzählungen, denn bisher haben sie keinen Grund gesehen, in die Heimat ihrer Großeltern zu reisen.
Inzwischen sind die Enkelkinder herangewachsen und besuchen ihre Nonna nur noch zu den Geburtstagen. Eine willkommene Gelegenheit für Maria, ihnen Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen und süße Cannoli zu servieren, eine Köstlichkeit, die es in der Heimat nur an Feiertagen und zu besonderen Anlässen gab. Das sind die Momente, in denen sich Maria an ihr früheres Leben erinnert – an den Vater, der auf den kargen Bergwiesen Schafe und Ziegen hütete, an ihre sieben jüngeren Geschwister und an ihre Mutter, die von morgens bis abends schuftete und dabei oft ein Volkslied trällerte: „Ma come bali bene, bella bimba, bella bimba ...“
Maria hatte während ihrer 5-jährigen Schulzeit leidlich Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Das musste genügen, denn ihre Arbeitskraft wurde zu Hause gebraucht. Sie half dem Vater auf der Weide, ging der Mutter zur Hand und kümmerte sich um ihre jüngeren Geschwister. Giuseppe, der später ihr Mann werden sollte, wohnte 30 Kilometer entfernt in einem Bergdorf, das nur über eine steile, serpentinenreiche Straße zu erreichen war. Seine Familie war arm, wie alle, die in den zerfallenen Häusern der abgelegenen Bergdörfer Siziliens wohnten. Die beiden sahen sich nur sonntags, wenn Giuseppe mit dem klapprigen Postbus zur Messe in die Dorfkirche fuhr. Marias Großmutter war nicht glücklich darüber, dass die beiden ein Auge aufeinander geworfen hatten, denn 30 Kilometer waren für sie eine riesengroße Entfernung, fast wie eine Reise zum Mond. Und schließlich hatte sie gerne die ganze Familie um sich herum. Zu jeder Zeit. Zufrieden war sie erst, als Giuseppe mit der Hochzeit zu ihnen ins Dorf zog. Für die ersten Jahre jedenfalls. Als Giuseppe eines Tages beschloss, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, um irgendwann mit viel Geld zurückzukommen, weinte Marias Großmutter. Sie war alt und fürchtete, ihn nie wieder zu sehen. Maria willigte nach langem Hin und Her ein und wartete zusammen mit Stefano auf Giuseppes ersten Urlaub in der Heimat, um zu hören, wie es ihm in der Fremde erging.
Wie Sie wissen, ist dann doch alles anders gekommen, denn als Giuseppe einige Jahre in Deutschland war und gutes Geld verdient hatte, begriff er sehr schnell, dass es für ihn in Sizilien keine Zukunft gab. Mit dem Ersparten konnte er zwar das undichte Dach von Marias Elternhaus renovieren, für ein komfortables Leben für sich und seine Familie würde es allerdings nicht lange reichen. Deshalb nahm er, als die Großmutter gestorben war, seine hübsche Maria und seinen Sohn Stefano mit ins kalte Deutschland. Es musste ja keine Abschied für immer sein.
Die Zugfahrt von Neapel in die Kleinstadt im Spessart dauerte einen Tag und eine Nacht und war sehr anstrengend, aber auch aufregend für Maria. Nur ein einziges Mal war sie als Kind mit dem Vater über das große Wasser aufs Festland in die riesige Stadt Neapel gefahren. Als sie nun die 2000 Kilometer entfernte Reise zusammen mit ihrem Mann, dem nötigsten Gepäck und dem kleinen Stefano an der Hand antrat, erinnerte sich Maria daran, wie schlecht es ihr damals erging. Das Schiff hatte sehr geschaukelt und Maria hatte sich übergeben müssen.
Wenn Sie nun fragen, was Marias Vater in Neapel zu erledigen hatte und warum er dafür seine älteste Tochter mitgenommen hatte, muss ich Sie enttäuschen. Ich weiß es nicht und Maria erinnerte sich im Nachhinein ebenfalls nicht, denn sie war, wie Sie sich denken können, viel zu beschäftigt mit ihrer Übelkeit und damit, über die Welt außerhalb der sizilianischen Berge zu staunen.
