Wenn ich mich recht erinnere, spielte sich diese Geschichte Mitte der 80er Jahre im letzten Jahrhundert ab. Ich war damals in den Jahren, die man die besten nennt. Hatte wieder mal was zu beweisen und fühlte mich stark genug für einen Neuanfang in jeder Hinsicht. In dieser Zeit hielt ich meine gelegentliche Neigung zu starken alkoholischen Getränken für die eigentliche Ursache meiner ständigen Niederlagen und natürlich wurde ich ermutigt von allen möglichen Spezialisten, die schon allein aus beruflichen Gründen den Satan ausschließlich in der Schnapsflasche lokalisierten. Nach einem halben Jahr Spezialtherapie in einer Spezialeinrichtung trat ich jetzt runderneuert dem Leben entgegen. Da frische Erkenntnisse über das Leben nicht auch zwangsläufig zu neuen Einnahmequellen führen, war ich immer noch ohne festes Einkommen und auf alle möglichen Hilfsquellen angewiesen, um mich notdürftig über Wasser zu halten.
Ich war damals Mitte 30 und eine gescheiterte Existenz mit großen Möglichkeiten. Wozu auch immer. Die Alternative, die mir damals blieb, war die schamvolle Rückkehr unter die Fittiche meiner Familie. Diese Tatsache warf mich derart aus der Bahn, dass ich tatsächlich phasenweise meinen Verstand einbüßte. Diesmal war nur eine ehrliche Bilanz meines Lebens therapeutisch sinnvoll. Alles andere wäre Realitätsverweigerung. Ich hatte also das Messer an der Kehle. Damals geriet ich durch meinen realistischen Überdruck in einen quälenden Spannungszustand und war dann eigentlich nur noch erleichtert, als mich die Polizei in die Psychiatrie brachte.
Der abgebrühte alte Gastwirt in der Bahnhofskneipe hatte natürlich geahnt, dass ich ein Pulverfass war und vorsorglich Hilfe geholt. Ich bin ihm bis heute nicht böse deswegen. Der Aufnahmearzt hatte versprochen, mir bei meinen Angstzuständen zu helfen und ich konnte dann auch entspannt einige Stunden schlafen. Hatte ganz vergessen, dass mein Krankenbett nicht ganz unproblematisch war. So wurde mir dann auch im Morgengrauen ein neuer Zimmerkamerad zugeteilt. Er gab mir zu verstehen, dass er Spanier war und ich döste beruhigt wieder weg. Aber dann fuhr mir der Schreck in die Glieder. Der kleine Spanier kniete vor meinem Bett und betete mich offensichtlich an. Das alarmierte mich dann auch endgültig und ich läutete der Nachtschwester. Jetzt sah ich auch, wie meinem Zimmerkollegen die Augen vor Wahnsinn flackerten und ich flüchtete ins Raucherzimmer. Nun gut. Die Ärztin von der Frühschicht entließ mich mit der Empfehlung, mir einen Psychiater meines Vertrauens zu suchen und meine Problematik ernst zu nehmen.
Zurück in meinem Zimmer fand ich den Spanier in Gesellschaft von Landsleuten, die sich offenbar um ihn kümmerten. Ich schlich mich schnell davon und nahm die beruhigende Erkenntnis mit, dass auch Gott jederzeit auf alles gefasst sein muss.
In der Morgenzeitung stand dann, dass die Mormonen beschlossen hatten, ihre Europa-Zentrale in der Nähe zu bauen und mir war klar, der Spanier hatte mich für Gottes Vorauskommando gehalten.
Januar 2015
Reiner Georg Cwielong