Prinzessin der Finsternis
„Wir treffen uns kurz vor Mitternacht an der Röhre“, hatte sie in Facebook gepostet und alle außer Nora hatten zugesagt. Nora, ihre Freundin, mit der sie sich eine kleine Wohnung am Ortsrand teilte, hatte sie gewarnt: „Tu’s nicht. Überlass das Fehlermachen ausnahmsweise mal anderen“, hatte sie gesagt und versucht, sie umzustimmen. Ihre beste Freundin würde sie also nicht begleiten auf ihrem letzten Weg.
Valerie war enttäuscht. Die zweite schwere Enttäuschung in dieser Woche. Es ging ihr schlecht – sehr schlecht sogar. Erst hatte Tim völlig überraschend Schluss mit ihr gemacht – mit einer fadenscheinigen Ausrede. Und jetzt ließ auch noch Nora sie im Stich. Wie konnte sie ihr das antun? Gerade heute, wo sie ihren Beistand so dringend gebraucht hätte.
Hätte ich um ihn kämpfen sollen? Aber wozu? Es wäre sinnlos gewesen. Liebe kann man nicht erzwingen. Damit würde sie sich wohl abfinden müssen. Valeries erst junges Leben war bisher ein einziger Kampf gewesen, und jetzt, mit ihren 20 Jahren, war sie erschöpft – sie wollte einfach nicht mehr. Ohne Tim fühlte sich das Leben leer an.
„Perfekt!“ Valerie drehte sich zufrieden vor dem Spiegel hin und her. Ein besonderer Tag verdient eine besondere Kleidung, hatte sie entschieden und ihr langes schwarzes Spitzenkleid mit den satinglänzenden Korsagebändern angezogen, das ihre zierliche Figur besonders gut betonte. An den Handgelenken klimperten zahllose Silberreifen, und ein wuchtiger Ring mit einem Totenkopfmotiv steckte am Mittelfinger ihrer linken Hand. Eine schwarze Samtspange hielt ihr langes rotes Haar im Nacken zusammen. Blutroter Lippenstift und weißer Puder, dunkler Lidschatten und schwarzer Kajal verliehen ihr ein gespenstisches Aussehen. Um ihrem Gothic-Look den letzten Schliff zu verpassen, zog sie sich einen Rosenkranz durch ihr Nasenpearcing und hängte ihn in die Kreole ihres linken Ohrs.
Alles an ihr war makellos. Die vielen Narben an ihren Armen würde heute niemand sehen. Die langen Glockenärmeln ihres Kleides verdeckten sie nahezu vollständig. Als sie Tim kennengelernt hatte, konnte sie mit dem Ritzen aufhören. Davor war ihr die Rasierklinge in den düsteren Stunden ihres jungen Lebens oft ein willkommener Helfer gewesen. Wenn das Blut lief, ging der Schmerz und wich der Erleichterung – wenigstens für eine kurze Zeit. Jetzt war Tim weg und der Druck wieder da, aber es gelang ihr, ihn wegzuschieben – vielleicht für immer.
„Wenn mich Tim so sehen könnte“, wünschte sie sich und betrachtete ihr Spiegelbild, „ich würde ihm bestimmt gefallen.“ So wie sie ihm damals gefallen hatte, vor über einem Jahr, als Nora sie zum ersten Mal zu den Meetings der Gothics mitgenommen hatte. Das mit Tim und mir ist etwas Besonderes, war sie überzeugt. Mehr als nur Liebe auf den ersten Blick.
„Du bist meine schöne Prinzessin der Finsternis“, hatte er zur ihr gesagt, und sie damit unendlich glücklich gemacht. Er versteht mich und er ist für mich da und er fängt mich auf, wenn ich mich fallen lasse. Das war Tim. Er hörte zu, wenn sie jemanden zum Reden brauchte und tröstete sie, wenn sie von ihrer Kindheit und ihrem überstrengen Vater erzählte und den grausamen Wochen in der Psychiatrie. Dort hatte sie Nora kennengelernt, die wie sie wegen Depressionen behandelt wurde.
Wieso konnte nicht alles so bleiben, wie es war? Valerie verstand die Welt nicht mehr. „Es ist ungerecht, einfach nur verdammt ungerecht!“, schluchzte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie versuchte sich abzulenken, die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, aber es gelang ihr nicht. Die grausame Wirklichkeit holte sie gnadenlos in ihr erbärmliches Leben zurück.
