Fortsetzung von Detlevs Anfang:
So hatten Caroline und Andreas es sich nicht vorgestellt, als sie zu dieser großen Reise aufgebrochen waren. Das Haus am See war nicht groß, aber strahlte eine einnehmende Atmosphäre aus. Der Efeu hatte die Fensterläden schon etwas überwuchert und einige Blätter ragten wie die Spitzen von Gardinen an den Rand der Fenster vor. Auch die Möbel wirkten behäbig und luden mehr zum entspannten Halbliegen als zum angestrengten Sitzen in Arbeitshaltung ein. Ihre Runde gestern Abend hatte dennoch eine Dynamik entwickelt, die sie auch jetzt beim morgendlichen Gang mit Lasco, Friederikes treuen Bernhardiner, noch weiter beschäftigte. Fritz und Friederike, F&F wie sie sich immer selber nannten, hatten in ihrem bisherigen Leben und Arbeitsleben so deutlich Anderes erlebt, gedacht und gewünscht, dass alle gestaunt hatten, wie sie sich überhaupt so lange treffen und unterhalten konnten. Natürlich waren das Reisen und so bekannte Ziele wie Köln am Rhein immer wieder ein Thema gewesen. Und manch ein Reinfall bei der Buchung von prächtigen Hotels, deren Zimmer zwar sehr gut fotografiert, aber weniger gut gereinigt waren. Aus diesem Wortspiel heraus tauchte plötzlich das exotische Städtchen Reinheim in Hessen auf. Einer hatte recherchiert und war in der Stadtgeschichte auf eine Legende gestoßen, die von einer Frau namens Katharina der Reinen handelte. Sie soll einen Ritter durch treue und hingebungsvolle Pflege von einer schweren und als ansteckend geltenden Krankheit geheilt haben. Aus Dankbarkeit habe dessen Vater veranlasst, die Stadt Reinheim nach ihr zu benennen. Caroline hatte sich gewundert, wie bewegt Friederike auf diese Geschichte reagiert hatte. Ob denn auch eine Stadt nach ihr benannt sei, hatte sie gewitzelt. Natürlich nicht, hatte sie zurückgelächelt. Aber sie klang dabei etwas gequält. Später hatte Caroline dann noch einmal nachzuhaken versucht und gefragt, ob sie auch eine Katharina gekannt hätte, die medizinisch tätig sei. Wieder hatte sie das Gefühl, dass Friederike von dieser Erwähnung tief berührt sei, aber nicht deutlich machen wollte oder konnte, was sie so bewegte. Hatte sie ein Geheimnis zu verbergen?
Das jagdlich aristokratische Ambiente eignet sich perfekt für ein Wiedersehen mit der ehemaligen Medizinerclique, hatten sich Caroline und Andreas ausgemalt, als sie die Einladungen verschickten. Die beiden Ärzte, die kurz nach Abschluss ihres Studiums geheiratet hatten, waren gespannt, was aus ihren ehemaligen Studienkollegen geworden war. Mehr als 10 Jahre war es her, dass sie sich getroffen hatten. Andreas hatte das Treffen in Altaussee im Salzkammergut bis ins kleinste Detail organisiert. So wie man es von ihm gewohnt war. Die Einladung galt selbstverständlich auch dem jeweiligen Anhang, wie er in der WhatsApp-Gruppe „Medicüsse“ geschrieben hatte.
Friederike und Fritz waren die ersten, die am späten Vormittag anreisten. „Gut siehst du aus.“ Caroline musterte ihre ehemalige Studienkollegin von oben bis unten und fiel ihr schließlich um den Hals, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.
Friederike ließ die Prozedur über sich ergehen. „Ehrlich gesagt, fühle ich mich beschissen“, gestand sie, löste sich aus der Umarmung und drehte sich zu Fritz um, der hinter ihr stand. „Fritz, mein Angetrauter“, stellte sie ihn vor. „Caroline, meine ehemalige Studienkollegin.“
„Na ja, jetzt tu nicht so. Wir waren Freundinnen!“, beharrte Caroline. „Schon vergessen?“
„Ich weiß nicht …“ Friederike lächelte gequält. „Es ist so viel Zeit vergangen und so viel passiert. Irgendwie kommt mir das alles so unwirklich vor.“
Das weitläufige Hanggelände wirkte gepflegt. Rabatten mit Sommerblumen, üppig blühende Sträucher und Bäume mit Holzbänken boten Möglichkeiten zur Rast.„Wohin führt dieser Weg?“ Friederike deutete auf einen Pfad, der sich den Hang hinunterschlängelte.
