Fortsetzung von Detlevs Anfang:

So hatten Caroline und Andreas es sich nicht vorgestellt, als sie zu dieser großen Reise aufgebrochen waren. Das Haus am See war nicht groß, aber strahlte eine einnehmende Atmosphäre aus. Der Efeu hatte die Fensterläden schon etwas überwuchert und einige Blätter ragten wie die Spitzen von Gardinen an den Rand der Fenster vor. Auch die Möbel wirkten behäbig und luden mehr zum entspannten Halbliegen als zum angestrengten Sitzen in Arbeitshaltung ein. Ihre Runde gestern Abend hatte dennoch eine Dynamik entwickelt, die sie auch jetzt beim morgendlichen Gang mit Lasco, Friederikes treuen Bernhardiner, noch weiter beschäftigte. Fritz und Friederike, F&F wie sie sich immer selber nannten, hatten in ihrem bisherigen Leben und Arbeitsleben so deutlich Anderes erlebt, gedacht und gewünscht, dass alle gestaunt hatten, wie sie sich überhaupt so lange treffen und unterhalten konnten. Natürlich waren das Reisen und so bekannte Ziele wie Köln am Rhein immer wieder ein Thema gewesen. Und manch ein Reinfall bei der Buchung von prächtigen Hotels, deren Zimmer zwar sehr gut fotografiert, aber weniger gut gereinigt waren. Aus diesem Wortspiel heraus tauchte plötzlich das exotische Städtchen Reinheim in Hessen auf. Einer hatte recherchiert und war in der Stadtgeschichte auf eine Legende gestoßen, die von einer Frau namens Katharina der Reinen handelte. Sie soll einen Ritter durch treue und hingebungsvolle Pflege von einer schweren und als ansteckend geltenden Krankheit geheilt haben. Aus Dankbarkeit habe dessen Vater veranlasst, die Stadt Reinheim nach ihr zu benennen. Caroline hatte sich gewundert, wie bewegt Friederike auf diese Geschichte reagiert hatte. Ob denn auch eine Stadt nach ihr benannt sei, hatte sie gewitzelt. Natürlich nicht, hatte sie zurückgelächelt. Aber sie klang dabei etwas gequält. Später hatte Caroline dann noch einmal nachzuhaken versucht und gefragt, ob sie auch eine Katharina gekannt hätte, die medizinisch tätig sei. Wieder hatte sie das Gefühl, dass Friederike von dieser Erwähnung tief berührt sei, aber nicht deutlich machen wollte oder konnte, was sie so bewegte. Hatte sie ein Geheimnis zu verbergen?

 

Es hatte alles so schön angefangen mit dieser Vierer-Freundschaft. Den Fritz hat Andreas schon vor vielen Jahren durch seine Arbeit bei der Uhrmacher-Innung Reinheim kennengelernt. Die Frauen begegneten sich dann erst bei der Hochzeit von F&F. Lasco gab es damals schon. Fritz hatte ihn ihr zum Examen geschenkt. Er war ihr „Kind“. Er hatte sogar die Trauringe in der Kirche, anstelle eines dieser Notfallfässer um den Hals, zum Altar vortragen dürfen. Das ist jetzt schon 8 Jahre her. Gott wie die Zeit vergeht, dachte Caroline. Jetzt ist der Bernhardiner alt und taub. Friederike`s Freundin war mit Lasco schon öfters um den grünen See herumgelaufen. Aber heute war ein besonders warmer und sonniger Tag.

 

Mit einem Ruck zog Lasco an der Leine und Caroline aus ihrem Kopfkino. Er blieb einfach stehen. Seine mächtige sabbernde Schnauze, die er behäbig nach oben schob, witterte etwas. Oder vielmehr: Jemanden. Schnelle Schritte kamen näher. Von vorne. Jetzt war sie doch schon gut bewacht um den halben See gelaufen. Sollte jetzt kurz vor dem F&F-Haus noch etwas passieren? Einen Moment lang stockte Caroline der Atem. Da wedelte Lasco mit dem Schwanz. Caroline holte wieder Luft. Die Luft war rein. Es war Andreas, der ihr da in voller Joggingmontur etwas atemlos entgegenlief. Lachend rief Caroline ihm zu: „Ja ich denke, du wolltest länger schlafen? Hat dich die Sonne wachgekitzelt, gelle?“ „Nein! War leider anders. Jetzt heißt es nicht mehr F&F, sondern F vs. F. Ich wollte einfach nur weg!“ meinte Andreas mit einem Anflug von Hilflosigkeit. „Wieso?“ wollte Caroline wissen, „Streiten sie schon wieder?“ „Auf jeden Fall sind sie sehr laut. Es geht ums Geschäft. Und du weißt ja, wie Friederike als Workaholic-Frau sein kann. Da kann Fritz mit seinen zeitraubenden Uhrmacherqualitäten einpacken.“ fügte Andreas erklärend hinzu. „Meinst du wir sollten eingreifen? Vielleicht schlichten?“ frug seine Frau.