Sie zermarterte sich das Gehirn, suchte nach einem Grund, einem Ausweg. Es war nicht zu ändern.Tim hatte sie abgesägt. Wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Warum? Was hatte sie falsch gemacht? Valerie schüttelte den Kopf. Sie war fassungslos. Warum passiert das alles ausgerechnet immer mir?
Warum hatte Nora nicht gespürt, dass sie sie brauchte?“ Das Verhalten ihrer besten Freundin kam ihr schäbig vor. Vielleicht hatte es etwas mit Tim zu tun? Nora und Tim? Nein, das kann nicht sein. Das würde sie ihr niemals antun. Valerie verwarf diese gemeine Unterstellung. Vermutlich würde sie den wahren Grund für Noras und Tims Verhalten nie erfahren.
Es war stockdunkel, als sie am Bahnhof ankam. Nur die Lichter ihres klapprigen Fiestas leuchteten für einen kurzen Moment den geschotterten Parkplatz neben dem heruntergekommenen Bahngebäude aus. Sie war allein. Von den anderen keine Spur. Sie beschloss, in der Nähe des Tunneleingangs auf sie zu warten und huschte im fahlen Licht einer uralten Laterne an den Schienen entlang, hin zum vereinbarten Treffpunkt.
„Wir sollten endlich aufbrechen“, trieb Thore zur Eile an. Er war zusammen mit Ina, Uli, Sven und Erik einige Minuten später am Tunneleingang angekommen. Wie in der Gothic-Szene üblich, trugen alle schwarze Kleidung. Die Jungs hatten knöchellange Ledermäntel und Schnürstiefel angezogen. Uli hatte sich zusätzlich einen grünen Iro gestylt. Ina hielt eine langstielige weiße Lilie in der Hand – die Blume des Todes.
„Du schaffst das schon“, sprach sie ihrer Freundin Mut zu und drückte sie zur Begrüßung kurz an sich. Auch die Jungs hatten sich offenbar gut vorbereitet. Erik hatte eine kleine Handtrommel und Sven, wie verabredet, ein großes hölzernes Petruskreuz mitgebracht.
„Wir müssen vorsichtig sein, im Bahnhäuschen brennt Licht. Wenn uns der Eisenbahner erwischt, können wir das Ganze vergessen. Am besten wir gehen erst ein paar Meter in den Tunnel hinein, bevor wir die Fackeln anbrennen“, bestimmte Thore, der sich in der Rolle des Anführers gefiel und für die anderen ein großes Vorbild war.
„Sven, du gehst mit dem Kreuz als Erster, dann Valerie und ich und danach die anderen.“ Unter dem dumpfen Schlagen des Tamburins marschierten sechs seltsame Gestalten durch das kalte, mit Algen überzogene Sandsteingewölbe. Der Feuerschein der Fackeln warf gespenstische Schatten an die nassglitzernde Tunnelwand. Der Gleisschotter knirschte unter dem Tritt der Stiefel. Thore murmelte mantraähnliche Gesänge vor sich hin, deren Wortlaut niemand erkannte.
Der Weg durch den Eisenbahntunnel war die einzige Möglichkeit, um zu ihrem geheimen Versammlungsort auf der anderen Seite des Berges zu kommen. Der alte Buchenhain mit einem riesigen Sandsteinfindling in der Mitte war ein idealer Ort, um bei Vollmond schwarze Messen zu feiern. Thore hatte bei dem schaurigen Ritual schon wiederholt gezeigt, wie gut er mit dem Messer umgehen kann und sogar dafür gesorgt, dass Blut geflossen war – Hühnerblut zwar nur, aber er hatte damit bewiesen, dass er vor nichts zurückschreckte.
Heute Nacht würden sie den steilen Pfad zu ihrem Ritualplatz nicht hinaufsteigen müssen, sondern sich direkt am Tunnelausgang treffen.
„Ich komm mir vor, wie bei einem Leichenzug“, frotzelte Ina und versuchte ihre Angst zu überspielen. Niemand antwortete ihr. Sie mussten sich beeilen, denn sie hatten noch einige hundert Meter in diesem finsteren Loch vor sich.
„Weg hier!“, brüllte Sven. Die drei Scheinwerfer einer Lokomotive waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und kamen mit rasender Geschwindigkeit näher. Ein greller Pfiff hallte durch den Tunnel, als der Zug in die enge Röhre einfuhr.
Valerie stand da wie gelähmt. „Da rein!“ Thore packte sie am Ärmel und stieß sie vor sich her in eine der schwach ausgeleuchteten Fluchtnischen. Uli, Ina, Erik und Sven gelang es in letzter Sekunde vom Gleis zu springen und sich an die Tunnelwand zu drücken. Die Fackeln züngelten heftig und drohten zu erlöschen, als die Waggons eines endlos langen Güterzugs an ihnen vorbeiratterten.
