Ich war wie immer in der Mittagspause pünktlich auf dem Weg in mein Stammlokal. Das Zwölfuhrläuten erklang genau an der Ecke Ebertallee/Bismarckstraße. Mein üblicher Stammplatz war frei und wurde sogleich von mir eingenommen. Herr Franz, der Oberkellner, brachte mir die Karte, wohl wissend, dass ich immer den „Mittagstisch“ wähle, nicht aber, wenn es so wie an diesem Tag Kässpätzle gibt. Diese sind zwar mein Leibgericht, nicht aber, wenn sie so schmecken, als wären sie frisch aus der Packung, zusammen mit dem Käse in der Mikrowelle aufgewärmt und mit Zwiebelringen aus der Tüte bestreut. Kässpätzle schmecken eben nur im Allgäu oder daheim mit Liebe zubereitet. Auch der Retsina verliert außerhalb Griechenlands viel von seinem Reiz. So wählte ich aus der Karte einen Rostbraten mit einem kleinen Bier.
Ich hatte kaum zu Ende gegessen, da legte mir Herr Franz einen handgeschriebenen Zettel auf den Tisch. Ich nahm umständlich meine Lesebrille aus dem über den Stuhl gehängten Sakko und entzifferte die etwas krakelige Schrift:
Wir haben uns vor Jahren im Urlaub beim Rotwein doch immer wieder gut zu viert unterhalten. Ich bin inzwischen von meiner damaligen Freundin getrennt, wir haben aber noch Kontakt. Wollen wir uns wieder einmal treffen?
Ich blickte ratlos in die Runde. Niemand kam mir bekannt vor. Keiner blickte fragend zu mir her. Ich wurde zunehmend unsicherer und nervöser. Die Geschichte begann mir peinlich zu werden. Was sollte ich tun? Nichts tun? Vielleicht kommt der fremde bekannte Gast öfter? Muss ich mein Stammlokal wechseln?
Unvermittelt steht ein Mann auf. Ich bete, dass er den Weg zur Toilette nimmt. Nein! Er kommt zu mir, deutet mit der Hand an, ob er wohl Platz nehmen dürfe. Ich nicke. Er schaut mir starr in die Augen und fragt: „Kennen Sie mich nicht mehr oder wollen Sie mich nicht mehr kennen?“
Ich versuche zu erklären, dass ich an und unter einer milden Form der Gesichtsblindheit leide, mir nicht gut bekannte Paare meist nur erkenne, wenn ich sie zusammen sehe, und mir die Stimme sehr oft bei der Zuordnung helfe. Sein Tonfall erschien mir aber völlig unbekannt. Daher fragte ich, um welchen Urlaub es sich wohl handle. Dass es im Mittelmeerraum gewesen sein müsse, war ich mir wegen des erwähnten Rotweins ziemlich sicher. Ich war allerdings schon öfter in Spanien, Italien und Griechenland und habe dabei oft nette Reisebekanntschaften gemacht.
Endlich gab er die ersehnte Antwort: „Mykonos.“
Ich war noch nie auf Mykonos.