Nennen wir ihn Karl. Vor dem Ersten Weltkrieg war das ein häufiger Name, und so umgehe ich die Klippen des modernen Persönlichkeitsschutzes. Außerdem ist Karl seit wenigstens 45 Jahren verstorben. Ich war damals auf der kleinen Beerdigung und ich nehme an, dass er, außer vielleicht bei älteren Mitgliedern seiner Familie, völlig aus dem Bewusstsein verschwunden ist.
Aber warum denke ich gelegentlich an ihn? Ich will die Gründe nennen: Gleich zu Beginn des Monats August, vor nunmehr etwas mehr als 100 Jahren, begann ein mörderischer Krieg unter den Völkern Europas zu rasen. Seltsamerweise löste das zu Beginn nicht nur Furcht und Entsetzen aus, sondern wurde gelegentlich auch wie das Abfallen einer großen Lähmung empfunden. Über Ursachen und Wirkungen dieses Völkerbrandes gibt es Unmengen Untersuchungen. Sie sind nicht Thema dieser Geschichte, aber für mich ein Grund, zu Karl zurückzukehren.
Karl wurde als junger Soldat in das Heer des Kaisers eingezogen und musste sofort an die Front. Er war Landwirt auf einem recht bescheidenen Hof. Noch unverheiratet – und es war klar, dass er das elterliche Erbe antreten würde.
Der Krieg änderte sein Schicksal schlagartig. Karl kehrte schon nach kurzer Spanne als Veteran zu seiner Familie zurück. Völlig verändert. Sein frisches Jungmännergesicht war durch mehrere Durchschüsse völlig entstellt. Die besten Militärärzte ihrer Zeit waren nur in der Lage gewesen, einen Gesichtsklumpen zu retten, der mit zwei scheuen Augen das Leben in sich aufnahm.
Karl lebte noch viele Jahre. Er zog auf ein Lager im Stall zu seinen Tieren um. Er bestellte mit einem Kuhgespann einige kleine Äckerchen. Seine jüngere Schwester versorgte ihn vom Tisch ihrer eigenen Familie, die das kleine Anwesen übernommen hatte.
Ich wuchs in der näheren Umgebung auf. Bei jedem seiner seltenen Anblicke ahnte ich als Junge das Grauen, das sich Menschen zufügen können. Großmutter fand bei meinen ganzen Fragen nach Karl nur knappe Worte. Für einen tatendurstigen Jungen wie mich war das Ganze dann erledigt. Ich hatte die feste Gewissheit, dass es mich niemals so treffen würde. Aber das war wohl bei vielen Dingen eine der Grundvoraussetzungen, ohne die ich mich nicht ans Leben gewagt hätte.
Sommerberg, Ende August 2015