Manch älteren Löhrern und Löhrerinnen ist aus ihrer Jugendzeit noch das Café Intarsia in Erinnerung, wo man so manches Mal eingekehrt war. Mal erkundend, was aus einer Liebelei werden könnte, forsch oder schüchtern in einer der verschwiegenen Ecken des gemütlichen Raumes mit den vielgestaltigen Furniergemälden, ein anderes Mal ausgelassen der Kameradschaft frönend, draußen auf der Terrasse: Dies war Sendelbacher Freiheit, unweit der Mainbrücke, dort, wo man Lohr mit all seinen Pflichten und Wohlanständigkeiten für ein Stündchen hinter sich lassen konnte – und selbst Sendelbach erstreckte sich jenseits, denn das Café lag am äußersten Rand des Dorfes mit Blick auf den Fluss, und zu Steinbach hin lud das Wäldchen zum Verweilen ein …
Noch heute hört man verschiedentlich Bedauern aus der Erzählung: Ach, es bestand ja nur für kurze Zeit, kaum, dass man das Kleinod entdeckt hatte, war es schon nicht mehr. Oder: ja, ich hatte davon gehört, es hieß, dort herrsche eine gewisse Atmosphäre, irgendwie nicht von dieser Welt; ich wollte immer hingehen, aber dann war es so schnell wieder geschlossen.
Dass das Intarsia ein so eigentümlich anziehender Ort war, gehört ebenso zur Geschichte seines Schöpfers wie der Umstand, dass er das Café nach wenigen Jahren wieder aufgab – zunächst zwar, 1951, in die Hände eines Konditors namens Szostak, aber der verstand sich auf süße Leckereien besser als auf die Ingredenzien von Sendelbacher Freiheit, und so war er es, der das Café schließlich schloss.
Die Idee zum Intarsia hatte Wilhelm Moeres. Begonnen hatte das Projekt als kleine Pension. Moeres war kein Einheimischer, und wenn man sich seine Lebensgeschichte betrachtet, dann fragt man sich, ob er überhaupt irgendwo hingehörte. Er war eigentlich Weltenbummler, geographisch für Jahrzehnte, geistig bis ans Lebensende. Als er sich mit seiner Familie in Sendelbach um 1940 herum im ehemaligen Haus des Notars Kube niederließ, tat er dies gezwungenermaßen. Die zwei kolossalen Wohnwagen, die nach dem Einzug der Neuankömmlinge am Bahnhof Lohr angeliefert und dann in Sendelbach am Main aufs Gelände der Moeres’ geschoben wurden, stehen für das Leben, das nach seinem Gusto gewesen war. Nicht nur nach seinem, übrigens, denn auch seine Frau Barbara muss es sehr genossen haben, durch die Lande zu ziehen: Die schönsten Jahre ihres Lebens seien das gewesen, im Wohnwagen, erzählt sie später ihren erwachsenen Töchtern.
Schwer vorstellbar, aber wahr: Da baut sich ein nahezu vierzigjähriger Schreiner und Kunsthandwerker 1937 in Fulda im väterlichen Betrieb mit Hilfe der Angestellten innerhalb von drei Monaten geschwind zwei Wohnwagen, stattet sie mit seiner Frau akribisch mit allem aus, was man in einer gutbürgerlich deutschen Wohnung erwarten würde, sowohl funktionell durchdacht als auch ästhetisch ansprechend, setzt sich mit Frau und Töchtern in den Zugwagen, und los geht die Reise. Ohne Ziel, ohne Wohnsitz, ohne Zeitrahmen immer der Nase nach, inmitten des Dritten Reichs, bis hinein ins Kriegsgeschehen. Eine Vagabundenfamilie, deren ältere Tochter alle paar Wochen oder gar Tage die Schule wechselt. Zu Hitlers Geburtstag fährt man nach Berlin. Es war ein großes Fest. Wilhelm und Barbara mochten es, wenn Menschen um sie herum lebendig und ausgelassen waren. Ihre Wohnwagen wurden überall zum Anziehungspunkt für Menschen, die gern über den Tellerrand schauten, vom Leben etwas erwarteten, ihren eigenen Beitrag dazu leisten mochten. Auf Klappstühlen saß man draußen vor den Wohnwagen, trank und aß gemeinsam, man tauschte Neuigkeiten aus, philosophierte, grübelte, spann Ideen, machte Pläne und lachte.