„Zum See. Es gibt dort ein Segelboot, das wir benutzen dürfen. Andreas hat einen Segelschein“, strahlte Caroline. Du kennst ihn doch. Immer auf der Suche nach dem Besonderen.“
„Toll!“ Friederike nickte anerkennend. „Kommt Sebastian auch?“ Es sollte beiläufig klingen, aber Caroline war klar, dass die Anwesenheit Sebastians für Friederike zur Belastungsprobe werden könnte. Die beiden hatten sich während des Studiums kennengelernt und waren mehr als vier Jahre ein glückliches Paar gewesen. Bis Katharina auftauchte. Mit der schlanken, großgewachsenen Blondine aus dem Norden konnte es die zierliche Friederike mit ihren karottenroten krausen Haaren und dem sommersprossigen Gesicht nicht aufnehmen. Katharina wurde schnell zum umworbenen Star der männlichen Cliquenmitglieder. Auch Sebastian buhlte um sie und ging – zur Überraschung aller – als Sieger aus der Schlacht hervor. Friederikes Schicksal war damit besiegelt. Sie war die Loserin und konnte zusehen, wo sie blieb.
„Er hat zugesagt“, bestätigte Caroline. „Aber jetzt kommt doch erstmal mit ins Haus. Andreas ist schon gespannt darauf, dich wiederzusehen.“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Friederikes Magen breit. Wie würde Sebastian auf das Wiedersehen reagieren? Der Schmerz darüber, dass er sie hatte sitzen lassen, saß tief. Der wirre Cocktail aus Eifersucht, Trauer und Rachegefühlen hatte sie damals fast in den Selbstmord getrieben. Erst der humorvolle und lebensbejahende Fritz hatte sie aus der Depression geholt. Fritz tat ihr gut. Er war ihr ein zuverlässiger Kumpel, mit dem man durch Dick und Dünn gehen konnte. Dennoch spürte Friederike, dass er Sebastian nicht ersetzen konnte. Wenigstens nicht als Geliebter. Ihr fehlten die leidenschaftlichen Gefühle und die bedingungslose Liebe, die sie Sebastian gegenüber empfunden hatte.
Hatte?
Jetzt, wo das Wiedersehen mit Sebastian unmittelbar bevorstand, spürte sie eine körperliche und psychische Erregung, von der sie glaubte, sie für immer verloren zu haben. Gefühle, die ihm eigentlich nicht gehören durften. Ihr Herz raste, als sie das Foyer der Jagdvilla „Hubertushof“ betrat. Was würde sie heute hier erwarten? Eine teuflische Mischung aus Sehnsucht, Enttäuschung, Hass und Rache bahnte sich den Weg in ihr Bewusstsein.
„Schön, dass du es einrichten konntest. Ich meine natürlich, dass ihr es einrichten konntet.“ Andreas kam Friederike und Fritz im Foyer der Villa mit zwei Gläsern Prosecco entgegen.
Friederike zwang sich zu einem höflichen Lächeln. „Super Idee mit dem Treffen. Ich bin gespannt, was aus den Anderen geworden ist. Ich hatte zu niemandem mehr Kontakt. Du weißt ja, nach der Trennung von Sebastian brauchte ich Distanz.“
„Verstehe.“ Andreas hob sein Glas und prostete Fritz zu. „Aber wie ich sehe, hast du dein Glück ja gefunden.“
Fritz grinste verlegen. Als Krankenpfleger besaß er zwar fundierte medizinische Kenntnisse, trotzdem war sein Platz in der Krankenhaushierarchie weit unter dem der Ärzteschaft. Arzt mit Krankenschwester war ein Modell, das funktionierte. Ärztin mit Krankenpfleger hingegen undenkbar.Aber daran hatte sich Friederike nicht gestört, als sie Fritz heiratete. Schließlich hatte sie genug von ihren karrieregeilen Arztkollegen und sehnte sich nach Geborgenheit und einem unkomplizierten Lebensgefährten wie Fritz es war.
