Gestern, an Heiligabend jährte sich zum wiederholten Male der Tag, an dem wir Hunde uns alle an die Überlieferung von Wolfo erinnern. Eine Geschichte, die jede einzelne Generation wieder und wieder an ihre Nachkommen weitergibt, immer am Weihnachtsabend. Aus der wahren Begebenheit ist eine Legende geworden, genau wie Wolfo zum Inbegriff des Anführers aller Rudel geworden ist.
Nach der Bescherung und dem Weihnachtsspaziergang vorbei an Weihnachtsfenstern in der Nachbarschaft, hörten mir die Bewohner im Club aufmerksam zu.
Es braucht eine ganz besondere Stimmung,
um alten Geschichten zu lauschen.
In meiner Familie war Onkel Ernesto, ein Bruder meines Vaters, der Erzähler und wenn er fragte, ob wir die Legende von Wolfo hören wollten, lauschten wir alle wie gebannt. Wolfo, der vor langer, langer Zeit gelebt hat, ist nämlich Augenzeuge der Geschehnisse.
Wolfo war nicht nur clever, sondern auch sehr gebildet. Er kannte unseren Werdegang vom Wolf zum Haushund, weshalb er vermutlich auch Wolfo genannt wurde. Heute heißt eine solche Partnerschaft Win-win-Strategie, damals ging es einfach nur ums Überleben. Viele Tausende von Jahren begleiteten wir die Menschen und deren Viehherden schon, waren längst zuverlässige Haus- und Hofhunde geworden, bis das passierte, wovon ich nun berichte.
Von Zeit zu Zeit hatte sich der Baustil geändert. Nicht dass es um Hundehütten ging, nein, wir hatten damals noch keine eigenen Häuser. Die sprichwörtlichen vier Wände der Menschen veränderten sich. Ungefähr vor dreitausend Jahren, vielleicht liegt es auch nur zweitausendneunhundert Jahre zurück, wurden Fachwerkbauten modern.
Bei den ersten Fachwerkhäusern handelte es sich um hölzerne Skelette, deren Zwischenräume mit luftgetrockneten Lehmklumpen ausgefüllt waren, zur Sicherheit mit etwas Stroh gemischt.
Reviermarkierungen gehören bei uns zum Alltag, wie anderswo Straßenschilder und Reklametafeln. Deshalb suchen wir prädestinierte Stellen dafür aus und versorgen sie regelmäßig. Ebenso kann es sich um wichtige Mitteilungen handeln, die wir für die Nase und zur Information des nächsten Vierbeiners hinterlassen.
Es begab sich also, dass einer der wohlhabenden Kaufleute von Niederdorfholzen sein neues Fachwerkhaus am Rand des Marktplatzes hatte bauen lassen, an einer Straßenecke, die sehr oft frequentiert wurde. In den frühen Abendstunden eines bis dahin ganz normalen Werktages hatte der Berner Senn des Hufschmieds endlich frei und drehte seine obligatorische Runde um den Marktplatz. An der linken Ecke des Kaufmannshauses war seine Reviermarke nahezu komplett ausgelöscht. Zu viele Rüden hatten sich dort in den letzten Stunden verewigt, und geregnet hatte es obendrein während des ganzen Tages, wie schon seit einigen Wochen.
Der Senn holte tief Luft, um alles zu geben, was er konnte, blickte dabei starr geradeaus auf den Marktplatz, höchst konzentriert. Wolfo, der gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes wartete, dass die Fuhrmannsleute die Reste ihres mitgebrachten Proviants auf den Misthaufen warfen, konnte den Senn von weitem riechen. Er verströmte unverkennbar den Geruch nach verbranntem Huf. Wolfo freute sich auf die Neuigkeiten, die der Senn täglich von Dalmatinern erfuhr, die den reich beladenen Fuhrwerken vorausliefen, und sah ihm erwartungsvoll entgegen.
Für einen Moment dachte Wolfo noch an eine Sinnestäuschung, dann nahm die Katastrophe ihren Lauf. Aufgeweichtes Lehm-Stroh-Gemisch sackte in sich zusammen und das darüber liegende Gebälk geriet zunehmend in Schieflage. Wolfo warnte den Senn mit durchdringendem Geheul, bis sein Crescendo den höchsten Ton erreichte. Der Senn, endlich aus seiner Konzentration gerissen, blickte suchend auf, gerade als die Hauswand – eben schien sie noch einer Pappel im Wind zu gleichen – über ihm zusammenbrach.
Wolfo meinte seinen Augen nicht trauen zu können und lief sofort zur Unglücksstelle. Der stattliche Senn muss sofort tot gewesen sein, hatte sicher nicht leiden müssen. Wolfo fasste noch in dieser Sekunde einen Entschluss. Er schlug Alarm und berief eine Versammlung für alle Hunde ein, die seine Stimme über Felder und Wälder hinweg hören konnten. Bei Einbruch der Dunkelheit lagen sie nach langen Marschwegen erschöpft auf dem Boden der Allmende, andere saßen aufrecht, aber jeder blickte Wolfo erwartungsvoll an.
Er begann mit den Worten „der Senn ist tot“ und augenblicklich herrschte absolute Stille, gelegentlich unterbrochen vom Schluchzen der einen oder anderen Hündin, die vorübergehend dessen Lebensgefährtin gewesen war.
Nach einigen Minuten des Schweigens fuhr Wolfo mit der Schilderung des Unfalls fort und schloss mit dem flammenden Appell: „Rüden, lasst euch das eine Lehre sein! Wir wissen nie, wie gut oder schlecht ein Haus gebaut ist. Wir können aber für unsere eigene Sicherheit sorgen, indem wir das Bein heben und ab sofort alle Wände und Mauern, mögen sie noch so hoch oder niedrig sein, damit abstützen. Belehrt eure Kinder und Kindeskinder, auf dass sie dieses Wissen weitergeben und nie mehr ein solches Unglück geschehen muss!“
Jedes Mal wenn Onkel Ernesto seine Erzählung beendet hatte, waren wir zutiefst ergriffen, gedachten der Seele des armen Senn und spürten Wolfos starken Geist. Auch wenn es nach der langen Zeit längst zur Routine geworden ist, das Bein beim Markieren zu heben, ist es wichtig, dass diese Legende keinesfalls in Vergessenheit gerät – erzählt sie also weiter!
Das lange Reden war anstrengend,
ich ziehe mich jetzt zurück.