Vor seinen Augen erhob sich eine braun-grüne Insel aus dem ultramarinen Meer. Ganz Neuseeland schien ihm zum Greifen nah. Wenn dazwischen nicht diese luftleere, eiskalte Schwärze gewesen wäre, die seinen Raumanzug streifte. Obwohl er festgezurrt auf einem Roboterarm saß, ertappte er sich dabei, wie er darüber nachdachte, wie es wäre, wenn er seinen Halt verlöre. Wie lange würde er noch lebend im All schweben und die Erde von oben sehen? Gequält von der furchtbaren Angst, dass dies bald ein Ende habe. Dann würde sein toter Körper zusammen mit dem Weltraumschrott um die Erde kreisen. Nie wieder hörte er das Rascheln des Laubes im Wald. Nie wieder könnte er seine Freunde treffen. Nie wieder seine Frau küssen und mit seinen beiden Kindern spielen. Dabei vermisste er sie schon jetzt. Einige Wochen vergingen, bis er sich an die Raumstation gewöhnt hatte. Nicht dass ihm der Verlust der Schwerkraft noch zu schaffen gemacht hätte. Dieser Zustand war für ihn schon auf der Erde simuliert worden. Vielmehr erinnerten ihn die lärmenden Pumpen der lebenserhaltenden Systeme und die mit Schläuchen, Computern und anderen Apparaten vollgestopften Kabinen immer wieder daran, dass er jetzt im Bauch einer Maschine lebte.

Der Tag war immer gleich getaktet: Arbeiten, essen, trainieren, das Tagwerk besprechen, Bettruhe. Um 6.00 Uhr stand er mit den anderen auf. Löffelte aus Dosen sein Frühstück. Dokumentierte den Zustand der Erde. Sah den Rauch über den brennenden Wäldern und die schmelzenden Eiskappen. Wenn er darüber schwermütig wurde, suchte er Trost bei seinem Kollegen, der Proteinkristalle züchtete. Einige von ihnen hatten die Gestalt eines Schmetterlings, ein weiteres die einer Blüte. Andere ähnelten in ihrer Form und Farbe funkelnden Edelsteinen. Fasziniert und demütig blickte er auf den Mikro- und Makrokosmos. Dabei fühlte er sich wie ein Mönch, der abgeschieden hinter Klostermauern nach höherer Erkenntnis strebt. Auch die Selbstgeißelung blieb ihm nicht erspart. Allerdings absolvierte er das zweistündige Krafttraining nicht zur Buße. Vielmehr sollte es Muskelschwund und Knochenabbau vermindern. Sein Tagwerk endete erst mit einer Konferenz. Er blickte stets in dieselben Gesichter und befasste sich immer wieder mit den gleichen Themen. Selbst wenn seine Crewmitglieder ihre Launen hatten, konnte er nicht vor ihnen fliehen. Ein wenig Ruhe vor den anderen fand er erst um 21.30 Uhr in seiner eigenen Schlafkabine.

So freute es ihn, dass es wenigstens eine Internetverbindung zu seinen Liebsten auf der Erde gab, wenngleich sie ihm nichts Gutes berichteten. Seit geraumer Zeit wütete auf seinen Heimatplaneten eine Seuche. Die Menschen waren nun gezwungen zu Hause zu bleiben. Der eine Freund klagte, er treibe nur noch zuhause Sport, weil die Fitnessstudios geschlossen seien. Der andere jammerte, er kommuniziere mit seinen Bekannten nur noch online, als wohnten sie weit weg und nicht in der gleichen Stadt. Die Kinder des Astronauten vermissten die Spielkameraden und die Ausflüge, seine Gattin den Kinobesuch und das Reisen. Alle konnten nur noch einkaufen und arbeiten. Seine Frau meinte, dies gleiche einer alten Klosterregel. Bete und arbeite!

Die Menschen saßen in ihren meist kleinen Wohnungen fest, sahen immer nur dieselben Gesichter und vernahmen immerzu die gleichen Geschichten. Wenn sie ihre Behausungen verließen, trugen sie Masken. Wenn er nach draußen ging, schützte er sich mit einem Raumanzug. Lebten sie jetzt nicht auch in einer Art Raumstation? Nicht ganz, dachte er, als der Roboterarm in ein Meer aus roten und grünen Lichter eintauchte. Keine irdische Lasershow reichte an das Farbenspiel der Polarlichter heran. Lücken in den fantastischen Wolkengebilden gaben die Sicht auf tiefblaue Ozeane und grüne Waldgebiete frei. Weiter südlich, über den gelben Wüsten, wehte ein gigantischer Sandsturm bis zum Amazonas. Nordamerika, Südamerika, Europa, Afrika, Asien und Australien strahlten im Sonnenlicht. Unbeirrbar drehte sich die Raumstation um das alte Raumschiff Erde und dieses um die Sonne.

Maria Herbert