Friederike hasste Small-Talk, wie er in Akademikerkreisen üblich war. Der diente nur einem Zweck: Distanz halten und so wenig wie möglich über sich selbst preiszugeben, vor allem nicht das, was schiefgelaufen war. Sollten sich Fritz, Andreas und Caroline ruhig weiter über Belanglosigkeiten unterhalten, ihr war einzig und allein das Wiedersehen mit Sebastian wichtig. Die alten Bekannten dienten bestens als Statisten, das Ambiente hervorragend als Bühne für das Theaterstück, das sie sich ausgedacht hatte. Seit Andreas zu dem Treffen eingeladen hatte, malte sie sich aus, wie es sein wird, Sebastian nach all den Jahren gegenüberzustehen. Ob er sich verändert hatte? Es gab Zeiten, da hätte es sie gereizt, im Internet nach ihm zu suchen. Doch sie hatte es geschafft, dem Drang zu widerstehen. Es konnte ihr schließlich egal sein, was aus ihm geworden war. Oder doch nicht?
„Der Abend wird ja noch lang“, sagte Friederike an Caroline und Andreas gewandt, „Ich würde mich gerne noch ein bisschen ausruhen, bevor die anderen kommen.“ Friederike ließ ihren Blick über die breite Holztreppe nach oben schweifen, dorthin, wo sie die Gästezimmer vermutete. „Ich hol nur noch meine Sachen aus dem Auto.“
Ihr Zimmer roch harzigsüß nach frisch geschlagenem Holz. Friederike schnupperte. So also riecht der alte Landadel, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Blick fiel auf das Bett aus massiver Fichte. Die pompösen Federbetten waren bezogen mit rot-weiß karierten Überzügen. Aus dem verschnörkelten Bilderrahmen über dem Bett röhrte ein brünftiger Hirsch. Boden und Kleiderschrank waren ebenfalls in hellem Massivholz gehalten. Platten aus weißem Marmor deckten die Nachtkästchen ab. Der verschossene Gobelinbezug des Ohrensessels, der rechts neben dem Fenster stand, ließ ein einst prächtiges Rosenmuster erahnen. Friederike fühlte sich zurückversetzt ins Ende des 19. Jahrhunderts. Einer Zeit, in der die adelige Gesellschaft hier zur Jagd geblasen hatte.
Vom Fenster aus konnte Friederike den gekiesten Zufahrtsweg und den Hof mit den Stellplätzen gut einsehen. Ob Katharina mitkommen würde? In der WhatsApp-Gruppe hatte sich Sebastian nicht dazu geäußert, aber durch den Gruppenchat hatte sie nun Sebastians Handynummer.
Der Kies unter ihrem Fenster knirschte wie frisch gefallener Schnee, der von schweren Schuhsohlen zusammengetreten wird. Friederike stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um zu sehen, wer aus dem delphingrauen Audi TT stieg. Sie erkannte in dem dunkelhaarigen, großgewachsenen Mann Johannes, der in Begleitung einer schlanken Brünetten war. Mit einem surrenden Pfeifton schnappte der Kofferraumdeckel auf. Sekunden später rumpelten Johannes und die Brünette mit ihren Trolleys ums Eck zum Eingang. Also fehlten noch Patrick und Linda, die sich beide ohne Partner angekündigt hatten.
Und natürlich Sebastian.
Friederike ließ sich mit ausgestreckten Armen rückwärts in das voluminöse Federbett fallen. Ihre Gedanken kreisten um die Zeit mit Sebastian. „Es muss sich etwas ändern“, meldete sich ihre innere Stimme. „Es wird sich etwas ändern“, antwortete Friederike leise, als gelte es ein unglückliches Kind zu beruhigen. Sie suchte nach der Telefonnummer des Romantikhotels „Seeblick“, das ihr auf dem Weg zum Herrenhaus aufgefallen war. Eine kleine schicke Pension, wie sie auf der Homepage sehen konnte. Zehn Minuten Fußmarsch am Seeufer entlang. Sie hoffte inständig auf ein freies Zimmer. Notfalls würde sie sich mit einer Besenkammer zufriedengeben.