„Shit. Das war knapp“, atmete Erik erleichtert durch, als er sich von seinem Schrecken erholt hatte. Wie die anderen war er froh, dass ihn der Sog des Zuges nicht mitgerissen hatte.
„Los, wir müssen weiter!“, drängte Thore. „Nicht, dass wir noch zu spät kommen.“
Valerie stand noch immer unter Schock. Wie in Trance taumelte sie über die Schwellen. Mit jedem Meter, den sie dem Ausgang näher kam, wurde ihr mulmiger zumute. Würde sie es schaffen? Und wenn ja, war es richtig was sie tat? Nora hatte sie gewarnt.
Aber was war das für ein Leben, das sie noch vor sich hätte? Tim liebte sie nicht mehr. Nora hatte sie im Stich gelassen und ihre Eltern wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Wie im Zeitraffer glitten die letzten Jahre ihres Lebens an ihr vorbei. Der autoritäre Vater, dem sie nichts recht machen konnte. Die schwache Mutter, die immer nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt war, ihre verkorkste Schullaufbahn und schließlich der Suizidversuch und am Ende die Psychiatrie.
"Du bist eine Versagerin", hatte sie immer wieder zu hören bekommen und inzwischen glaubte sie es selbst. Ihre Eltern machten ihr Vorwürfe, weil sie ihnen immer nur Sorgen bereitet hatte und nicht nur das, sie schämten sich für sie.
„Das Schicksal hat es wohl bisher nicht gut mit dir gemeint“, hatte irgendwann jemand zu ihr gesagt. Das stimmte. Ihre Jugendzeit war nicht unbeschwert wie die der anderen Mädchen in ihrem Alter. Im Gegenteil – ihre Welt war finster, ihre Gedanken schwer. Unerträglich schwer. Sie wurde erlöst von ihrem langen Leiden, fielen ihr die Worte ein, die sie schon oft in Todesanzeigen in der Zeitung gelesen hatte. Erlösung – das war es, was sie suchte.
Immerhin war sie nicht allein auf ihrem letzten Gang. Ihre Freunde waren bei ihr – alle, bis auf Nora und Tim. Sie war unendlich traurig. Aber da war noch ein anderes Gefühl: Wut. Eine Wut, die sie antrieb. Sie sollen büßen und leiden wie sie – ein Leben lang, schwor Valerie Rache. Und dann waren da ja auch noch ihre Eltern. Sie würden sich ewig Vorwürfe machen, wenn sie vom Tod ihrer Tochter erfahren würden. Aber es wäre zu spät, nicht mehr rückgängig zu machen und sie müssten mit ihrer Schuld leben. Der Gedanke daran verschaffte ihr Genugtuung. Ein selbstzufriedenes Lächeln streifte ihre Lippen. Die Wut tat gut. Sie würde ihr die Kraft geben, ihren Plan zu vollenden.
"Der ICE kommt gleich. Ihr wartet draußen“, wies Thore die anderen an, als sie am Ende des Tunnels angekommen waren. Er blieb mit Valerie kurz vor dem Ausgang stehen. Die enge Röhre würde verhindern, dass sie im letzten Moment noch ausweichen konnte.
„Noch drei Minuten, wenn er pünktlich ist“, stellte Thore mit Blick auf sein Handy fest und umklammerte Valeries Handgelenk. Jetzt würde sie ihm nicht mehr davonlaufen.
Noch drei Minuten! Drei Minuten, die für Valerie zur Ewigkeit wurden.IhrHerz klopfte wie wild. Sie schwitzte, obwohl es kalt war. Andererseits – drei Minuten waren lang. Lang genug, um sich zu entscheiden – für oder gegen den Tod.
„Ich … ich weiß nicht...“, brach es aus ihr heraus. „Ich glaub, ich schaff’ das nicht.“ Die Tränen schossen ihr in die Augen, ihre Knie wurden weich. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten und zitterte am ganzen Körper. Sie hatte Todesangst.
Thore, der ihre Verzweiflung bemerkt hatte, versuchte sie zu beruhigen. „Ich bin bei dir und stehe dir bei. Wenn du willst, schubse ich dich ein bisschen."
Valerie starrte ihn ungläubig an: „Das würdest du wirklich tun?
