Fritz wollte zur See fahren. Immer schon. Niemand wusste warum, er auch nicht. Er war noch nie am Meer gewesen, kannte auch niemanden, der ihm davon erzählt hätte. Ob er von der Faszination der Seefahrt und fremder Länder bei einem geselligen Beisammensein seiner Eltern oder in der Schule – wo er sonst wenig mitbekam – gehört hatte, wusste keiner. So kam es, dass er – kaum der Familie und Schule entronnen – sich an die Küste begab und auf einem Krabbenkutter anheuerte. Später wechselte er zu einem Heringsfänger und als dieser im Sturm England anlaufen musste, blieb er einfach dort.

In einer schummrigen Hafenkneipe lernte er den alten bärtigen, zahnlosen Jack kennen. Dieser wusste über alle Sieben Meere Bescheid, obwohl er selbst Afrika nur für einige Augenblicke gesehen hatte, als sich die Nebel während der Durchfahrt der Straße von Gibraltar auf dem Weg nach Genua kurz lichteten. Er schwor aber, dass er bei dieser Gelegenheit einen Löwen am Ufer gesehen und brüllen gehört hätte. Doch gab er immer, wenn er genügend Rum getrunken hatte, interessante Geschichten, die er zwar nicht selbst erlebt, aber selbst gehört hatte, wieder. Und Fritz lauschte ihm stets gespannt, verstand er inzwischen das Englische, welches seinem heimatlichen Platt gar nicht so unähnlich war, schon besser.

So wusste Jack eines Abends zu erzählen, was er von seinem Freund Jim gehört hatte:

Als der allen Zuhörern wohlbekannte Eroberer des vordem sagenhaften Königreiches am Elefantenfluss, damals noch Oberst, am Beginn seiner Feldzüge und damit seiner Karriere stand, wurde ein Eingeborener als Gefangener zu ihm gebracht. Dieser war vom englischen Lager nicht minder fasziniert als der Offizier von den Geschichten über das noch unbekannte Königreich. Ein Mann von einem benachbarten Stamm konnte einigermaßen die Verständigung ermöglichen, da er beider Sprachen mächtig war. Als der Schwarze das Interesse des Fremden an seiner Heimat bemerkte, erzählte er voll Stolz von ihrem größten Wunder, dem Königspalast. Das umso lieber, als ihm versprochen wurde, er würde später nach England mitgenommen werden, wo er noch viel wunderbarere Dinge schauen könne und nie mehr Hunger leiden müsse.

Er behauptete, der Herrschersitz messe im Quadrat soviel, wie das Lager der Europäer vom nahen Fluss entfernt lag. Das wären 1500 Schritt. Der Oberst, dem solche Übertreibungen mittlerweile geläufig waren, rechnete mit einem Fünftel, was aber für diese Völker und ihre Möglichkeiten immer noch eine gewaltige Leistung darstellen würde. Die anderen Angaben des Gefangenen waren aber noch phantastischer und schwerer zu glauben: Die Residenz wäre nämlich von einer dreißig Fuß hohen und fünfzehn Fuß dicken Mauer umgeben und im Inneren dieser Anlage sei eine etwa halb so große Burg von einer weiteren gleichartigen Mauer geschützt. In dieser Burg befände sich der Thronsaal, zugleich das Heiligtum. An dessen Stirnseite wären zwei mit Tüchern verhangene Zellen, in deren einer sich der König, in der anderen die Hauptgottheit, der Gott der früchtetragenden Erde aufhielte. Beide würden von Priestern mit gespendeten vorzüglichen Nahrungsmitteln versorgt und kommunizierten auch mit deren Hilfe mit dem Volk, das sie nie zu Gesicht bekäme.