Als sie abermals Motorengeräusche hörte, sprang Friederike auf und schlug die Gardine einen Spalt breit zurück. Ein schwarzer Mercedes-SUV hatte neben dem grauen Sportwagen eingeparkt. Schier unerträglich lange Zeit verging, bis sich die Fahrertür öffnete. Ein Mann mit weißem Basecap stieg aus. Sonnenbrille, weißes Polohemd, dunkelblaue Edeljeans. Sebastian! Wo war Katharina? Die Beifahrertür blieb geschlossen. Friederike jubelte innerlich. Er war allein gekommen! Als würde er etwas suchen, schaute Sebastian an der Fassade entlang nach oben zu dem Fenster, an dem Friederike stand. Erschrocken ließ sie die Gardine los und trat einen Schritt zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet. Warum auch immer. Sie fühlte sich ertappt, wie eine Spannerin, die man beim Ausspionieren ihrer Nachbarn erwischt hatte. Warum hatte sie ihm nicht einfach freundlich lächelnd hinter der Scheibe zugewinkt, dann das Fenster geöffnet und ihn mit einem flotten „Hallo Sebastian“ begrüßt? Warum diese völlig unvernünftige Verlegenheit, diese völlig unpassende Unsicherheit? Sie hoffte vergeblich darauf, dass ihr Verstand ihr eine passende Antwort lieferte. Was also sollte sie tun? Hinuntergehen ins Foyer zu den Anderen und ihn begrüßen? Und wenn ja, wie? Ihm höflich distanziert die Hand reichen? Mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulaufen? Bussi links, Bussi rechts, dabei höflich ein „Schön dich zu sehen“, murmelnd. War das die angemessene Art seinen Ex zu begrüßen? Möglicherweise war alles ganz einfach und er nahm ihr die Entscheidung ab. Ein angedeutetes Wangenküsschen, eine kumpelhafte Umarmung, begleitet von leichtem Schulterklopfen und einem unverbindlichen „Wie geht’s?“
Und wenn nicht? Was wenn Sebastian genauso verunsichert war wie sie? Wenn er genau wie sie kein Rezept für ein Wiedersehen mit der sitzengelassenen Ex hatte, nach mehr als zehn Jahren und der chaotischen Trennung? Dann konnte eine peinliche Show aus ihrem Wiedersehen werden. Friederike entschied sich dafür, auf dem Zimmer zu bleiben und zu warten, bis Fritz, wie vereinbart, sie zum Brunch holen würde.
Friederikes ließ sich im Ohrensessel nieder. Sie wählte die Rufnummer der Pension „Seeblick“, erfuhr, dass kurzfristig ein Doppelzimmer frei geworden wäre und erklärte, dass sie und ihr Mann möglicherweise erst nach Mitternacht anreisen würden.
Das Wiedersehen mit Sebastian verlief völlig unspektakulär. Im Nachhinein konnte Friederike gar nicht verstehen, warum sie sich so verrückt gemacht hatte. Sie hatten sich die Hand gereicht und er hatte sie ein Stück zu sich herangezogen, sie kurz an sich gedrückt, ohne intensiven Körperkontakt, so wie bei allen anderen auch, freundlich lächelnd.
Er schien Friederikes Herzklopfen und ihre Nervosität nicht wahrzunehmen. Möglich, dass er sie bewusst ignorierte. Es war nicht Sebastians Art, sich um die Gefühlswelt anderer Menschen Gedanken zu machen.
Beim Nachmittagsprogramm am See hatte er Fritz in ein Gespräch über die Arbeitsbelastung des Krankenhauspersonals verwickelt. Friederike lauschte dem Gespräch nebenbei, ohne sich selbst einzubringen. Dabei erfuhr sie Interessantes aus Sebastians Leben. Wie sich herausstellte, betrieb er zusammen mit Katharina eine gut gehende Klinik für plastische Chirurgie in der Nähe von München und hatte es in der Upperclass mit Schönheits-OPs und Botox zu Ansehen und Geld gebracht.
