Reinhard ist glücklich, als er vom Krankenhaus heimfährt. Endlich hat das Einnehmen der Tabletten ein Ende, zuletzt sind es zehn pro Tag gewesen. Und fast hätten sie ihm das Autofahren auch noch verboten, wenn die Krankenkasse das Elektronische Vitalsystem nicht bezahlt hätte. Aber jetzt haben sie ihm sogar EVS-2.0, die neueste Version eingepflanzt. Blutdruck, Zucker- und Cholesterinspiegel, Herzfrequenz, alles elektronisch überwacht und gesteuert. Das System reagiert blitzschnell und doch sensibel auf Änderungen der Umwelt und unterschiedliche Belastungen. Was will der Mensch mehr? Wenn er mit den Einstellungen nicht ganz zufrieden ist, kann er sich sogar über die USB-Schnittstelle am Laptop anschließen und Parameter verändern, seinen persönlichen Schlafrhythmus eingeben, Lieblingsgerichte anhaken und angeblich sogar die Libido ...
Anfangs ist Reinhard glücklich, so wie es ist. Nur ja nichts unbedacht verstellen – never change a running system. Aber dann juckt es ihn doch im rechten Zeigefinger, man darf doch schließlich etwas ausprobieren, außerdem gibt es immer noch den Button „Zurück zu den Werkseinstellungen“. So wandelt sich sein Leben, wird abwechslungs- und facettenreicher, von der Nachtigall zur Eule und zurück, vom Veganer zum Hendlfriedhof und zurück. Nur das Häkchen für die sexuelle Orientierung lässt er dort, wo es ist. Man muss schließlich nicht alles ausprobieren.
Plötzlich ergeben sich jedoch völlig neue Möglichkeiten. Zufällig, unabsichtlich drückt Reinhard auf seinem Laptop die Kombination Alt-Shift-9, während er selbst angeschlossen ist. Es öffnet sich ein neues Menü: Systemsteuerung. Ungeahnte Möglichkeiten eröffnen sich: Viele neue Schieberegler, Radiobuttons und Häkchen, leider alle unbeschriftet, nur ihm unverständliche Zahlenkombinationen stehen davor. Aber wenigstens die geheime Tastenkombination hat er sich gemerkt. So beginnt er herumzuexperimentieren, zuerst die Schiebregler, immer nur ein kleines Stück und beobachten was sich ändert. Seine Wachphasen verlängern sich, seine Alkoholtoleranz wird größer, seine Nieren stellen ihre nächtliche Tätigkeit ein – ein völlig neues Leben beginnt. Er wagt sich an die Buttons heran. Hier gibt es kein vorsichtiges Herantasten mehr, es gilt alles oder nichts, aber die Effekte sind teilweise gigantisch – und völlig legal!
Einzig vor dem untersten Button schreckt er zurück. Er steht ganz allein in der letzten Reihe, davor nur „99“. Eines Tages hält er die Spannung nicht mehr aus, er hat alle Schieberegler und Buttons mit den damit verbundenen Erfahrungen ausprobiert, was kann ihm das Leben noch bieten außer Modus 99? Er clickt ihn an. Ein Fenster öffnet sich, „sind sie sicher? (J/N)“. Er wählt Ja und fällt ihm gleichen Moment tot um, nur einen Mausclick vom Leben entfernt.
Peter Gröbner, Januar 2014