Dass mir Besonderes bevorstand, war auch an den vielfach guten Wünschen aus meiner Umgebung zu spüren, die eine oder andere Prise Neid inbegriffen. Insbesondere Letztere machte mich darauf aufmerksam, dass ich im Begriff war, mir wahrhaftig etwas zu gönnen – zwölf Tage dort oben an der Ostsee, mitten im März, deutlich vor Ostern: Wer kann das schon?

Allmählich sah ich also diese etwas lästige, jedoch durchaus selbstauferlegte kleine Kur mit anderen Augen und fing an, die Aussicht auf die Unterbrechung des täglichen Einerleis zu genießen, umso mehr, je näher sie rückte. Als es schließlich ans Packen ging, spürte ich ein Frohlocken an mir zupfen und legte fast beschwingt noch den dicken Schmöker dazu: endlich, endlich Zeit, noch dazu am Meer, wo ich mich ohnehin noch jedes Mal in einem wohlig schaudernden Ausnahmezustand wähnte, schon gar um diese Jahreszeit, wo noch die Eis­schwimmer unterwegs sind!

Nach achtstündiger Anreise, ebenso beschaulich wie unkompliziert, bin ich also angekommen am Ende der Welt. Weit und breit nur dieses eine Hotel, drum herum das Grün, Braun und Blaugrau von Weiden, Feldern, Himmel und Meer. Nach einem ersten Gang hinunter zum Strand und einer anschließenden kleinen Hausführung durch die Dame am Empfang räume ich mein Zimmer ein, ergattere mir noch ein Tischchen zum Schreiben und fühle mich gerüstet für eine sicherlich interessante und hoffentlich wohltuende Zeit. Gegen Abend begebe ich mich zur „Abendlichen Teestunde im Wintergarten“, wo mich eine Einweihung in die Geheimnisse der Darmreinigung durch Dr. Johannis erwartet, seines Zeichens Mayr-Arzt, Kneipp-Apologet und weithin gerühmter Osteopath mit stabiler, wenn auch alternder Anhängerschaft.

Wie sich zeigt, ist Dr. Johannis – ein drahtiger, ungemein wacher Mann mit vorbildlich flachem Bauch – der Hahn im Korb, umgeben von einem Häuflein Damen zwischen Mitte dreißig und Mitte achtzig, jede mit ihrem eigenen chronischen Krankheitsbild, das zu bessern sie aufge­brochen ist. Ich mache da keine Ausnahme, bin aber mit meinen nahezu vollendeten sechzig Jahren die Zweitjüngste, fühle mich unwillkürlich zur Jüngsten hingezogen und muss schmunzeln, als ich prompt von einer offensichtlich nur unbedeutend älteren Frau angesprochen werde: „Ja, in Ihrem Alter können Sie ja noch nicht wissen …!“.

Was ich auch nicht so genau wissen kann: wie eine Mayr-Kur abläuft. Wie sich herausstellt, bilde ich mit der Jüngsten die Minderheit. Die anderen sind nach mehrfachen Ostsee-Darmreinigungskuren bereits im Himmel geliebter Gewohnheit angekommen und begrüßen sich teils als alte Bekannte. Der Mayr-Arzt macht dennoch keinen Unterschied, wir werden alle gleich gründlich informiert. Von der Dichte des Tagesplans mit all seinen obligatorischen und fakultativen Terminen, alle nur zu unserem Besten, bin ich dann doch etwas überrascht und muss mich ermahnen: Schließlich bist du nicht zum Vergnügen hier! Nein? Aber …

Am nächsten Morgen, nach vorschriftsgemäßer Einnahme von Bittersalz, Basenpulver, Vitamin C und D sowie einer knappen Stunde gemeinsamen Qigongs am frostigen Strand, setze ich mich – am Abend hat es ja nur Tee gegeben – mit gesundem Hunger zu Tisch. Zu meiner freudigen Überraschung finde ich auf meinem Teller eine dampfende Kartoffel, mit Schale, ergänzt um etwas Quark und ein paar Tropfen frischen Leinöls. Das versöhnt mich sogleich mit allen womöglich noch bevorstehenden Unbilden: Wenn ich mein Leibgericht nun täglich zum Frühstück habe, kann mir nicht mehr viel passieren!