Aber warum war Katharina nicht zum Treffen mitgekommen? Stimmte etwas nicht mit den beiden? Carolines Nachfrage war es, die Friederikes Hoffnung auf ein paar gemeinsame Stunden mit Sebastian zerschellen ließ, wie eine Welle an der Klippe. „Sie hat Bereitschaftsdienst und reist erst zum Abendessen an“, erklärte Sebastian.
Am liebsten hätte Friederike laut aufgeschrien. Die Frau, die ihr das Liebste genommen hatte, das sie je besessen hatte,würde in wenigen Stunden hier auftauchen, ihr gegenübersitzen und so tun, als habe es ein Leben vor ihr nie gegeben. Sie musste handeln. Dringend!
„Heute Nacht 12 Uhr Pension Seeblick. Ich muss mit dir reden. “Mit Genugtuung beobachtete Friederike, wie Sebastian sein Smartphone zückte, wenige Sekunden nachdem sie die WhatsApp-Nachricht abgeschickt hatte. Sie wich seinem fragenden Blick aus, den er in ihre Richtung schickte, spielte die Unbeteiligte. Wenn er nicht ganz abgebrüht und sie ihm nicht völlig egal war, würde er kommen, hoffte sie inständig.
Katharina hatte es sich bereits in einem der rustikalen Sessel im Jagdsalon des Herrenhauses gemütlich gemacht, als sie am frühen Abend vom Segelturn zurückkamen. Sie sah umwerfend aus: Figurbetontes knallgelbes Sommerkleid, schulterlange blonde Locken, tiefrote Lippen.
„Na endlich, wird ja auch Zeit!“ Katharina sprang auf und lief auf Caroline zu, um sie mit angedeuteten Küsschen auf beide Wangen zu begrüßen. Das gleiche Ritual bei Patrick, Linda, Andreas und der Brünetten, die Johannes als Lisa vorstellte.
„Ich nehme an, dieser junge Mann gehört zu dir?“ Katharinas eisblaue Augen wandten sich Fritz zu, während sie Friederike die Hand entgegenstreckte.
„Fritz, mein Mann“, bestätigte Friederike.
„Fritz“, wiederholte Katharina in verächtlichem Tonfall. „Kollege, nehme ich an?“
Da war sie wieder: Katharinas arrogante und hochnäsige Art, die Friederike so zuwider war, dass sie laut hätte schreien können.
„Hast du gewusst, Krambambuli, dass Friederike geheiratet hat?“, wandte sich Katharina an Sebastian, ohne eine Antwort zu erwarten.
Friederike stutzte. Krambambuli? Hatte Katharina Sebastian soeben Krambambuli genannt? Nach dem Hund, der wegen seiner Untreue elendig krepieren musste?
Das war typisch Katharina. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie von Sebastian absoluten Gehorsam und Loyalität erwartete. Eine Devise, nach der sie bereits früher handelte: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich! Auf diese Weise hatte sie Sebastian seine harmlosen Flirts schnell ausgetrieben.
Es würde nicht leicht werden für Sebastian, sich nachts davonzustehlen, um sich mit ihr im Seeblick zu treffen, das wurde Friederike in dieser Situation klar. Wenn ihr Plan gelingen sollte, musste sie ihm Schützenhilfe leisten. Fritz würde sie ihre nächtliche Abwesenheit schon irgendwie erklären, sollte er überhaupt danach fragen. Schließlich hatte er schon seit einiger Zeit damit aufgehört, sie danach zu fragen, was sie so umtrieb. Besser, er wusste nicht alles.
„Sebastian, darf ich dich zu einem Abendspaziergang rund um den See einladen?“, hörte sich Friederike nach dem Abendessen im Jagdzimmer zu ihrer eigenen Überraschung sagen. „Ich denke, wir haben noch einiges zu klären.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Katharina zusammenzuckte. Fritz warf ihr einen fragenden Blick zu. Friederike ignorierte ihn.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, begleiten wir euch. Ein Verdauungsspaziergang schadet keinem von uns.“ Caroline erntete zustimmendes Gemurmel und Kopfnicken für ihren Vorschlag.
„Und wenn ihr nichts dagegen habt, würden wir uns gerne alleine unterhalten“, konterte Friederike schlagfertig.
Die ratlosen Gesichter störten Friederike nicht, als sie Minuten später mit Sebastian das Haus verließ.