Wie viele Heimwehtränen Maria nachts in ihr Kopfkissen weinte und ob sie ihre Entscheidung auszuwandern, jemals bereute, muss ungeklärt bleiben, denn es fand sich bedauerlicher Weise keine Gelegenheit, mit ihr darüber zu sprechen. Fragen Sie mich deshalb bitte nicht, was in ihrem Kopf vor sich ging und wie sie sich als Fremde in Deutschland fühlte.
Sicher können Sie sich, nach allem, was Sie nun über Maria wissen, ein mehr oder weniger gutes Bild von ihr machen. Ob es zutrifft, werden Sie erfahren, wenn Sie es mit meiner Beschreibung vergleichen, die ich Ihnen der Vollständigkeit halber geben möchte.
Maria war Anfang 70, klein und untersetzt mit kurzen Beinen, die unter dem schwarzen Rock, den sie in den Sommermonaten immer trug, wie gebogene Stöcke hervorragten. Ihre stufenlos geschnittenen, grau-schwarz melierten Haare, die sie streng aus dem Gesicht gekämmt hatte und die große, dunkel gefasste Brille, ließen keinen Zweifel daran, dass sie italienischer Herkunft war. Aber das wissen Sie ja bereits.
Aus welcher der vielen Seitenstraßen sie kam, konnte ich nie erkennen, denn ich sah sie immer erst dann, wenn sie bereits auf der Hauptstraße war, die in einer langen geraden Linie vom Hang zum Bahnhof führt. Die Siedlung war Anfang der 50er Jahre für die vielen Kriegsflüchtlinge und Heimatvertriebenen erbaut worden. Die Straßen dort heißen Preßnitzer und Königsberger Straße oder Egerländer Weg und klingen so gar nicht italienisch. Später waren die Sozialwohnungen auch bei den Gastarbeiterfamilien sehr beliebt.
Maria hatte nicht einen Augenblick daran gedacht, ihre drei Zimmer gegen eine moderne und komfortablere Wohnung in der Stadt zu tauschen. Auch nicht, nachdem die Kinder aus dem Haus waren und sie Witwe wurde.
„Halt!“, werden Sie sagen: „Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, dass ihr Mann gestorben ist? Hatte es Maria nicht schon schwer genug in ihrem Leben und hätte sie es nicht verdient, zusammen mit Giuseppe einen schönen Lebensabend zu verbringen?“ Nun, ich muss zugeben, Ihr Einwand ist berechtigt. Natürlich ist es eine gewagte Theorie und für Maria keineswegs schön, dass Giuseppe so plötzlich verstorben ist, ohne seine Rente genießen zu können und ohne die alte Heimat noch einmal wiedergesehen zu haben. Glauben Sie mir, tief in meinem Inneren hoffe ich für Maria, dass Giuseppe wohlauf ist und dass der Zweck ihres morgendlichen Gangs nur dazu dient, frische Brötchen zu holen, um danach zusammen mit ihrem Giuseppe ein ausgiebiges und köstliches Frühstück zu genießen. Aber ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Mein Gefühl sagt mir bedauerlicher Weise, dass dem nicht so ist.
Zugegeben, es gibt keine gesicherte Fakten, aber bei genauerer Betrachtung der Situation werden Sie zugeben müssen, dass alles genau so sein kann oder gewesen ist. Jedenfalls wird es Ihnen schwerfallen, den Gegenbeweis anzutreten. Aber, ich nehme an, das ist sowieso nicht ihre Absicht.
Jetzt, wo Sie so viel und trotzdem so gut wie nichts über Maria wissen, will ich Ihnen nicht verschweigen, was es mit ihr auf sich hatte.
Die Eingänge der grauen Häuserblocks liegen abseits und etwas oberhalb des Firmenparkplatzes, an dem ich jeden Morgen mein Auto abstellte. Ich sah Maria immer erst dann, wenn sie mit energischem Schritt die breite lange Straße herunterkam. Wenn ich spät dran war und sie meinen Parkplatz bereits passiert hatte, hob sie, wenn ich an ihr vorbeifuhr, kurz den leeren Einkaufsbeutel zum Gruß, bevor sie in der Bahnunterführung verschwand, die das dahinter liegende Gewerbegebiet mit der Siedlung verbindet. So, als wäre sie froh, mich in letzter Sekunde doch noch gesehen zu haben. War ich, was hin und wieder vorkam, früh dran, sah ich ihre Silhouette aus der Ferne winken. Sie kannte schließlich mein Auto.