Es ist eine andere Vorstellung, die man von der Zeit des Nationalsozialismus hat. So ging es auch Barbara und Wilhelm Moeres. Sie hatten eine andere Vorstellung vom Leben – und sie lebten sie. Schließlich aber setzte sich der Krieg ihrem Wagemut doch mit Macht entgegen, es wurde klar, man würde sich niederlassen müssen. So machten die Wohnwagen zunächst Station in Schonungen, Reisen ade, die Kinder haben Spielkameraden, mit denen sie sich auskennen, und Fräulein Reinlein, der Lehrerin, bleibt genügend Zeit, ihre Schülerin Inge Moeres ins Herz zu schließen. Die Eltern schauen sich unterdessen nach einer festeren Bleibe um und werden in Sendelbach fündig, ein Traum von einem Grundstück, das sich über drei Terrassen den Hang hinan streckt, um sich dann nach Steinbach hin über einen ganzen Hektar im Wald zu verlieren.
Inge ist inzwischen dreizehn oder vierzehn Jahre alt, Gabriele erst vier, fünf. Der Vater trägt die Bausteine für eine Schreinerwerkstatt zusammen, aber da wird er dienstverpflichtet, bei Rexroth, und die Schreinerei ruht. Aber er hat vorausgedacht, das Haus so umgestaltet, dass Einkommen und Beschäftigung für Barbara gesichert sind. Zimmer für acht Pensionsgäste sind eingerichtet, und je länger der Krieg voranschreitet und an den Nerven zehrt, desto mehr geplagte Städter finden hier ein Refugium. Sie kommen aus Frankfurt oder Hanau, aus Berlin, Wiesbaden oder Darmstadt, Düsseldorf oder Wien, Genf oder Bonn, ja, sogar aus New Delhi. Viele von ihnen kommen immer wieder, manchmal mehrmals im Jahr, an den Main, der ewig fließt, in den Spessart, der vergewissernd stehen bleibt und zum beschaulichen Städtchen Lohr, wo die Uhren beruhigend langsam gehen. Sie lassen sich verwöhnen, nach Strich und Faden, von der leutselig vergnügten Wirtin, die einen Sinn hat für wohltuende kleine Gesten, für dekorative Gedecke und feine Desserts.
Es wird 1942 oder 43 gewesen sein, als man Wilhelm Moeres in den Krieg zog; er landete bei den Fliegern in Holland, hatte dort logistische Aufgaben und war dabei ganz in seinem Element. Aus der Ferne kümmerte er sich weiter um die Lieben daheim; die Bahn brachte ein Dienstmädchen mit Kind, aus Holland, ein anderes aus Russland, einen Kriegsgefangenen aus Tunis, Baumaterial, Ziegen und Schafe und Wer-weiß-was-noch nach Sendelbach am Main, während seine Frau mit dem leichtfüßigen Temperament einer Kurpfälzerin weiterhin allseits für Entspannung sorgte, wovon später, in der Nachkriegszeit, auch die Flüchtlinge im Haus profitieren konnten.
Die kleine Gabriele machte inmitten all diesen Sendelbacher Pensionsgewimmels eine Erfahrung, die sie bis heute prägt: dass die Welt groß ist und nur so strotzt von spannender Vielfalt – und das Leben viel zu kurz, um all das hineinzupacken, was es zu entdecken gilt. Dies ist der Blick auf das Leben, den sie mit dem Vater teilt. Im Unterschied zu ihr war dieser aber kein Mensch, der sich einer Sache verschreibt, mit ihr und an ihr wächst. Die Lehr- und Wanderjahre, die der junge Moeres als Geselle durch halb Europa ausgekostet und selbst noch mit dem Meisterbrief im Säckel erheblich verlängert hatte, blieben seine Gangart. Auch nach Krieg und Kriegsgefangenschaft, als sich bereits 1946 Besucher der Spessartfestwoche von einer verblüffenden Vielfalt an praktischen Möbeln, hübschen kunstgewerblichen Artikeln und kunstfertigen Intarsienarbeiten beeindruckt zeigten, die aus der Werkstatt an der „Steinbacher Allee“ stammten, wie Wilhelm Moeres seine Straße gerne nannte. Entdecken, lernen, forschen, sich umschauen, etwas zuwege bringen, weiter lernen. Nicht träumen, gleich in die Tat umsetzen, und immer wieder lernen, auch erfinden, Spuren legen. „Wer rastet, der rostet“, könnte Wilhelm Moeres’ Credo gewesen sein. Er hat nie innegehalten, sich nie zurückgelehnt, manchmal mochte er nicht einmal die Früchte seiner Mühen ernten; das war Zeitverschwendung – auf, zu frischen Taten!