„Was willst du von mir?“ Sebastian entzog seine Hand reflexartig Friederikes Zugriff. „Mir ist jetzt nicht nach Händchenhalten. Also sag schon!“
„Eine Erklärung für all das, was du mir angetan hast. Das bist du mir schuldig.“
„Und dazu dieses heimliche Treffen in der Pension?“ Sebastian wirkte nervös. Der Gedanke daran, mit Friederike alleine in einem Hotelzimmer zu sein, bereitete ihm Unbehagen. „Was willst du wirklich?“, hakte er nach.
„Das wirst du gleich sehen!“ Friederike holte an der Rezeption den Schlüssel für Zimmer Nummer 13 ab und bezahlte die Übernachtung ohne Frühstück mit ihrer Kreditkarte. „Erster Stock, zweite Tür links“, hatte der junge Mann am Empfang höflich erklärt und vielsagend gegrinst.
Kaum hatte Sebastian die Zimmertür hinter sich zugezogen, fiel ihm Friederike um den Hals und küsste ihn.
„Was soll das, Friederike? Ich denke, du willst dich aussprechen.“ Sebastian packte sie an den Handgelenken und schob sie ein Stück von sich weg. Friederike nutzte den sanften Schubser und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen.
„Ich wollte dich sehen, mir dir zusammen sein. Das ist alles.“ Friederike, die im Bett inzwischen nach oben gerobbt war, saß mit dem Rücken angelehnt am gepolsterten Bettoberteil. „Komm her!“ Sie streckte die Hand nach ihm aus.
„Du hast mich hierhergelockt, um mit mir in die Kiste zu springen?“ Sebastian machte keinerlei Anstalten, sich von ihr ins Bett ziehen zu lassen.
„Es ist doch nichts dabei und außerdem tut es niemandem weh.“ Friederike und knöpfte ihre Bluse auf. Langsam. Knopf für Knopf. Dann streifte sie das Kleidungsstück ab und räkelte sich lasziv in ihrem schwarzen Spitzen-BH auf den Kissen.„Was ist, gefalle ich dir nicht mehr?“ Friederike öffnete den Reißverschluss ihrer Jeanshose und zog sie aus. Dabei ließ sie Sebastian nicht eine Sekunde aus den Augen.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht. Es ist nicht wegen mir. Ich will nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst, und außerdem, wenn Katharina es erfährt, dann …“
„Siehst du, genau das ist das Problem: Katharina! Katharina hinten, Katharina vorne. Katharina die Große. Siehst du denn nicht, wie sich dich behandelt? Sie hat einen Schlappschwanz aus dir gemacht. Merkst du das denn nicht?“
Erneut streckte sie ihm die Hand entgegen. „Wenn du mich brauchst, Sebastian, ich bin immer für dich da. Und jetzt komm endlich.“ Ihre Augen funkelten vor Begierde.
Sebastian atmete tief ein. „Ich weiß nicht …“, sagte er, während er wie in Zeitlupe sein Polohemd über den Kopf zog und die Jeans zu Boden glitt. Nur mit Boxershorts bekleidet, setzte er sich zu Friederike ans Bett. „Ich weiß echt nicht, was das bringen soll? Was hast du denn davon, wenn wir jetzt miteinander schlafen?“ Sebastian nahm Friederikes Hand, aber nur um sie beschwichtigend zu streicheln. „Was sagt denn Fritz dazu, wenn du ihn betrügst?“
„Fritz ist mir egal. Für dich würde ich ihn jederzeit verlassen.“ Friederikes Hand wanderte über den Oberschenkel zu Sebastians Unterhose. Der beabsichtige Effekt hatte sich noch nicht eingestellt. „Was ist, begehrst du mich nicht mehr?“ Friederike stöhnte leise und beugte sich über Sebastians Schoß.