Einmal, wie es der Zufall wollte, kamen wir gleichzeitig an meinem Parkplatz an. Wie es sich gehörte, wollte ich sie zunächst passieren lassen, bevor ich nach links abbog. Aber, anstatt weiterzugehen, blieb Maria stehen und gab mir mit einer eleganten Handbewegung zu verstehen, dass sie mir den Vortritt lassen würde. Ich nickte und bog mit einem Lächeln auf den Lippen vor ihr ein. Ich hätte mich gerne für diese Höflichkeit bei ihr bedankt, aber beim Aussteigen sah ich, dass sie bereits weitergelaufen war und keineswegs einen Dank erwartete.
Im Nachhinein kann ich nicht sagen, ob es ein Fehler war, oder ob alles sowieso so gekommen wäre. Ich bin mir aber sicher, an meiner Stelle hätten Sie genauso gehandelt. Sie werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass ich Maria nicht im Ungewissen lassen durfte und dass es in Ordnung war, sie abzupassen, um ihr mitzuteilen, dass unser wortloses morgendliches Begrüßungsritual bald ein Ende haben würde.
Logistisch war das Zusammentreffen leicht zu organisieren. Ich musste nur rechtzeitig da sein und auf sie warten. Was sollte schon passieren? Maria machte keinen besonders verschreckten Eindruck, und vielleicht freute sie sich ja, wenn ich sie ansprechen würde. Endlich – nach so vielen Jahren. In meinem Kopf hatte ich mir die Worte genau zurechtgelegt.
Und dann war es soweit: Ich sah Maria an jenem denkwürdigen Tag die Straße herunterkommen, flott wie immer und augenscheinlich guter Dinge. Sie ahnte nicht, dass ich sie abpassen würde an diesem Morgen, zwei Minuten vor 8 Uhr, auf dem Gehsteig vor dem maroden Firmengebäude. Woher auch?
Glauben Sie mir, mein Herz klopfte wie wild vor Aufregung, als ich Maria näher und näher kommen sah. Ich befürchtete, meine Stimme könnte versagen, oder noch schlimmer, meine Kehle würde im entscheidenden Augenblick nur mehr ein heiseres Krächzen hervorstoßen können. Ich stellte mir ihren verwunderten Blick vor und wie sie, vielleicht sogar Kopf schüttelnd, weitergehen würde, nachdem ich vergeblich versucht hatte, ihr den Grund meines ungewöhnlichen Verhaltens mitzuteilen. Im besten Fall allerdings, hatte ich mir ausgemalt, würde sie mich von Wehmut und Dankbarkeit überwältigt, umarmen und mir unzählige Küsschen verpassen, während ihr und mir vor Rührung die Tränen über die Wangen liefen.
„Das klingt aber jetzt doch alles ein bisschen sehr theatralisch“, werden Sie vielleicht einwenden. Aber, Sie werden mir recht geben, wenn ich behaupte, dass ich bei realistischer Einschätzung der Situation zumindest einen herzlichen Händedruck erwarten durfte. So, wie es sich eben für einen würdigen Abschied gehört.
Als sie vor mir stand, nahm ich allen Mut zusammen: „Maria“, presste ich mit belegter Stimme heraus, „ich will Ihnen nur sagen, dass wir uns vermutlich nicht mehr ...“
„Wenn gesund, dann gut. Wenn krank Scheiße!“, blaffte sie mir mit typisch italienischem Zungenschlag entgegen und lief, den leeren Beutel schwingend, weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Das war das erste Mal, dass ich Maria sprechen hörte und das letzte Mal, dass ich sie sah. Ich weiß immer noch nichts vor ihr, außer dass sie in einem der vielen grauen Mehrfamilienhäuser wohnen muss und dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich Italienerin ist.
Von der Hauptstraße kann man die Häuser gut einsehen. Auf einem der kleinen Balkone, die zu jeder Wohnung gehören, steht jeden Sommer ein leuchtend gelber Sonnenschirm. Was meinen Sie – soll ich es wagen, an der Wohnungstüre zu klingeln und nach Maria fragen? Vielleicht vermisst sie mich ja und schließlich muss ich mich doch noch von ihr verabschieden.
August 2018
Nach einer wahren Begebenheit