Freiheit schmeckt nach Obstsalat
25. Oktober 2013 – Lokales:
Offenbar wenig Freude an seiner selbst verschafften Freiheit hatte ein Menschenaffe, der in der vergangenen Nacht aus dem Städtischen Zoo ausgebüxt war. Aus unterschiedlichen Zeugenbefragen hat unser Mitarbeiter folgenden Ablauf rekonstruieren können:
Das 43-jährige Orang-Utan-Weibchen Mandy sei am frühen Morgen mit der Straßenbahn in die Innenstadt gefahren. Gegen 8 Uhr stieg sie an der Haltestelle „Alter Markt“ aus und hat sich zunächst interessiert umgesehen. Zu diesem Zeitpunkt haben sich noch nicht viele Menschen auf dem Platz aufgehalten. Allein dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass es nicht zu größeren Schäden gekommen ist – darin waren sich die Zeugen einig. Darunter auch die Frau, die der Affe kurze Zeit später in seine Gewalt brachte. Nach ihren Angaben hat sich Mandy an ihre Beine geklammert und sie zur Herausgabe ihrer Handtasche gezwungen. Anschließend habe das Tier den Inhalt auf der Straße verstreut. Dabei seien auch ihr Handy und Teile ihrer „sündhaft teuren Kosmetikartikel“ zu Bruch gegangen. „Ich hab erst gedacht, das Viech will sich schminken, so wie es mit dem Lippenstift herumgemacht hat – herausgedreht und wieder reingedreht und wieder rausgedreht“, so die Frau verärgert.
Zuvor jedoch wickelte Mandy den Gemüsemarkt ordentlich ab, warf mit Kisten um sich und klaute eine Biobanane. Danach habe sie sich in aller Ruhe hingesetzt und das Obst verspeist.
Zu Mandys Opfern gehört nach unseren Informationen auch eine Kundin, die sich in der benachbarten Bäckerei ihr Frühstück gekauft hatte. „Sie hat ihr die Tüte mit dem Butterhörnchen und dem Wurstbrötchen regelrecht aus der Hand gerissen. Die Frau hatte großes Glück, dass nicht mehr passiert ist. Ich bin immer noch total schockiert“, berichtet die Bäckereifachverkäuferin, die das Geschehen durch das Schaufenster beobachtet hatte.
Für einen 30-jährigen Banker ist das Zusammentreffen mit Mandy weniger glimpflich ausgegangen. Nach Angaben des Mannes hat ihm der Orang-Utan regelrecht aufgelauert. „Ich bin nichts Böses ahnend über den Platz gelaufen, als mich das Monster hinterrücks angesprungen und festgehalten hat. Dann greift sich das Untier mein Smartphone und haut damit ab. Ich hatte Todesangst und hab mich nicht gewehrt. So ein Affe ist ja unberechenbar. Schließlich habe er sogar gesehen, dass der Affe auf dem Display herumgefuchtelt und sich das Telefon ans Ohr gehalten habe. Ich hatte den Eindruck, der wollte telefonieren“, so der Mann, dem der Schrecken noch tief in den Knochen steckte. Später habe der Orang-Utan das Handy kopfschüttelnd auf den Boden geworfen und sei darauf herumgetrampelt. „Ich hoffe, der Zoo ist gut versichert. Ich werde auf jeden Fall meinen Anwalt einschalten und auf Schadensersatz und Schmerzensgeld klagen“, kündigte der Banker an.
Nach den vorliegenden Informationen hat Mandy einen anderen Passanten am Handgelenk gepackt. „Der hat bei mir auf die Uhr gesehen“, ist der Mann überzeugt. „Danach hat er sich da drüben an den Brunnen gesetzt und uns – also die Menschen hier – beobachtet.“ Ein junges Mädchen ergänzt: „Er sah total gelangweilt aus – jetzt erinnere ich mich – er hat sogar gegähnt!“
Ob der Affe vorhatte, freiwillig in den Zoo zurückzukehren, ist nicht bekannt. Er hat sich aber widerstandslos von zwei Polizisten festnehmen lassen und befindet sich nun wieder in Gewahrsam des Tiergartens. Die Beamten versicherten, es sei bei der Rückführung zu keinerlei Gewaltanwendung gekommen. Auf Handschellen habe man bewusst verzichtet, um das Tier nicht unnötig zu beunruhigen.
Frauke Hundskötter, Vorsitzende der Tierschutzorganisation „Rettet die Affenmenschen“; fand klare Worte: „Orang-Utans im Zoo – das geht gar nicht. Wir fordern die Absetzung des Zoodirektors und einen Untersuchungsausschuss.“
Der Leiter des Tiergartens, Dr. Knut Bäreneis, versprach in einer ersten Stellungnahme: „Wir werden den Vorfall rückhaltlos aufklären. Sollte es tatsächlich Sicherheitslücken geben, werden wir sie umgehend schließen. Die Bevölkerung war zu keiner Zeit in Gefahr.“ Bäreneis kann sich nicht vorstellen, dass einer seiner Mitarbeiter die Tür zum Affenhaus offen gelassen hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen im Tierpark seien auf dem neuesten Stand.
Derzeit gibt es keine konkreten Erklärungen für die Vorgänge. Sollte die Untersuchung ergeben, dass menschliches Versagen im Spiel sei, werde der Zoo für den entstandenen Schaden aufkommen. Die Angaben des Zoodirektors sind allerdings nicht ganz glaubhaft. Aus gut informierten Kreisen erfuhr die Redaktion, dass das Affenhaus bereits in der Vergangenheit Schauplatz von Merkwürdigkeiten gewesen ist. So wurde der Kühlschrank in der Küche des Affengeheges wiederholt nachts geplündert. Ein bis heute Unbekannter habe sich insbesondere am Obstsalat vergriffen. Die leere Schüssel und ein benutzter Löffel habe der Dieb dann in die Spülmaschine gestellt und „sich aus dem Staub gemacht.“ Von den Affen könne es keiner gewesen sein. „Die haben ja keinen Schlüssel“, so der anonyme Informant, der nach eigenen Angaben die Abläufe im Tierpark gut kennt. „Ich hab zuerst gedacht, dass ein neuer Kollege dahintersteckt, aber nach dessen Kündigung ging es weiter. Ich kann mir das alles überhaupt nicht erklären.“ Ebenso wenig kann er sich den Ausflug von Mandy erklären: „Mandy ist eigentlich ein friedliches Mädchen und hat noch nie jemandem etwas getan. Ich bin echt erschrocken, als ich gehört habe, was passiert ist. Das hätte ich ihr nicht zugetraut.“
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Für Mandy war der Tag heute gelaufen. Gemächlich hangelte sie sich an ihrem Kletterbaum hinauf und kuschelte sich zufrieden in ihr Nest aus Jute und Blättern. Den anderen erzählte sie nichts von ihrem Abenteuer in der Freiheit.
Hatte sich der Ausflug in die Welt der Menschen gelohnt?
Nein! Mandys Fazit fiel eindeutig aus: Wenn Freiheit bedeutet, so zu leben wie diese Menschen, dann konnte sie gut darauf verzichten. „Die kleine Freiheit Obstsalat schmeckt besser“, brummte Mandy so leise, dass es die anderen nicht verstehen konnten und schob sich die Büroklammer unter die Zunge. Ihr selbst gebastelter Dietrich würde ihr heute Nacht wieder gute Dienste leisten
Lydia Gröbner
Frammersbach im Dez. 2013
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