Sebastian schob sie unwirsch weg und sprang auf. „Weißt du was, Friederike, ich hab eigentlich gar keine Lust, mit dir zu schlafen. Nicht nur wegen Katharina. Es ist … es ist … ich bin einfach fertig mit dir. Diese heimtückische Tour. Du hast mich in eine Falle gelockt!“ Sebastian schäumte vor Wut.Er sprang auf, zog sich hastig an und ging zur Tür. „Nur damit das klar ist: Morgen nach dem Frühstück reise ich ab. Nicht wegen dir. Dazu bist du mir zu unwichtig. Ich habe Bereitschaftsdienst. Katharina wird noch bis zum Mittagessen bleiben. Ich hoffe, du hast soviel Anstand und behältst diese Geschichte für dich!“
Friederike atmete heftig. „Was soll das jetzt? Lässt du mich schon wieder sitzen?“ Sie hielt die Bettdecke schützend vor ihre Brust, als habe ein Fremder sie nackt im Bett überrascht. „Oh nein! Ein zweites Mal lasse ich mich nicht zum Opfer machen. Nicht von dir und schon gar nicht von Katharina! Außerdem – was glaubst du denn, was denkt Katharina, warum wir so lange fort sind?“ Friederike schnaubte vor Zorn.
„Lass das meine Sorge sein! Kümmere du dich lieber um Fritz. Dem wird es auch nicht gefallen, wenn du nachts alleine mit deinem Ex unterwegs bist. Ich will jedenfalls keinen Stress mit deinem Mann.“
Ehe sich Friederike versah, schickte sich Sebastan an, das Zimmer zu verlassen.
„Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich keine haben!“, brüllte Friederike ihm nach, während die Tür hinter ihm zuschlug. „Scheißkerl!“ Sie ließ ihren Zornestränen freien Lauf.
Fritz hatte laut geschnarcht, als sie gegen 3 Uhr nachts ins Herrenhaus zurückkam. Ein Zeichen, dass er tief und fest schlief. So konnte sich Friederike lange Erklärungen darüber ersparen, was sie denn mit Sebastian Wichtiges zu besprechen hatte. Sie war erleichtert.
Sebastian musste schon am frühen Morgen aufgebrochen sein, denn als Friederike um 8 Uhr aus dem Fenster schaute, war sein SUV weg. Dort, wo der Geländewagen gestanden hatte, war auf dem weißen Kies ein dunkler Fleck zu sehen. Handtellergroß.
Katharina, Caroline und Andreas saßen schon beim Frühstück, als Fritz und Friederike in den holzgetäfelten Salon kamen. Katharinas Smartphone lag griffbereit neben ihrer Kaffeetasse. Immer wieder schaute sie auf das Display. So, als würde sie auf eine Nachricht warten. „Ich weiß nicht, Sebastian ist heute früh fluchtartig abgereist. Es schien mir, als sei er völlig außer sich. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Er müsste längst in der Klinik angekommen sein. In diesem Zustand – man weiß ja nie …“ Sie warf Fritz einen vielsagenden Blick zu.
Er nickte unmerklich. „Natürlich, wenn man so aufgeregt und unkonzentriert ist, kann schnell etwas passieren.“
Friederike stockte der Atem. Was hatte sie nur angerichtet? Sie wollte gerade aufschreien, als die belastende Stille lautstark unterbrochen wurde.
„Is ja ne Stimmung wie im Leichenhaus hier. Is was passiert?“ Linda, die zusammen mit Patrick, den Frühstücksraum betreten hatte, schaute besorgt in die Runde.
„Es ist wegen Sebastian. Er ist heute morgen Hals über Kopf abgereist und jetzt macht sich Katharina Sorgen“, erklärte Caroline die Situation.
Katharina saß schweigend vor ihrem Frühstück, das sie bisher nicht angerührt hatte. Sie wirkte abwesend und sprang wie elektrisiert auf, als ihr Smartphone klingelte. Sie verließ das Zimmer, das Mobiltelefon ans Ohr gepresst.
Alle Blicke waren auf Katharina gerichtet, als sie wenige Minuten später in den Frühstücksraum zurückkehrte. „Es ist etwas geschehen“, schluchzte sie. „Mein Krambambuli … er ist …“ Ihre Stimme brach und es dauerte lange, bevor sie tonlos weitersprach. „Die Polizei sagt, sein Auto ist in einer scharfen Kurve von der Straße abgekommen und in einen Abgrund gestürzt. Möglicherweise haben die Bremsen versagt.“
Lydia Gröbner
Juli 2019