Für die erste Kartoffel brauche ich stolze zehn Minuten. Für die zweite, klitzekleine, fast eine Viertelstunde, denn ich bin angewiesen, den Schwerpunkt meiner Aufmerksamkeit noch stärker auf das Kauen und Einspeicheln zu verlegen. Das Essen ist eigentlich nur Nebenprodukt, man könnte es nach dem Einspeicheln wohl ebenso gut wieder ausspucken. Eine weitere Kartoffel gibt es ohnehin nicht, aber ich bin schon froh, dass uns die berüchtigte Kursemmel erspart bleibt. Nun noch die Flüssigkeitsaufnahme. Die Zuführung erfolgt idealerweise mit dem Teelöffel, an der Menge ist keinesfalls zu sparen … Nach der ausgedehnten Achtsamkeitsübung kann ich allerhand über meine Tischgenossinnen erfahren, darunter den Umstand, dass Frau Henrich seit – „sage und schreibe!“, wie sie betont – siebenunddreißig Jahren kein Gramm Weißmehl mehr im Haus hat und dies – „man stelle sich das vor!“ – mit einem Rudel Kinder im Haus. Sie hat es mit der Leber.

Anschließend gehen wir zum sogenannten Kochkurs über. Mit unergründlichem Lächeln hat uns die Köchin einen großen Wagen in den Essraum gefahren, auf dem sich in jeweils großen Mengen verschiedene Wurzelgemüse befinden, ergänzt um Schüsseln, Schneidbretter, Messer und Schürzen. Diese binden sich einige Erfahrene sogleich um und legen los. Der Arzt schleift Messer, reicht mir eins und erklärt den Zweck der Übung. Wie mir scheint, besteht das Lernziel in der Anerkenntnis der kostbaren Inhaltsstoffe der Randschichten einer Roten Beete oder einer Sellerieknolle, weshalb diese Gemüse, da aus biologischer Landwirtschaft, nicht zu schälen seien. Wir schneiden also die trotz Waschens reichlich erdig und sandig gebliebene Vollwertigkeit, derweil vielsagende Hausfrauenblicke die Runde machen und ich mich in Acht nehmen muss, nicht loszuprusten: Wer unter uns hat nicht schon tausendfach Wurzelgemüse klein geschnitten – und wie war das noch mit der Abwechslung vom täglichen Einerlei? „Warten Sie nur“, sagt plötzlich die etwas mürrisch wirkende Dame aus Lübeck in fast verheißungsvollem Ton, „dies hier ist nur die Pflicht, die Kür aber werden Sie genießen, versprochen!“ Manche Leute lesen Gedanken – erstaunlich, wer.

Die Kür: Bauchbehandlung. Eine nach der anderen werden wir ins Behandlungszimmer bestellt. Dort beginnt das Ritual, das zu mögen manche Dame, wie sich in den nächsten Tagen zeigt, etwas verschämter eingesteht als die offenbar gar nicht so mürrische Lübeckerin. Zunge zeigen, über den ärztlichen Kommentar staunen, Fragen zum Stuhlgang getreulich beantworten, freimachen – und ab auf die Pritsche! Dies ist nun der Moment: wenn die großen, muskulösen Hände des kleinen Mannes überraschend angenehm tastend über den Bauch streichen, bis er sich ein Bild vom Inneren gemacht hat, um dann allmählich in eine Massage überzugehen, vorsichtig zunächst, dann merklich kräftiger und tiefer, die Gedärme rhythmisch walkend. Dies geschieht mit solcher Hingabe, dass Dr. Johannis mit den Schwingungen des Darmes seiner Patientin zu verschmelzen scheint. Ein Tanz. Das wird zum Nervenkitzel, denn auf dem Höhe­punkt bricht der Boléro unvermittelt ab und endet etwas profan im Ödemtest, einem strahlen­förmigen Ankratzen der Bauchhaut – Zeit zum Aufstehen. Bis morgen.