Und so kam es, dass nicht nur die Pension Moeres und das Café Intarsia, sondern später dann auch die Schreinerei und Intarsienwerkstatt – mit zeitweise bis zu vierzig Mitarbeitern – die Tore schlossen. So kam es, dass Wilhelm Moeres mit einem Eiswagen am Ufer des Mains herumzog und Schleckermäulchen verwöhnte – selbstverständlich eine Novität zur damaligen Zeit. Dies kann man auch von den neuartigen Dampfkochtöpfen sagen, die er entwickelte, in Menge herstellen ließ und in den umliegenden Dörfern eigenhändig bei allerlei aufsehenerregenden Vorführveranstaltungen vertrieb. Auch ein Waschmittelkonzentrat hatte er erfunden, und die Hausfrauen trauten ihren Augen kaum, wie sich da aus einem Quäntchen Pulver eine weiße Riesenschaumwolke entwickelte.
Als er schon älter war, so um die fünfundsechzig, bekam er für eine seiner Erfindungen mal eine Anerkennung: die Rudolf-Diesel-Medaille, 1964. Man verlieh sie ihm für einen Mechanismus, dessen Einbau in Türen dafür sorgte, dass diese leise zu fielen. Er nannte sie „Türleis“ und hatte sie sich, ein Glück, patentieren lassen. Hotels und Krankenhäuser rissen sich darum, im gesamten deutschsprachigen Raum. Wilhelm Moeres reiste wieder und schickte Postkarten von geschäftlichen Einsätzen in entlegendste Gegenden, deren Besuch er wegen seiner Liebe zur Natur besonders schätzte. In der Schweiz nahm er sich einen Zweitwohnsitz und kehrte damit zum Hauptschauplatz der Umtriebigkeit des jungen Moeres zurück.
Der Unfall, der ihn 1975 schließlich aus dem Leben riss, geschah in Lohr. Er hatte einen Walkman aufgesetzt, wegen der Lektionen in Portugiesisch – die sechste Sprache, die er sich aneignete, vielleicht auch die siebte –, als er nachts auf der Straße lief. Das herannahende Auto hat er zu spät gehört. Im Krankenhaus konnte man ihn nicht retten. Aber er hatte noch Gelegenheit, um ein Radio, einen Schreibblock und einen Bleistift zu bitten. Nicht, dass er untätig bliebe, dort, im Jenseits, was auch immer das sei …
Wilhelm Moeres ist 76 Jahre alt geworden – und hätte doch noch Platz gehabt, für ein Vielfaches davon. Er hinterließ Ingeborg und Gabriele, zwei Enkeltöchter und Lilieanne, in zweiter Ehe geboren und ungefähr so alt wie ihre Nichten. Ihre Mutter, Helga, war schon gestorben, als der Vater gehen musste.
Im Café Intarsia hatte es diese lauschigen Themenecken gegeben. Eine von ihnen hieß „Romberg-Ecke“, wie die anderen war sie eingerahmt von malerischen, großflächigen Intarsienarbeiten. Auf einer war ein aufgerolltes Pergament zu sehen, flankiert von einem silbrig schimmernden Frankenschoppen mit einer Garnitur von Weinblättern, daneben, auf einem Zweiglein, zwei schnäbelnde Schwalben. Auf der Pergamentrolle stand zu lesen:
Raste am sonnigen Main
Trinke den funkelnden Wein
Freu’ dich an Gottes Natur
Bleib auf der Liebe Spur
Meide jedweden Dunst
Mache das Leben zur Kunst
Dann lege dich ruhig zum Sterben
Hinterlaß nichts deinen Erben!
Der Spruch hätte von Barbara Moeres stammen können, die in solcher Tonart gern Gelegenheitsgedichte verfasste. Man kann nur ahnen, wie viele junge und hoffentlich auch ältere Gäste sich bei Kuchen, Kaffee oder heißer Schokolade diese Empfehlungen zu Herzen nahmen. Wilhelm Moeres aber hat sich zwei davon nicht zu Herzen genommen, die erste wie die letzte:
Er hat nicht gerastet, und er hinterließ ein Erbe – und wäre es nur sein Sinn für Freiheit, Schönheit und Lebenskunst gewesen, seltsam entrückt und doch kraftvoll lebendig.–
Mit einem herzlichen Dankeschön an Gabriele Wettengel, ohne die dieser Text nicht hätte entstehen können.
Sabine Fiedler-Conradi, 2010
In leicht veränderter Fassung erschienen in:
Arbeitskreis Heimat und Geschichte der vhs Lohr a. Main:
Lohrer Unternehmen und Persönlichkeiten – ein Querschnitt,
Schriften des Geschichts- und Museumsvereins Lohr a. Main, Folge 57, Lohr a. Main 2015; S. 218–223.