 

Andreas und Caroline beschlossen langsam – dem Tempo des alternden Lasco angepasst – ins Fix und Fertighäuschen am See zurückzulaufen um nach dem Rechten zu sehen. Von der Ferne her hörte man schon Stimmengewirr. „Die waren gestern schon so komisch drauf, die zwei. Besonders Friederike.“ meinte Caroline besorgt. „Da hättest Du die mal vor 20 Minuten erleben sollen.“ sagte Andreas fast ängstlich. Je näher sie kamen, desto lauter wurde es. Das Stimmengewirr hatte sich in wildes Gekeife verwandelt. Die beiden Spaziergänger mit Hund standen nun auf der von Efeu umwachsenden Veranda. Sie öffneten leise die Haustür und schlichen auf Zehenspitzen in den langen dunklen Korridor, der nach moderigem Kaffeesatz roch. Fast schien es so, als würde Lasco auch „schleichen“. Er blieb still im Hintergrund. Mit einem leichten Druck auf Lasco´s Hinterteil bewegte Caroline ihn zum Sitzen. Sie ließ Lasco von der Leine. „Braver alter Kerl“ dachte sie und streichelte ihn. Von den beiden Streithähnen trennte sie nur noch die Schwingtür zum Wohnzimmer. Dort drinnen tobte mittlerweile ein Orkan.

 

„Nein Friederike! Es muss ein Ende haben. Ich halte das alles nicht mehr aus.“ hörte man Fritz helle rauchige Stimme verwaschen schreien. „Diesen Irrsinn!“ Gläser klirrten.

Zerbarsten. „Diese Heimlichkeiten! Ich bin 32 und hab diesen verdammten Scheiß nun mal. Krieg` das endlich in deinen Schädel. Warum sagen wir es nicht einfach allen, häh?“

 

„Fritz! Fritz, komm zur Vernunft! Die Firma steht auf dem Spiel!“ wütete das

weibliche F. entschlossen. Fritz stritt weiter: „Aber nein, die „Gräfin Mariza“ würde sich zu Tode schämen, wenn das an die Öffentlichkeit treten würde, nicht wahr? Das wäre geschäftsschädigend! Ein Uhrmacher, der seine Hände nicht mehr stillhalten kann. Womöglich bleibt sein Zeitgefühl auch noch auf der Strecke, häh? Warum sagen wir es nicht einfach allen? Den Kunden. Den Vertretern. Der Innung. Wir schreiben es groß ins Neustädter Blatt: Firma „Von Unruh“ hat ab sofort einen „Zitter-Chef“! Passt doch hervorragend zum Firmennamen.“

„Jetzt sei nicht so sarkastisch zu mir!“, redete Friederike auf Fritz ein, “wenn du nur rechtzeitig dein L-Dopa nimmst, dann fällt das ganze Dilemma gar nicht auf und wir können es noch eine Zeit lang vertuschen.“ „Vertuschen?! Sauber! Es ist toll! Es ist toll, wie du hinter mir stehst. Nicht zu fassen!“ Mit diesen Worten ließ sich Fritz erschöpft in seinen Sessel fallen.

 

Caroline und Andreas hatten alles mit angehört. Heimlich! Lasco gähnte. Jemanden belauscht zu haben, hatte etwas unanständiges für Caroline. Eigentlich dürften sie gar nicht hier sein. Verschämt schaute sie ihren Mann an. Beide waren entsetzt von der Bitterkeit, die zwischen dem Paar herrschte. Andreas bewegte – bittend um Ruhe – seinen Zeigefinger vor den Mund. Er schaute Caroline ernst und mit großen Augen an. Sie sollte jetzt die Nerven bewahren. Auch ihm war die Situation unangenehm. Das konnte man an seinem verstörten Blick erkennen. Beide waren im Begriff sich gebeugt im Rückwärtsgang langsam zurückzuziehen, da entschied Lasco die Sache für sich. Er stand auf und lief Richtung Wohnzimmer. Andreas bemerkte Lasco´s Vorhaben und versuchte noch hektisch nach seinem Fell zu greifen. „Oh nein, warum ist der Hund denn nicht …..“ Zu spät! Caroline und Andreas konnten nur noch zusehen, wie er mit seinem großen Bernhardinerkopf die Schwingtür aufstieß.

 

Mit stoischer Gelassenheit trottete er sanftmütig auf seinen Herren zu. Der saß starr, gekrümmt und mit eingefrorenem Blick immer noch in seinem ominösen olivgrünen Ohrensessel. In seiner linken – vom Tremor gepeinigten Hand – hielt er ein Glas Martini. Lasco schob seinen Kopf unter die zitternde Hand, der das Leid abrupt aufhören ließ. Wenigstens für ein paar Sekunden. Dann setzte die Krankheit ihre qualvolle Zeremonie fort. Fritz erblickte seine Freunde, prostete ihnen zu und sagte lakonisch:

„Schaut nur. Geschüttelt! Nicht gerührt.“

 

Tanja H. Schmidt                                                                                           im Juni 2019