„Ja, natürlich, ich bin doch dein Freund, und wenn ich dir helfen kann...“
Valerie stutzte. Irgendetwas stimmte hier nicht: Wie er das gesagt hat? „Ich bin doch dein Freund!“ Ein Freund, der mich in den Tod schubst? Was ist das denn für ein Freund? Nein, er ist nicht mein Freund. Ein Freund würde mich retten wollen, nicht wollen, dass ich sterbe. Thore will ein Opfer. Ein Opfer für Satan.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Donnerschlag. Er hatte sie in eine Falle gelockt. Eine Falle, aus der es kein Entrinnen mehr für sie gab. Oder doch? Noch war der Zug nicht da.
Gut, er soll sein Opfer bekommen, aber ich werde auf keinen Fall alleine gehen. Thore wird mich begleiten auf meinem allerletzten Weg. Dafür werde ich sorgen, fasste Valerie einen teuflischen Plan, obwohl sie nicht gläubig war, betete sie leise: "Lieber Gott, hilf mir. Mach, dass es schnell geht.“ Auch wenn es möglicherweise nichts nutzte, es konnte auch nicht schaden und was sollte sie in diesen letzten Minuten ihres Lebens anderes tun als beten?
„Noch eine Minute, wenn er pünktlich ist." Thore hatte auf diesen Tag schon lange gewartet. Heute würde er Luzifer, dem Herrn und Meister der Finsternis, nicht nur Hühnerblut opfern, heute würde es Menschenblut sein – das Blut einer schönen Prinzessin.
„Meinst du … es wird weh tun?“, stammelte Valerie und starrte verstört die Dunkelheit. Gleich würden die Lichter auftauchen und dann würde es schnell gehen. Dann würde sie keine Zeit mehr haben, darüber nachzudenken, ob sie springen soll, Thore sie schubsen würde, und ob sie es schaffen würde, ihn mitzureißen. Doch noch war es nicht zu spät. Noch brauste der Zug nicht in den Tunnel.
Wahnsinn – was für ein Wahnsinn. Was mach ich hier überhaupt? Weg! Nichts wie weg hier! Drei Minuten Warten auf den Zug hatten ausgereicht, um sie zur Besinnung zu bringen.
„Du wirst doch jetzt nicht kneifen? Denk dran, wie schlecht es dir ging. Soll das so weitergehen?“, redete Thore auf sie ein, so als hätte er ihre Gedanken lesen können. Er musste verhindern, dass sie in letzter Sekunde einen Rückzieher machte – so kurz vorm Ziel. "Meinst du, das wird von allein besser? Wir sind alle mitgekommen, um dir beizustehen. War das alles nur Show oder was?"
Er hatte Recht. Es war ihr freier Wille und ihr Wunsch gewesen, ihrem verkorksten Leben ein Ende zu bereiten. Niemand hatte sie gezwungen. Vermutlich würde sie es bereuen, wenn sie jetzt versagte. Sie würde sich schrecklich blamieren und niemand würde sie mehr ernst nehmen. Sie würde auch noch ihre letzten Freunde verlieren. Der Tod ist besser als der Schmerz, redete sie sich ein.
„Bitte, nimm mich noch einmal in die Arme“, flehte sie. „Noch ein letztes Mal.“ Verzweifelt umschlang sie Thores schlanken Körper und presste ihren Kopf an seine Brust. Er hielt sie fest.
Jeden Moment würden die Lichter des Schnellzugs im Tunnel auftauchen und dann musste es sehr schnell gehen. Valeries Mund war trocken, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Das surrende Rauschen des Zugs – in Gedanken hörte sie es schon. Die Spannung war unerträglich. Bleib ruhig. Gleich ist es vorbei. Sie war bereit – nur ein kleiner Sprung.
Thore würde sie nicht schubsen müssen. Ganz im Gegenteil – sie würde ihn mitreißen. Sie klammerte sich an ihn, schloss die Augen und wartete ...
Doch nichts tat sich. Keine Lichter, kein Rauschen – nichts. Nur stockfinstere Nacht und unheimliche Stille.
Wieso kam der verdammte Zug nicht? Hatte er Verspätung?
Thore war irritiert. „Schaut doch mal nach, was los ist!“
Uli suchte auf seinem Smartphone die Seite der Bahn. „Es ist keine Verspätung gemeldet. Der Zug ist pünktlich abgefahren.“
„Ok. Wir warten“, entschied Thore.
Valerie starrte ihn fassungslos an. „Wie lange denn. Was meinst du?“
„Er wird schon kommen“, versuchte er sie zu beruhigen und dachte: Sogar der Tod hat Verspätung, wenn er mit der Bahn reist. Thore war stinksauer.
