Bericht eines Privatiers
Ich kannte Paul schon seit wir Kinder waren. Unsere Naturelle unterschieden sich jedoch gewaltig. Ich war, wie alle meine Vorfahren, Naturwissenschaftler, Realist. Er hingegen stammte aus einer Familie sensibler Künstler mit einem starken Sinn für Ästhetik. Er war ihr letzter Spross und lebte allein auf dem ansehnlichen Familiensitz. Er hatte allerdings noch einige entfernte Verwandte, über die ich aber nichts Näheres wusste.
Eines Tages bat er mich ohne jeden Anlass, ihn zu besuchen. Da ich Zeit hatte, entsprach ich seinem Wunsch. Kaum angekommen vernahm ich sein Anliegen. Er sei an einem unheilbaren Leiden erkrankt und hätte vielleicht noch zwei Jahre zu leben. Er denke aber nicht daran, einen qualvollen Tod abzuwarten, sondern wolle noch ein Jahr lang so viel wie möglich von seinem Geld durchbringen und dann Selbstmord begehen. Ich solle gar nicht erst versuchen, ihn davon abzuhalten, er habe das Gift stets griffbereit und doch für andere unauffindbar und würde es, wenn sich seine Krankheit schon früher verschlimmerte und er Angst haben müsse, nicht mehr handlungsfähig zu sein, auch schon früher nehmen.
Ich war von seinem Plan zwar schockiert, wollte ihn aber auch nicht daran hindern, sondern fragte nur, was ich damit zu tun hätte. Er antwortete, ich solle ihm Gesellschaft leisten und helfen, sein Vermögen möglichst angenehm zu verwenden. Ich solle es mir auch nach Herzenslust gut gehen lassen, der Rest, der nach seinem Tod verbliebe, falle an die Erben. Ich solle mir nichts versagen, es wäre schließlich nicht mein Geld.
Schweren Herzens versprach ich ihm, seinen Willen zu erfüllen, weil ich keine andere Möglichkeit sah, ihm nicht weh zu tun. Er stand auf, ging auf mich zu, um mich zu umarmen, sackte zusammen und war sofort tot.
Bei der Testamentseröffnung stellte sich heraus, dass ich Alleinerbe war. Dem letzten Willen war ein Brief an mich beigelegt, in welchem stand: „Ich habe Dir nicht gesagt, dass Du alles erbst, Du hättest sonst auf Dein zukünftiges Vermögen Rücksicht genommen. Ich wollte Dir aber ein Jahr der Freiheit schenken, wie ich sie selbst noch genießen durfte.“
Ich habe daraufhin ein Jahr lang – wie er noch leben wollte – soviel wie möglich von der Erbschaft verprasst und lebe jetzt vom verbliebenen Rest auch noch ganz gut. So habe ich ihn – glaube ich – am würdigsten geehrt.
Diese kurze Erzählung hatte ich ursprünglich mit 16 Jahren auf einer mechanischen Reiseschreibmaschine getippt, 38 Jahre später wiedergefunden und für den Schreibtisch im Spessart aufbereitet.
Peter Gröbner