Mit etwas Glück bleibt nun Gelegenheit zu einem Blick in die Zeitung oder einem kleinen Spaziergang. Um halb zwölf sitzen wir wieder bei Tisch, mit den Teelöffeln mal aus der Teetasse, mal von der ungewürzten Gemüsebrühe schlürfend, die aus dem morgendlichen Schnippeln entstanden ist und mit zunehmend geschärftem Geschmacksinn von Tag zu Tag besser mundet. Nach einer stoischen dreiviertel Stunde sind wir um rund ein Kilo schwerer – und pappsatt. Nun heißt es: Kurmappen und Stifte raus, zur Mayr-Schulung! Täglich nach der Basensuppe vermittelt Dr. Johannis uns eine Portion Basiswissen über Aufbau, Funktion und Arbeitsweise des Darms, den Stellenwert für Gesundheit und Wohlbefinden und was Ernährung und Esskultur dazu beitragen, ihn intakt zu halten oder uns gar wieder genesen zu lassen. Die Information kommt während einer Darmreinigungskur passend, möchte man meinen, und sie wird auch recht anschaulich präsentiert. Dennoch müssen wir uns über schwere Glieder und träge Augendeckel wundern, es fühlt sich an, als hätten wir nicht eben klare Brühe mit Teelöffeln, sondern einen allzu üppigen Sonntagsbraten mit extragroßem Besteck zu uns genommen.

So sind wir heilfroh, als die Zeit für den mittäglichen Kneippguss gekommen ist: geschwind aufs Zimmer, umziehen, in die Sauna eilen, ausziehen, im Gänsemarsch vor dem Duschraum an­treten, gackern, als die Vorgängerin vor Kälte unwillkürlich aufschreit – Wasser kann weh tun! –, und hin- und hergerissen sein zwischen tief Durchatmen und Erschaudern, als der Wasserstrahl seinen Weg unerbittlich über den eigenen Körper nimmt (nein, ich will nicht heroischer klingen, als ich bin: Bei mir darf der zugegebenermaßen fast zärtlich verabreichte Guss allenfalls bis zur Hüfte reichen!).

Nun gleich wieder warm anziehen, ohne Umweg zurück aufs Zimmer, dort mit großem Handtuch das Bett für den Leberwickel vorbereiten, schnell reinschlüpfen und auf den Arzt warten. Der rennt hörbar von Zimmer zur Zimmer durch die Flure und kommt, mal früher, mal später, auch bei mir an, mit einem dampfenden Heusack, den er auf meinem Oberbauch drapiert, woraufhin er mich in Tuch und Decken wickelt, fest wie eine Mumie. Er öffnet noch schnell das Fenster und zieht die Vorhänge zu, bevor er wieder hinauseilt und die Nächste beglückt.

Als der Wecker zum Mittagessen ruft – es ist fast halb drei –, komme ich aus einer anderen Welt emporgetaucht, frei und leicht, losgelöst von Herkunft und Zukunft. Auch manch andere Dame am Tisch wirkt noch ein wenig selig jenseitig. Entsprechend still und gemächlich nehmen wir denn auch unsere Mahlzeit zunächst ein, bestehend aus dem ausgekochten Schnippel­gemüse vom Vormittag, nach Wunsch mit Leinöl, Joghurt oder Quark, notfalls sind ein paar Körnchen Salz genehmigt. Die kauende Andacht währt auch hier ein Stündchen, vorausgesetzt, die Plappermäuler unter uns halten noch für ein Weilchen still, andernfalls vergisst man das Kauen, schluckt zu früh und ist verräterisch schnell fertig. Die Mitteilsamen, inzwischen ganz diesseitig, ficht das nicht an, vor hilflosen Ohren breiten sich ganze Familienuniversen aus, und wenn da eine nur Söhne hat, dann geben die Schwiegertöchter den Prellbock ab, man gönnt sich ja sonst nichts. Auch bieten natürlich die Leiden der Kurgenossinnen reichlich Gelegenheit, mitfühlend die eigene Erfahrung an die Frau zu bringen, wobei verallgemeinernde Ver­schwörungstheorien über Ärzte, Kliniken, Krankenkassen, Heilpraktiker und Apotheken ebenso schwer zu umschiffen sind wie medizinisches und anderes Halbwissen von Wiki, Google & Co..