Aber der Zug hatte keine Verspätung. Er kam überhaupt nicht. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Valerie war verwirrt. Was ist los? Wieso kommt der Zug nicht?Das Schicksal hat mir mal wieder einen Streich gespielt. Sogar der Tod möchte nichts mit mir zu tun haben. Sie war entsetzt und erleichtert zugleich. Sie spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Sie wusste nicht warum, aber sie war froh und sie hatte wieder Hoffnung. Vielleicht hat es das Schicksal zum ersten Mal gut mit mir gemeint?
Aber vielleicht gab es eine ganz einfache Erklärung. Möglicherweise hatte der Lokführer des Güterzugs eine Warnmeldung abgesetzt. Sicher hatte er die Fackeln gesehen.
Oder? – Jetzt fiel es ihr wieder ein: Was hatte Nora gesagt? „Überlass das Fehlermachen ausnahmsweise mal anderen!“ Was hatte sie damit gemeint? Hatte sie ihre Hände im Spiel? Aber wie sollte sie das denn angestellt haben? Hatte sie die Bahn verständigt? Ja. So könnte es gewesen sein. Nora war ihr in letzter Zeit komisch vorgekommen, seltsam distanziert, bedrückt. Sie hatte immer irgendwelche Ausreden parat, wenn sie etwas mit ihr unternehmen wollte. Und dann die Sache mit Tim. Wieso hatte er die Beziehung Hals über Kopf beendet. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass die beiden sie hintergangen hatten.
„Verräter“, brüllte sie und stieß Thore von sich weg.
„Nix wie weg hier!“, schrie er. Ihm war die Geschichte offenbar zu heiß geworden. Luzifer würde sein Opfer heute Nacht nicht mehr bekommen. Oder doch?
Wie vom Teufel gejagt rannten die jungen Leute durch das alte Sandsteingewölbe zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Alle wollten so schnell wie möglich den Ort des Grauens verlassen. Verstört und verwirrt stolperte Valerie hinter ihnen her.
Eigentlich hatte sie gedacht, nie mehr in ihre Wohnung zurückzukommen. Alles war für den Abschied vorbereitet gewesen. Sie nahm den Brief von ihrem Nachtschränkchen und zerriss ihn. Nora hatte ihn offenbar noch nicht gefunden. Ihre Freundin war nicht zu Hause.
Ich werde schlafen gehen, beschloss Valerie, erschöpft. Doch sie schlief unruhig und sie träumte schlecht – von zerfetzten, blutigen Leichenteilen einer jungen Frau auf Bahngleisen und vom Herrn der Finsternis, der noch immer sein Opfer suchte.
Als Valerie am späten Vormittag aufwachte, war sie wie gerädert. Doch sie versuchte, die furchtbaren Gedanken an die Ereignisse der vergangen Nacht abzuschütteln. Gestern war Horror. Heute ist ein neuer Tag, dachte sie, erleichtert, dass sie noch am Leben war und der Spuk jetzt ein Ende hatte. Aber wieso war Nora nicht nach Hause gekommen? Es gab nur eine Erklärung: Sie ist bei Tim.
Valerie beschloss, sich einen Kaffee zu machen und schaltete das Radio ein – Regionalnachrichten: „Wegen eines tragischen Unfalls war der gesamte Zugverkehr heute Nacht für mehrere Stunden lahmgelegt. Eine bisher unbekannte Frau hat sich vor den ICE von München nach Dortmund geworfen. Sie ist etwa 17 bis 20 Jahre alt und etwa einen Meter siebzig groß. Sie hatte kurze blonde Haare mit pinkfarbenen Strähnen. Ihre Kleidung bestand aus einem schwarzen Pullover mit Totenkopfmotiv, einem Lacklederrock und Netzstrümpfen. In der Nähe des Unfallorts wurde ein junger Mann gesehen. Er könnte ein wichtiger Zeuge sein. Er wird dringend gebeten, sich zu melden. Sachdienliche Hinweise an die Polizeidienststelle in...“
„O Gott – Nora! Diesmal hab ich dir das Fehlermachen überlassen", wimmerte sie. Warum nur? Alles kam ihr so unwirklich vor. Wie von einer fremden Hand geführt, ging sie ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Ihre Hände zitterten, als sie die Rasierklinge nahm und zustieß.
Dunkelrotes Blut tropfte von ihren Handgelenken und verschwand in kleinen Rinnsalen im Abflusssieb des weißen Waschbeckens.
Lydia Gröbner
Frammersbach, Januar 2014
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