Der Oberst erfuhr noch so manches andere von seinem unfreiwilligen, aber mitteilungsbereiten Gast über Größe, Beschaffenheit und Bewohner des noch unbekannten Reiches. Am meisten faszinierten ihn aber die beiden verhüllten Zellen, hatte er doch noch nie von etwas Ähnlichem gehört. Nun befand sich im Tross auch ein Ethnologe, bewandert mit den Bräuchen und Religionen jener Weltgegend. Ihn befragte nun der Kommandant, was er davon hielte. Der Wissenschaftler meinte sofort, es handle sich um einen ausgeklügelten Trick der Priester, einen unsichtbaren, aber dennoch gegenwärtigen Gott vorzutäuschen. Nun – der Oberst hatte natürlich schon viel von Göttern gehört, die angeblich in bestimmten Tempeln, Statuen oder auch Höhlen wohnten, konnte sich aber nicht erklären, warum der König im Verborgenen leben sollte. Der Ethnologe erläutert, dass gerade darin die Raffinesse der Priester lege: Das Volk könne sich die Existenz eines Königs, also eines Menschen, sehr wohl vorstellen, auch wenn sie ihn nie zu Gesicht bekämen. Wenn sie aber einen Herrscher nicht mit ihren Sinnen, sondern nur durch dessen von den Priestern überbrachten Willensäußerungen wahrnehmen, warum soll Gleiches nicht auch auf einen Gott zutreffen.

Gut, diese Erklärung half dem Heerführer nicht bei der Eroberung des Reiches, wohl aber waren die anderen Mitteilungen des Eingeborenen nützlich, der allerdings nie wie versprochen England erblickte, sondern bald nach seiner Ankunft im Heerlager erschossen wurde. Man gab ihm nämlich ohne weitere Erläuterungen eine geweihte Hostie zu essen, die er wegen des unbekannten Geschmacks ausspuckte und dazu einige Worte in seinem Dialekt sprach, die zwar keiner verstand, aber wegen seiner Mimik und dem Tonfall nichts Gutes bedeuten konnten. Dieser Vorfall war Anlass genug, ihn der Gotteslästerung zu bezichtigen und dementsprechend zu bestrafen.

Trotz dieses vielleicht unchristlichen Entschlusses war dem Oberst das Schicksal gnädig und er erreichte nach wenigen Wochen die sagenhafte Stadt am Elefantenfluss. Die Ausmaße des Palastes entsprachen wirklich den genannten, musste der Oberst feststellen, als er ihn betrat, um mit dem König zu sprechen. So stand er endlich im elfenbeingeschmückten Thronsaal mit den beiden Vorhängen, in deren linken ein merkwürdiges Elefanten- und in deren rechten ein noch seltsameres Krötenmuster gewebt war. Er begehrte den König zu sprechen, um ihn des Schutzes der britischen Krone zu versichern und ihn so allmählich zu einem Vasallen zu machen. Allerdings konnte er sich nur an seine eigenen mitgebrachten Dolmetscher wenden, die seine Worte den Priestern übersetzten, die sich mit dem verborgenen König hinter dem trennenden Tuch in der geheimen kultischen Sprache zu verständigen vorgaben. Die Antwort des Herrschers gelangte auf dem gleichen umständlichen Weg zurück zum wissbegierigen Kommandanten.

Dieser verlangte daraufhin, wenn er ihn schon nicht verstünde, den König wenigstens von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Als ihm dies verweigert wurde, da es unstatthaft für jeden der geheimen Kulte und Sprache Unkundigen, gleich ob Untertan oder Fremder wäre, stand er kurz entschlossen auf und schnitt den trennenden Vorhang, hinter den sich die Priester während des Gesprächs immer wieder zurückzogen, mit seinem Bajonett entzwei. Was er nun sah, verblüffte ihn über alle Maßen: Statt eines reich geschmückten, durch Unmäßigkeit und Bewegungslosigkeit kränklichen Königs fand er nur eine weitere Schar Priester, die sich an den Geschenken gütlich taten. Der Oberst, ohnehin kein Freund von Religionen, schon gar nicht von fremden, besonders wenn sie das Volk ausbeuteten, stürzte zur anderen Zelle, zerriss auch deren Vorhang in der Erwartung, ein ähnliches Bild vorzufinden, nur dass es diesmal Opfergaben wären, die verzehrt würden, sah aber bloß eine fette Kröte, die ihn aus ausdruckslosen Augen anstarrte: Den Gott beim Verzehr der Opferspeisen.

 

Wieder heimgekehrt erzählte Fritz allen, die es hören wollten oder mussten, diese Geschichte neben vielen anderen. Glauben mochte sie ihm aber niemand, am wenigsten der Pfarrer.

 

Diese Erzählung hatte ich ursprünglich mit 16 Jahren auf einer mechanischen Reiseschreibmaschine getippt, 38 Jahre später wiedergefunden und für den Schreibtisch im Spessart aufbereitet.

 

Peter Gröbner