Danach aber bricht die große Freiheit an, wir haben reichliche zwei Stunden zur freien Verfügung! Da ist alles vertreten. Spaziergänge, allein oder zu mehreren. Die eine oder andere Fahrradtour hinterm Strand. Joggen mit Wind-um-die-Nase-blasen-Lassen. Einige Runden im hoteleigenen Schwimmbad. Ein genüssliches Lektürestündchen in der Leseecke oder gar noch ein weiteres, verschmitztes Nickerchen. Zunehmend aber auch eine von den kleinen Fluchten, über deren Charakter dann süffisante Gerüchte umgehen. Sie reichen vom nicht gänzlich verbotenen Espresso in einer Kaffeebar, zu der frau sich – ärztlicherseits schon etwas bedenklicher – ein längeres Stück im Auto bewegen muss, über gegebenenfalls kontraindizierte sportliche Anstrengungen bis hin zu selbstschädigendem Verhalten infolge eines Bäckerei­besuchs. Wessen auch immer wir uns schuldig gemacht haben: Spätestens bei der abendlichen Teestunde im Wintergarten dürfen wir’s teelöffelklackernderweise wieder abbüßen.

Dr. Johannis ist beim Nichtabendessen nicht immer dabei, so dass sich hier auch schon mal ein offenherzigeres Gespräch entwickelt. Dabei kommt nicht nur die gelassene Klarheit der Fastenden zum Vorschein. Da gibt es auch, bisweilen etwas verlegen angedeutet, Berichte von Träumen, die Ausscheidungen des Darms, zumindest aber bezeichnenden Stellvertreter­symbolen ungewohnt viel Raum geben. Unterdessen zeigt sich bei der einen oder anderen – ich bekenne genüsslich Mittäterschaft – eine geradezu diebische Lust am Fabulieren von Koch­rezepten. Wir stacheln uns an im Wetteifer der Fantasien über das Schlaraffenland, das uns nach vollbrachter Kur in der heimischen Küche erwartet und haben dabei viel zu lachen. Aber auch der Neid feiert fröhliche Urständ, besonders bei jenen, die schon betonten, wie gut ihnen die Kur täte und wie wach und vital sie sich schon fühlten, als sich andere noch durch die Viertelstunden schleppten, mit nichts als Sehnsucht nach Schlaf und nochmals Schlaf. Die durch noch so geschickte Fragestellung doch kaum verhehlbare Neugier über die Art, wie der charismatische Arzt untertags wohl seine Zuwendung unter uns aufgeteilt habe, spricht Bände über Fasten­mythen. So lugt denn die Knappheit im Gefolge der Unersättlichkeit aus allen Ritzen, ob daheim im Süden oder oben an der Ostsee.

Zwölf Tage mitten im März, deutlich vor Ostern: Den dicken Schmöker nahm ich nach der Rückkehr fast unangetastet wieder aus dem Koffer. Die Kur hatte, um Kraft verleihen zu können, zunächst von den mitgebrachten Reserven zehren müssen. Das Zehrende bestand wohl weniger im physischen Verzicht als in der geistigen und emotionalen Anpassungsleistung. Das durch­getaktete Kurreglement richtete hohe Anforderungen an meine Ergebenheitsbereitschaft, die unbedachten Plappermäuler einiger Mitkurender nicht weniger. Der Hunger, so freiwillig auferlegt er auch sein mochte, entwickelte sich unweigerlich zu einem jener geradezu leiden­schaftlich hartnäckigen Kurschatten, die einen händeringend das Ende herbeisehnen lassen. Sobald dieses dann gekommen ist, verabschiedet man sich erleichtert mit großer Herzlichkeit – schön war’s mit dir! –, ohne dazuzusagen, dass die schöne Erinnerung erst im freudvollen Vorgriff auf das Bevorstehende entstanden ist. ­

Und so war es dann auch: Der Ostseeurlaub fand schließlich im Spessart statt, im Schlaraf­fenland meiner Küche, das in seiner ganzen erdverbunden-schöpferischen Tiefe zu genießen mir die Zumutungen der Kur ermöglicht hatten – umso mehr, als die neue Mayr-Leichtigkeit dem Genuss ihr verschmitztes i-Tüpfelchen aufsetzte. Von nichts kommt nichts.

Sabine Fiedler-Conradi

Lohr am Main, im Mai 2016